Kirche und Verfassungsordnung - Vortrag bei den 42. Essener Gesprächen in Mülheim/Ruhr

Wolfgang Huber

I. Zur Problemstellung

Immer wieder neu wird nach dem Verhältnis von Kirche und Verfassungsordnung gefragt; es scheint, diese Frage werde niemals ausgeschöpft. Politische Neuordnungen oder kirchliche Neubesinnungen geben dazu ebenso Anlass wie gesellschaftliche Verschiebungen.

Wenn die Frage heute erneut aufgeworfen wird, dann sind es vor allem gesellschaftliche Verschiebungen, die ein neues Nachdenken auslösen. Doch worin bestehen diese Verschiebungen? Auf diese Frage kann man höchst unterschiedliche Auskünfte hören. Drei derartige Auskünfte drängen sich in den Vordergrund; die Stichworte für sie heißen: Säkularisierung, Wiederkehr der Religion, religiöse Pluralität.

Die einen sehen unsere Gegenwart nach wie vor im Bann eines epochalen Säkularisierungsprozesses; er führt, so meinen sie, unweigerlich zu einer Marginalisierung der Religion; dem müsse man, so folgern sie, auch in der Verhältnisbestimmung von Kirche und Verfassungsordnung Rechnung tragen. Dieser Ansatz verbindet sich häufig mit einer Tendenz dazu, die bestehende staatskirchenrechtliche Ordnung in einer laizistischen Richtung umzudeuten oder weiterzuentwickeln. Das wird als notwendig angesehen, um den veränderten religionssoziologischen Gegebenheiten Rechnung zu tragen.

Die anderen sehen unsere Gegenwart unter dem Vorzeichen einer Wiederkehr der Religion. Die These, Religion sei Privatsache, hat sich, so stellen sie fest, nicht bewahrheitet. So sehr Menschen nach einem Glauben fragen, der ihnen für ihr Leben Halt gibt, so fragen sie auch nach der öffentlichen Stimme und dem öffentlichen Handeln der Religionsgemeinschaften, insbesondere der Kirchen. Die Verhältnisbestimmung von Kirche und Verfassungsordnung wird also unter dem Gesichtspunkt betrachtet, ob es dieser sich wandelnden Bedeutung von Religion gerecht wird, die Freiheit der persönlichen religiösen Überzeugung schützt und die öffentliche Wirksamkeit der Religionsgemeinschaften achtet.

Schließlich wird auf den Wandel aufmerksam gemacht, der sich aus den globalen Wanderungsbewegungen und der weltweiten Kommunikation ergibt. Nur wenige Länder oder Regionen der Erde sind religiös homogen. Aber für Europa gilt auf besondere Weise, dass es in eine Situation verschärfter religiöser Pluralität eingetreten ist. In unseren Tagen ist dieses Faktum vor allem durch vier neue Momente geprägt: durch eine gewachsene Bedeutung des Islam (und seit dem 11. September 2001 durch ein gewachsenes Bewusstsein für seine Präsenz), durch eine erhöhte Aufmerksamkeit für die kleineren christlichen Kirchen und ihre durch Migrationsvorgänge ebenfalls gewachsene Präsenz; durch die Entstehung von neuen religiösen Gemeinschaften (bis hin zu der Frage, ob sie diesen Namen zu Recht tragen) und schließlich durch einen erheblichen Anteil von Gesellschaftsgliedern, die sich zu keiner Religion bekennen. Wer die gegenwärtige Situation vor allem unter dem Gesichtspunkt der verschärften religiösen Pluralität betrachtet, stellt im Blick auf das Verhältnis von Kirche und Verfassungsordnung vor allem die Frage, ob die gegebene verfassungsrechtliche Ordnung dieser Pluralität gerecht wird. Ob die Religionsfreiheit der Religionslosen und der Anhänger kleinerer religiöser Gemeinschaften ausreichend gesichert ist, wird dann ebenso zum Thema wie die Frage, ob das traditionelle Staatskirchenrecht zu einem Religionsverfassungsrecht werden muss.

Säkularisierung, Wiederkehr der Religion, verschärfte religiöse Pluralität – so heißen die unterschiedlichen Akzente für die Beschreibung der neuen gesellschaftlichen Lage, die ein neues Fragen nach dem Verhältnis von Kirche und Verfassungsordnung auslöst. In jeder dieser drei Akzentsetzungen steckt natürlich ein unleugbarer Wahrheitskern; aber in jeder stecken auch Probleme.

So ist nicht zu leugnen, dass die soziale Durchsetzungsmacht und die traditionsbildende Kraft der christlichen Kirchen in Europa seit dem Zeitalter der Aufklärung und der Französischen Revolution zurückgegangen sind. Doch ob dieser gesellschaftliche Wandel mit dem Begriff der Säkularisierung richtig beschrieben wird, ist mehr als fraglich. Es hieße Eulen nach Athen zu tragen, wollte man in diesem Kreis erläutern, dass die Begriffe der Säkularisierung und der Säkularität dann am präzisesten verwendet werden, wenn sie auf die Frage nach der rechtlichen Stellung von Staat und Religion angewandt werden. Hier muss nach meiner festen Überzeugung die Ausgangsthese heißen, dass der Übergang zu einer aufgeklärten Säkularität der staatlichen Verfassungs- und Rechtsordnung einen Freiheitsgewinn verbürgt, der aus Gründen des Glaubens ebenso zu begrüßen ist wie aus Gründen der verfassungsstaatlichen Überzeugung. Aber aus dem Ja zum säkularen Staat folgt nicht automatisch die Vorstellung von einer säkularisierten Gesellschaft. Der Funktionswandel von Religion in der modernen Gesellschaft, Prozesse der Entkirchlichung eingeschlossen, ist bei sorgfältigerer Betrachtung gerade nicht als Säkularisierung (also als Unsichtbarwerden der Religion), sondern als Differenzierung (also als Auseinandertreten unterschiedlicher Umgangsweisen mit Religion) zu interpretieren.

Ähnlich vorsichtig ist mit dem zweiten Ausgangspunkt umzugehen. Die These von der Wiederkehr der Religion wirkt, gerade wenn man sie auf die europäische Lage anwendet, reichlich pauschal. In globalem Maßstab haben wir eine verstärkte Zuwendung zur Religion zu beobachten, teilweise übrigens mit höchst beunruhigenden Folgen. Dabei sind es nicht allein Entwicklungen im Islam, die zur Beunruhigung Anlass geben. Auch innerhalb des Christentums gibt es Tendenzen zu fundamentalistischer Vereinfachung wie zu enthusiastischer Übertreibung, die keineswegs fröhlich stimmen. Der Einsicht, dass wir in einem Zeitalter ökumenischer Verbundenheit und Kooperation leben, treten Tendenzen zur Spaltung oder einer willkürlichen Neubildung von Kirchen gegenüber, die jeden ökumenisch gesonnenen und besonnenen Menschen hochgradig alarmieren müssen. Verglichen mit solchen Tendenzen haben wir es in Europa und insbesondere in Deutschland nicht nur im problematischen, sondern auch im positiven Sinn mit einer „religiös gemäßigten Zone“ zu tun, in der uns manche Auswüchse, die andernorts zu beobachten sind, einstweilen jedenfalls noch erspart bleiben. Es ist übrigens ein gemeinsames Interesse von Staat und Kirche – und insofern auch eine gemeinsame Aufgabe – , die Ausbreitung willkürlicher Formen von Religion in Grenzen zu halten.

Am wenigsten lässt sich gegen die These einwenden, dass wir unter Bedingungen verschärfter religiöser Pluralität leben. Doch welche Folgerungen ziehen wir daraus? Ist schon genug gesagt, wenn wir zu einer allgemeinen Toleranz aufrufen, von der wir dann vielleicht sogar meinen, sie lasse sich am leichtesten unter der Voraussetzung praktizieren, dass man von der eigenen religiösen Haltung eine möglichst unpräzise Vorstellung hat? Bedeutet religiöse Pluralität, dass die Vorkehrungen der Verfassungsordnung sich an den Voraussetzungen derjenigen Religionen orientieren müssen, die im geringsten Maß eine eigene institutionelle Ausgestaltung aufweisen? Ist mit der Forderung nach einem Übergang vom Staatskirchenrecht zum Religionsverfassungsrecht gemeint, dass diejenigen Regelungen, die vom staatlichen Respekt für den Öffentlichkeitsauftrag der Kirchen geprägt sind, deshalb zurücktreten müssen, weil andere Religionen eine vergleichbare institutionelle Vertretung ihres Öffentlichkeitsauftrags gar nicht kennen? Auch hinsichtlich dieses dritten Akzents – der religiösen Pluralität – ist also Differenzierung angezeigt und angebracht.

Nun ist es mir im Rahmen dieses 42. Essener Gespräch aufgetragen, das Thema aus kirchlicher Sicht zu behandeln. Dabei war es den Veranstaltern wichtig, eine Stimme aus der Praxis kirchenleitender Verantwortung zu hören. Da scheint der Einstieg mit einer Aufforderung zur Differenzierung eher misslungen zu sein. Denn praktische Leitungsverantwortung, so heißt das gängige Urteil, erfordert die Fähigkeit zur Vereinfachung oder verleitet doch zu ihr. Differenzierung dagegen gilt als unpraktisch.
Ich kann dagegen nur geltend machen, dass ein Mangel an Differenzierung in praktischen Leitungsentscheidungen zu höchst problematischen Ergebnissen führen kann. Ich nenne als Beispiel nur die Eingriffe in die Stellung des Religionsunterrichts, die In Brandenburg und noch massiver in Berlin erfolgt sind. Sie waren im Grunde von einer Säkularisierungsvorstellung gesteuert, deren Unhaltbarkeit ich gerade angedeutet habe. Oder ich nenne als anderes Beispiel die Art und Weise, in welcher über Jahre hin ein undifferenzierter Begriff von multireligiöser Toleranz zur Leitvorstellung für die praktische Bewältigung religiöser Pluralität gemacht wurde. Heute ist offenkundig, dass eine solche Vorstellung nicht zureicht; doch die Anstrengungen dazu, sich eine angemessenere Zugangsweise zu erarbeiten, kommen spät und werden nur sehr zögernd rezipiert. In der evangelischen Kirche erleben wir das gegenwärtig in exemplarischer Form an den Reaktionen auf unsere Handreichung zum Verhältnis zwischen Christen und Muslimen, die wir im November 2005 unter dem Titel „Klarheit und gute Nachbarschaft“ veröffentlicht haben. Ich halte den darin vertretenen Ansatz einer differenzierten wechselseitigen Wahrnehmung, die schwierigen Themen nicht ausweicht, für notwendig.  Deshalb plädiere ich auch in dieser Hinsicht aus kirchenleitender Erfahrung heraus dafür, sich das notwendige Maß an Differenzierung zuzumuten.

Zu dieser Differenzierung gehört selbstverständlich auch, dass ich mir meiner eigenen eingeschränkten Perspektive bewusst bin. Ich betrachte unser Thema in ökumenischer Weite; und ich bin mir bewusst, dass für unsere Verfassungsordnung die gleiche Religionsfreiheit aller und der paritätische Umgang mit den Kirchen von hoher Bedeutung sind. Aber es ist zugleich selbstverständlich, dass meine eigene Wahrnehmungs- und Gestaltungsperspektive durch meine eigene Verwurzelung und meine eigene Funktion in der evangelischen Kirche bestimmt ist.


II. Historische Einordnung

Auch wenn meine Überlegungen von aktuellen Fragestellungen bestimmt sind, so ist eine historische Einordnung doch unentbehrlich.

Die Ordnung des Verhältnisses zwischen Staat und Religion, die die heutige Lage in Deutschland prägt, hat Wurzeln, die weit zurückreichen. Der Historiker Heinrich August Winkler hat diese Wurzeln unlängst in einer sehr elementaren Weise auf den Satz Jesu zurückgeführt: „Gebt dem Kaiser, was des Kaisers ist, und Gott, was Gottes ist“ (Matthäus 22, 21). In diesem Satz ist eine Unterscheidung angelegt, die sich erst in einem langen historischen Prozess ausgeformt hat; doch in diesem Prozess kam – zum Teil gegen erhebliche kirchliche Widerstände – etwas zum Ausdruck, was in einer Grundorientierung des christlichen Glaubens selbst seine Wurzel hat: nämlich die Freiheit des christlichen Glaubens von der Bevormundung durch politische Macht, aber damit auch die Freiheit der politischen Verantwortung von religiöser Bevormundung. Die wechselseitige Unabhängigkeit und die auf ihrer Grundlage mögliche Kooperation prägen im Gang der europäischen Entwicklung in wachsender Deutlichkeit das Verhältnis zwischen Staat und Kirche. 

Das heutige Staatskirchenrecht mit seinen Grundprinzipien der Religionsfreiheit, der Trennung von Staat und Kirche, des Selbstbestimmungsrechts der Religionsgemeinschaften, der Säkularität und Neutralität des Staates, der Gleichstellung aller Religionen im pluralistischen System bildet das Ergebnis eines langen Prozesses, für den das gleiche Recht unterschiedlicher religiöser Überzeugungen von großer Bedeutung ist. Doch zugleich ist unverkennbar, dass das Verhältnis von Staat und Religionen im Sinne eines geordneten Gegenübers von weltlichem Gemeinwesen und rechtlich selbständigen Religionsverbänden tief in der christlichen Welt verwurzelt ist; denn das Christentum hat diese Unterscheidung hervorgebracht. Eine der großen Fragen, vor denen wir heute stehen, liegt darin, ob wir andere Religionen, aber auch diejenigen, die für sich selbst keine Religion gelten lassen, für diese Unterscheidung gewinnen können.

Die heute geltenden staatskirchenrechtlichen Bestimmungen haben sich in Deutschland seit dem 16. Jahrhundert entwickelt. Die Reformation, die ihrer ursprünglichen Intention nach auf die Erneuerung der einen Kirche gerichtet war, ließ in ihrer geschichtlichen Wirkung unterschiedliche christliche Konfessionen nebeneinander treten; sie brachte damit die Notwendigkeit hervor, dass der Staat ein neues Verhältnis zu den Religionsgemeinschaften entwickeln musste. In diesem Zusammenhang finden sich erste Ansätze von individueller und kollektiver Religionsfreiheit in den Festlegungen des „Augsburger Religionsfriedens“ von 1555. Im Rahmen der Reichsinstitutionen wurden das Corpus Catholicorum und das Corpus Evangelicorum nebeneinander anerkannt. Den Landesherren wuchs das Recht zu, in ihren Territorien die für alle Untertanen einheitlich geltende Konfession zu bestimmen und auch zu wechseln (ius reformandi – umschrieben durch das Schlagwort „cuius regio – eius religio“). Der persönlich abweichenden Entscheidung des einzelnen wurde dadurch Rechnung getragen, dass ein Recht auf Auswanderung aus dem Territorium unter Mitnahme des Eigentums etabliert wurde (ius emigrandi – eine Art staatlich gesicherter religiöser Freizügigkeit).

Die Regelungen des Augsburger Religionsfriedens konnten allerdings den Frieden im Reich nicht endgültig sichern. Erst nach dem dreißigjährigen Krieg kam es mit dem Westfälischen Frieden von 1648 zu Regelungen, infolge derer bis heute kriegerische Auseinandersetzungen zwischen den Konfessionen in Deutschland nicht wieder auftraten. Der Augsburger Religionsfrieden wurde im Westfälischen Frieden fortentwickelt. Neben Katholiken und Lutheranern wurden die Reformierten als dritte Religionspartei anerkannt. Die räumliche Verbreitung der Konfessionen im Reich wurde auf den Status quo des sogenannten „Normaljahres“ 1624 festgeschrieben. Allen drei Bekenntnissen wurde das Recht der öffentlichen Religionsausübung zuerkannt. Die Bedeutung des Westfälischen Friedens liegt nicht zuletzt darin, dass er zwischen den Religionsgemeinschaften auf nachhaltige Weise Frieden stiftete.

Ein weiterer Meilenstein in der Entwicklung des heutigen Staatskirchenrechts in Deutschland wurde mit den in Preußen ab der Mitte des 18. Jahrhunderts vorgenommenen Regelungen zur Religionsfreiheit gesetzt. Das landesherrliche Kirchenregiment über die evangelische Kirche wurde freilich zugleich fortgesetzt – ein verfassungsrechtlicher Drahtseilakt, der noch bis zum Ende des Ersten Weltkriegs Bestand hatte.

Doch die Vorstellung von der Religionsfreiheit als bestimmendem Maßstab für die rechtliche Stellung auch der religiösen Institutionen breitete sich auch in Deutschland während des 19. Jahrhunderts weiter aus. Eine dieser Vorstellung entsprechende institutionelle Regelung des Staatskirchenrechts trat in Deutschland aber erst mit der Weimarer Reichsverfassung in Kraft, deren entsprechende Bestimmungen durch die Übernahme in das Grundgesetz bis heute gelten.

Diese staatskirchenrechtliche Grundordnung hat sich sowohl beim Neuaufbau eines demokratischen Gemeinwesens nach dem Zweiten Weltkrieg als auch im Prozess der Vereinigung Deutschlands bewährt. Es ist heute unter anderem auch daraus neu herausgefordert, weil auch die Frage nach der öffentlichen Stellung der Religionsgemeinschaften in einen europäischen Kontext gerückt ist. Die Europäisierung macht auch vor unserer Fragestellung nicht Halt. Das deutsche Modell muss sich in diesem Prozess erneut bewähren.

Dieses Modell ist durch die Verbindung zwischen individueller Religionsfreiheit, korporativer Religionsfreiheit und institutionellen Gewährleistungen für die Religions- und Weltanschauungsgemeinschaften geprägt. Fragt man nun nach dem Schlüsselbegriff, der den inneren Zusammenhang dieses Systems verbürgt, so ist es ohne Zweifel der Begriff der Freiheit. Aus einer evangelischen Perspektive liegt es besonders nahe, diesem Schlüsselbegriff genauer nachzugehen.


III. Freiheit als Schlüsselbegriff für das Verhältnis von Kirche und Verfassungsordnung

Freiheit ist ein Begriff sowohl der christlichen Heilsgewissheit als auch der staatlichen Rechtsordnung. Diese beiden Freiheitsbegriffe sind voneinander zu unterscheiden. Im Verhältnis von Kirche und Verfassungsordnung des Grundgesetzes treten sie aber zueinander in ein Verhältnis und korrespondieren miteinander.

1. Freiheit im Glauben
Freiheit ist ein Schlüsselbegriff des biblischen Zeugnisses. Diesem Zeugnis gemäß ist Freiheit die große Gabe Gottes an die Menschen. Ihr wohnt die Verheißung des Gelingens ebenso inne wie die Verführung zum Misslingen. Die ihm als Geschenk anvertraute Freiheit zu bewahren und die in der Befreiung aus der Sünde erneuerte Freiheit verantwortlich zu gebrauchen, ist Gottes Auftrag an den Menschen. In allen großen Traditionsströmen des christlichen Glaubens hat diese Freiheitszusage ihren Ort, weitergegeben von Generation zu Generation. Die christliche Theologie hat um das rechte Verständnis der Freiheit gerungen. Sie hat in allen ihren Phasen, Ausgestaltungen, Richtungen und Verästelungen festgehalten, dass das christliche Freiheitsverständnis einen unaufgebbaren Beitrag zum Verständnis und zur Gestaltung der Freiheit leistet. Diese Freiheit erhält ihre Bestimmtheit durch den Namen Jesu Christi. Und sie kommt zu ihrer höchsten Erfüllung, wenn sie sich aufschwingt zum Lob Gottes, der in Jesus Christus uns zu Gute menschliche Gestalt annimmt.

Eine in Gottes Menschwerdung begründete Freiheit, die im Lob Gottes ihre Erfüllung findet – das ist eine Freiheit, die der Mensch sich nicht dadurch plausibel machen muss, dass er sie an sich selbst und seinen Taten aufweist. Dies ist keine Freiheit, die dadurch geprägt ist, dass sie alles Mögliche für gleich gültig erklärt. Sondern es ist eine Freiheit, die sich ein Mensch von Gott schenken lässt, um sie im Verhältnis zu sich selbst wie im Eintreten für seinen Nächsten zu bewähren. Sie erhebt sich aus der Gefangenschaft allen Machens und Schaffens. Sie lässt sich nicht durch uns selbst verbürgen, durch unsere Fähigkeiten, Finanzen oder Freunde; sondern sie verdankt sich der Güte Gottes.

Welche Auswirkungen hat dieses Verständnis der christlichen Freiheit? Wer sich einer Freiheit verdankt, die unverfügbar ist, weiß sich für die Gestaltung von Räumen verantwortlich, in denen diese Freiheit zur Erfahrung kommt. Deshalb interessiert sich der christliche Glaube für die Bedingungen, Voraussetzungen und Folgen im eigenen Handeln ebenso wie für die Bedingtheiten und Bestimmtheiten des gesellschaftlichen Zusammenlebens. Er setzt sich leidenschaftlich für Lebensverhältnisse ein, in denen Freiheit erfahrbar wird. Deshalb ist er als Religion der Freiheit eine Religion der Aufklärung und der Vernunft, des freien Dienstes am Nächsten und der politischen Mitverantwortung. Aus christlichem Verständnis heraus vollzieht sich die Wahrnehmung dieser Verantwortung sowohl im Handeln des Einzelnen wie in dem der christlichen Kirche.

Die Kirche als Gemeinschaft der Glaubenden gründet im übereinstimmenden Verständnis des Evangeliums. Sie wird im evangelischen Verständnis konsequent vom Gottesdienst her bestimmt. Denn im gefeierten Gottesdienst vergewissert sich die christliche Gemeinde ihres Grundes: der Erlösung in Jesus Christus. Und im gefeierten Gottesdienst kommt sie ihrer allerersten Pflicht nach: dem Lob Gottes.

Eine Kirche, die im Gottesdienst ihres Grundes gewiss wird, ist zugleich in einem präzisen Sinn eine Kirche für andere. Das Geschenk des Glaubens befreit uns von Gott her zu uns selbst; und es richtet unseren Blick von uns weg auf den Nächsten; denn ihm wendet sich der Glaube zu, der durch die Liebe tätig ist. Die Freiheit eines Christenmenschen kommt erst dann zu sich selbst, wenn sie in der Verantwortung für andere konkret wird. Dass der Christenmensch ein freier Herr aller Dinge ist, bewährt sich gerade darin, dass er aus freien Stücken allen ein Diener sein kann.

Wenn der christliche Glaube auch darin der Freiheit die Treue hält, dass er aufmerksam ist für die Bedingungen, unter denen diese Freiheit erfahren werden kann, und wachsam ist gegenüber Umständen, die dieser Freiheit den Entfaltungsraum verweigern, dann gilt dies keineswegs nur für die jeweils eigene Freiheit, sondern gerade auch für die Freiheit des andern. Dass die Freiheit eines Christenmenschen den vor Gott stehenden und durch ihn aufgerichteten Menschen meint, relativiert die gesellschaftliche, politische und kirchliche Verantwortung der Christen nicht, sondern präzisiert sie. Bei der Wahrnehmung dieser Verantwortung, also bei der Religionsausübung im umfassenden Sinne des Wortes sind alle Christen angewiesen auf die Gemeinschaft mit anderen in ihrer Kirche. Das christliche Freiheitsverständnis ist somit zugleich individuell und korporativ.

2. Glaubensfreiheit
Die so verstandene christliche Freiheit drängt nach gesellschaftlichen Umständen und nach einer Verfassungsordnung, in welchen die Entfaltung dieser Freiheit möglich ist. Die Freiheit der Verfassungsordnung ist eine Freiheit für alle. Sie kennt keinen Vorrang für die Freiheit von Christen. Aber das Verständnis dieser Freiheit ist – neben anderen wichtigen Einflüssen – in erheblichem Maß durch das christliche Freiheitsverständnis geprägt.

In dem Beschluss des Bundesverfassungsgerichts vom 16. Mai 1995 zum Kruzifix in öffentlichen Schulen wird dieser Zusammenhang folgendermaßen beschrieben: „Auch ein Staat, der die Glaubensfreiheit umfassend gewährleistet und sich damit zu religiös-weltanschaulicher Neutralität verpflichtet, kann die kulturell vermittelten und historisch verwurzelten Wertüberzeugungen und Einstellungen nicht abstreifen, auf denen der gesellschaftliche Zusammenhalt beruht und von denen die Erfüllung seiner eigenen Aufgaben abhängt. Der christliche Glaube und die christlichen Kirchen sind dabei, wie immer man ihr Erbe heute beurteilen mag, von überragender Prägekraft gewesen. Die darauf zurückgehenden Denktraditionen, Sinnerfahrungen und Verhaltensmuster können dem Staat nicht gleichgültig sein“ (BVerfG 93, 1, 22).

Diesen vom Bundesverfassungsgericht eingeführten Begriff der Prägekraft des Christentums haben Trutz Rendtorff und Jürgen Schmude in ihrer erhellenden Schrift „Wie versteht die evangelische Kirche die Rede von der ‚Prägekraft des Christentums’“ näher beschrieben. Dabei haben sie zurückgegriffen auf die Denkschrift der EKD „Evangelische Kirche und freiheitliche Demokratie. Der Staat des Grundgesetzes als Angebot und Aufgabe“ von 1985 sowie auf die Erklärung des Rates der EKD „Christentum und politische Kultur. Über das Verhältnis des demokratischen Rechtsstaates zum Christentum“ von 1997. Rendtorff und Schmude heben für das Verständnis der Prägekraft des Christentums diejenigen Werte und Normen hervor, die, von Christen und aus christlichen Glaubensgrundsätzen entwickelt, weiterhin wirkungskräftiges Gemeingut im demokratischen Staat und seiner Gesellschaft sind. Im einzelnen nennen sie Menschenwürde und Menschenrechte, die Grundsätze der Gewissensfreiheit und der Toleranz, die Betonung der Eigenverantwortung wie die Verpflichtung zu Solidarität und Gerechtigkeit mitsamt ihren Auswirkungen auf das Konzept der sozialen Marktwirtschaft sowie die Verantwortung der Christen für den Aufbau und die Gestaltung der Demokratie. Daran knüpfen sie die Feststellung an:
„Der demokratisch-rechtsstaatlich verfasste Staat muss als Gesetzgeber in seinem Handeln Rücksicht nehmen auf die geschichtlich vermittelten und in der Gesellschaft präsenten Überzeugungen, aus denen er selbst die Überzeugungskraft seiner Gesetzgebung bezieht. Darin unterscheidet sich der demokratische Rechtsstaat von absoluter oder totalitärer Herrschaft.“

Welche Konsequenzen ergeben sich hieraus für das Verständnis der individuellen, korporativen und institutionellen Religionsfreiheit in der freiheitlich-demokratischen Grundordnung des Grundgesetzes? Die Verfassung privilegiert nicht in einer ausschließenden Weise die christlichen Kirchen, sondern behandelt ihrer grundsätzlichen Absicht nach alle religiösen Überzeugungen und alle Religionsgemeinschaften gleich. Artikel 4 des Grundgesetzes garantiert die Glaubens-, Gewissens- und Religionsfreiheit, ein Grundrecht, das nicht nur für den einzelnen Menschen, sondern auch für die Religionsgemeinschaften gilt; denn Religionsausübung ist auf die Gemeinschaft mit anderen angewiesen, hat also eine individuelle wie eine korporative Seite. Der Artikel 140 des Grundgesetzes konkretisiert die korporative Religionsfreiheit durch institutionelle Festlegungen, indem er die staatskirchenrechtlichen Bestimmungen der Weimarer Reichsverfassung in das Grundgesetz übernimmt.

Diese Bestimmungen beginnen mit der klaren Feststellung, dass keine Staatskirche besteht; daraus folgt, dass Staat und Kirche voneinander unabhängig sind. Das
Staatskirchentum, in dem insbesondere die evangelischen Kirchen verhaftet waren, ist beendet. Doch die Kirchen sind nach wie vor Körperschaften des öffentlichen Rechts. Sie sind jedoch weder in den Staatsorganismus integriert noch unterliegen sie – wie die anderen Körperschaften des öffentlichen Rechts – einer Staatsaufsicht. Diese Regelung verbindet die wechselseitige Unabhängigkeit von Staat und Kirche mit der Anerkennung des Öffentlichkeitsauftrags der Kirchen.
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eligionsfreiheit kann demnach keineswegs nur – wie das französische Modell des Laizismus annimmt – dadurch verwirklicht werden, dass die Religion auf den Bereich des Privaten beschränkt wird. Man kann vielmehr die religiöse Neutralität des Staates akzeptieren und zugleich die öffentliche Dimension von Religion respektieren. Die besondere Bedeutung des deutschen Modells liegt gerade darin, dies beides miteinander zu verbinden.

Nur der religiös neutrale Staat kann die volle Religionsfreiheit verfassungsrechtlich sichern. Ein religiös gebundener Staat, der sich einer Religion gegenüber in besonderer Weise verpflichtet weiß, läuft dagegen Gefahr, diese gegenüber anderen Religionen in seinem Staatsgebiet zu privilegieren. Die Unterdrückung von Menschen wegen ihrer religiösen Überzeugung gehört auch heute in vielen Ländern zur politischen Realität. Der Staat, der anerkennt, dass der Mensch frei und mit unantastbaren Rechten ausgestattet ist, kann ihn nicht einer vorgegebenen Religion zuweisen oder ihn direkt oder indirekt zwingen, sich für eine Religion zu entscheiden, oder aber seine religiöse Überzeugung ins Private abdrängen. Der moderne, freiheitliche und demokratische Staat legitimiert sich nicht von Gott her, sondern allein von den Menschen, die in diesem Gemeinwesen miteinander verbunden sind, auch wenn diese in Verantwortung vor Gott stehen, wie die Präambel des Grundgesetzes formuliert. Daher fehlt es an einer Rechtfertigung dafür, dass der Staat eine Religion von sich aus zur verbindlichen Grundlage des Zusammenlebens erklärt.

Die religiöse Neutralität des Staates liegt im Interesse des Glaubens; und sie setzt eine klare institutionelle Scheidung von Staat und Religionsgemeinschaften voraus. Aber es wäre ein Missverständnis von staatlicher Religionsneutralität, daraus eine Gleichgültigkeit des Staates gegenüber dem Wirken der Religionsgemeinschaften abzuleiten. Vielmehr gibt es eine Pflicht des Staates, die Religion als Bestimmungskraft für das Leben vieler Bürgerinnen und Bürger  wahrzunehmen und sie ohne falsche Parteinahme zu fördern. Mit dem Begriff der „fördernden Neutralität“ hat das Bundesverfassungsgericht dies – wie ich meine – zutreffend charakterisiert.

Die wechselseitige Unabhängigkeit von Staat und Kirche bedeutet nach deutschem Verfassungsrecht nicht, dass das Religiöse aus dem öffentlichen Bereich verbannt wird. Vielmehr erkennt der freiheitliche demokratische Staat die große Bedeutung der Religion im Prozess der Werte- und Überzeugungsbildung an. Er braucht bei aller Säkularität und religiösen Neutralität ein sozialethisches Fundament. Er lebt von Voraussetzungen, die er selbst nicht schaffen kann. Jede Gesellschaft verfügt nur dann über eine innere Stabilität, wenn sie eine Wertordnung hat, der gegenüber sich die einzelnen Bürgerinnen und Bürger verpflichtet wissen.

Es ist nötig, vor diesem Hintergrund ausdrücklich den Überlegungen zu widersprechen, die Bundesjustizministerin Zypries in der 5. Berliner Rede zur Religionspolitik am 12. Dezember 2006 zum Thema „Religion und Recht“ angestellt hat. Zunächst ist ihrer Behauptung zu widersprechen, dass im säkularen Verfassungsstaat Religion weitgehend zur Privatsache der einzelnen Staatsbürger geworden sei. Zu kritisieren ist auch die Konsequenz, die Brigitte Zypries aus dieser Behauptung zieht: „Der Rückgriff auf die Religion ist eine Modeerscheinung von Autoren, denen alles zu unordentlich geworden ist in Deutschland. Er sagt viel über ihre Sehnsucht nach der Ordnung von gestern, aber er bietet keine Antworten auf die Fragen von heute. Was unsere Gesellschaft in ihrem Innersten zusammenhält – diese Frage stellt sich doch auch deshalb so eindringlich, weil heute eben kaum mehr als 60 Prozent der Bevölkerung den beiden großen christlichen Kirchen angehören – und sich noch weniger dort wirklich zu Hause fühlen.“ Dem ist zunächst die Prägekraft des Christentums für die freiheitlich-demokratische Grundordnung entgegenzuhalten, die unabhängig von der aktuellen Größe von Kirchen zu würdigen und zu achten ist. Davon abgesehen sind „kaum mehr als 60 Prozent“ immer noch fast zwei Drittel der Bevölkerung; einen Grund, den christlichen Bevölkerungsanteil zu bagatellisieren, gibt es also nicht.

Unter Bezug auf die  oft zitierte Aussage von Ernst-Wolfgang Böckenförde, dass der freiheitliche säkularisierte Staat von Voraussetzungen lebt, die er selbst nicht garantieren kann, fragt Brigitte Zypries, „ob wir uns diese Passivität des Staates an diesem Punkte weiterhin leisten können“. „Staatliche Passivität“ ist indessen wohl die falsche Kategorie dafür, dass der demokratische Verfassungsstaat eingedenk seiner Wurzeln seiner Pflicht zur Gewährleistung von Religionsfreiheit gerecht zu werden sucht. Gewiss kann es heute angezeigt sein, diese Gewährleistung an bestimmten Stellen zu präzisieren und über die Grenzen der Religionsfreiheit Klarheit zu gewinnen. Doch der Grundsatz der Religionsfreiheit darf nicht angetastet werden.

Die Tatsache, dass die umfassende Anerkennung der Religionsfreiheit christliche Wurzeln hat, darf ihr ganz gewiss nicht zum Nachteil ausgelegt werden. Die verschärfte Form religiöser Pluralität kann an bestimmten Stellen eine deutlichere Klarheit im Blick auf die Grenzen der Religionsfreiheit nötig machen. Auch kann der Staat sich der Aufgabe nicht entziehen, klar zu sagen, wo er den Namen der Religion oder auch den Begriff „Kirche“ für nicht religiöse Zwecke missbraucht sieht. Insofern sehe ich in dem Votum der Stadt Hannover, dass sie an einer Zentrale der „Scientology Church“ kein Interesse hat und sich dafür einsetzt, dass für dieses Vorhaben keine zentrale innerstädtische Immobilie zur Verfügung gestellt wird, ein wichtiges Signal, das ich mir auch in Hamburg oder Berlin hätte vorstellen können.

Der Ausgangspunkt für solche Überlegungen ist auch heute das Wort Jesu: „Gebt dem Kaiser, was des Kaisers ist, und Gott, was Gottes ist.“ Die klare Unterscheidung zwischen dem geistlichen Auftrag der Kirche und dem weltlichen Auftrag des Staates entspricht dem Selbstverständnis der Kirche ebenso wie dem Verständnis des demokratischen Rechtsstaats. Diese Unterscheidung ist eine wichtige Voraussetzung für die Achtung der Freiheit der Person, wie sie in der Achtung der Religionsfreiheit und der ihr folgenden Freiheitsrechte zum Ausdruck kommt. Sie ist zugleich die Begründung für die selbständige Verantwortung eines jeden Bürgers in der demokratischen Gesellschaft. So ermöglicht die freiheitlich-demokratische Grundordnung es den christlichen Kirchen in hohem Maße, mit Wirkung für die Gesellschaft gemäß ihrem christlichen Freiheitsverständnis zu handeln. Der mit der christlichen Freiheit verbundene Auftrag korrespondiert mit den Möglichkeiten, die unsere Verfassungsordnung für die Wahrnehmung der Religionsfreiheit bietet. Die Freiheit im Glauben und die Glaubensfreiheit stehen in einer guten Entsprechung zueinander.


IV. Das Handeln der christlichen Kirchen in Gesellschaft und Verfassungsordnung

Von hier aus sind die Stellung und das Handeln der Kirchen innerhalb unserer Verfassungsordnung zu beschreiben. Ich hebe drei Gesichtspunkte hervor.

1. Die öffentliche Stellung der Kirchen
Die freiheitlich-demokratische Grundordnung ist auf den offenen Meinungsaustausch angewiesen. Dazu gehören auch die Stimmen der Kirchen. Die Kirchen sind – und darin unterscheiden sie sich grundlegend von Parteien und anderen gesellschaftlichen Großorganisationen – nicht in den Prozess gesellschaftlicher Produktion, Reproduktion und Erhaltung eingebunden. Die von Sachzwängen geprägte Lebenswirklichkeit braucht Kräfte, die in Freiheit und Unabhängigkeit am gesellschaftlichen Willensbildungsprozess mitwirken und dabei den Sprachlosen eine Stimme verleihen. Wie Richard von Weizsäcker einmal formuliert hat, ist es nicht die Aufgabe der Kirchen, Politik zu machen, wohl aber Politik möglich zu machen. Gesellschaft und Staat sind darauf angewiesen, dass an dem Dialog zwischen den gesellschaftlichen Gruppen auch solche beteiligt sind, die nicht nur ihr Eigeninteresse vertreten.

Daher ist das Verhältnis des Staates zu den Kirchen nicht durch den Übergang zu einem laizistischen System oder durch die Verbannung der Religion aus dem öffentlichen Leben angemessen zu gestalten. Vielmehr gibt die Verfassung den Kirchen und Religionsgemeinschaften den notwendigen Raum, in der Öffentlichkeit zu wirken. Die Grundmarkierungen der deutschen Verhältnisbestimmung zwischen Staat und Religionsgemeinschaften enthalten die Erwartung in sich, dass die Kirchen sich aktiv in die Willensbildung der Gesellschaft einbringen, dass sie ihren Beitrag in Gesellschaft, Bildung, Medien, Wissenschaft, Kultur und Diakonie leisten.

Um dem Anspruch seiner Bürger und Bürgerinnen auf positive Religionsfreiheit und aktive Religionsausübung gerecht zu werden, ist der Staat auf ein Zusammenwirken mit den Religionsgemeinschaften angewiesen, so beim Religionsunterricht in der staatlichen Schule, in der Seelsorge in Krankenanstalten, in Haftanstalten oder in der Bundeswehr, in den Landespolizeien und der Bundespolizei, bei theologischen Fakultäten und kommunalen Friedhöfen. Religiöse Neutralität bedeutet nicht, dass der Staat sich von jeder Förderung von Religion oder jedem Zusammenwirken mit ihr fern zu halten hat. Denn er erkennt ihre öffentliche Bedeutung an und drängt sie deshalb gerade nicht ins Private ab. Die These von der Religion als Privatsache gehört in die Gedankenwelt des 19. Jahrhunderts; das sollte man nie vergessen, wenn sie zu Beginn des 21.
Jahrhunderts – etwa in der schon erwähnten Rede der Bundesjustizministerin – unversehens wieder auftaucht.

Die positive Förderung der Religionsausübung durch den Staat verstößt nicht gegen das Prinzip der religiösen Neutralität des Staates, solange der Grundsatz der Gleichheit gewahrt bleibt. Gleichheit bedeutet allerdings bekanntlich, Gleiches gleich und Ungleiches ungleich zu behandeln. Religiöse Symbole, religionsbestimmte Handlungen und religiöse Überzeugungen werden deshalb vom Staat legitimerweise unter dem Gesichtspunkt ihrer Nähe zu den Grundüberzeugungen des freiheitlichen demokratischen Staats betrachtet. Zu Recht wird in den Blick genommen, mit welchen politischen oder gesellschaftlichen Haltungen sie sich verbinden. Klare Hinweise hierzu gibt das Bundesverfassungsgericht in seiner Entscheidung zum Körperschaftsstatus der Zeugen Jehovas vom 19. Dezember 2000. Darin wird jeder Form eines aggressiven Fundamentalismus eine Absage erteilt. Das Gericht stellt sich ausdrücklich gegen jeden Versuch, der darauf zielt, auf eine theokratische Herrschaftsordnung hinzuwirken.

2. Kirchlicher Öffentlichkeitsanspruch in christlicher Verantwortung
Der kirchliche Öffentlichkeitsauftrag ist allerdings nicht durch die staatliche Ordnung vorgegeben; er folgt vielmehr aus dem Evangelium. Der entscheidende Ansatzpunkt dafür ist der Verkündigungsauftrag der Kirchen, der sich aus dem Missionsauftrag Christi in Matthäus 28, 18 ff. ergibt; er schließt die Aufgabe ein, alle Völker zu lehren. Die Barmer Theologische Erklärung vom 31. Mai 1934 verdeutlicht dies in ihrer 6 . These so: "Der Auftrag der Kirche, in welchem ihre Freiheit gründet, besteht darin, an Christi Statt und also im Dienst seines eigenen Wortes und Werkes durch Predigt und Sakrament die Botschaft von der freien Gnade Gottes auszurichten an alles Volk." Die für die diese Zusammenhänge noch immer maßgebliche Denkschrift der EKD "Aufgaben und Grenzen kirchlicher Äußerungen zu gesellschaftlichen Fragen“ aus dem Jahr 1970 formuliert dazu: "Die Legitimation der Kirche, sich zu politischen und gesellschaftlichen Fragen zu äußern, beruht nach ihrem Selbstverständnis auf dem umfassenden Verkündigungs- und Sendungsauftrag ihres Herrn. Recht verstanden, geht es nicht um einen kirchlichen ‚Anspruch’, sondern um ein ‚Ansprechen’ der Welt unter dem Anspruch Gottes und in Solidarität mit den Aufgaben und Nöten der Gesellschaft. Diese Solidarität folgt aus dem Gebot der Christusnachfolge, dem durch persönliche Liebestätigkeit allein nicht Genüge getan wird."

Die öffentliche Vertretung des Evangeliums vollzieht sich allerdings nicht nur durch Worte, sondern auch durch Werke, beispielsweise durch diakonische Tätigkeit. Die Verkündigung des Evangeliums findet innerhalb der weltlichen Ordnung und zu ihrem Besten statt. Um ihrer Klarheit willen erfordert sie auch Abgrenzungen gegenüber bestimmten politischen Vorstellungen, Zielen oder Zuständen. Zugleich bleiben die Andersartigkeit der Kirche und das Besondere ihres Auftrags gewahrt. Die Wahrnehmung des Öffentlichkeitsauftrags wird durch den Verkündigungsauftrag der Kirche nicht nur begründet, sondern auch beschränkt. Das gesellschaftliche Engagement der Kirche muss stets als kirchliche Lebensäußerung erkennbar bleiben.

3. Kooperation von Kirche und Staat
Es ist gerade das Proprium der deutschen Verhältnisbestimmung von Kirche und Verfassungsordnung, dass der Staat in Gewährleistung der Religionsfreiheit und unter Wahrung seiner Säkularität und Neutralität mit den Kirchen und darüber hinaus mit anderen Religions- und Weltanschauungsgemeinschaften kooperiert. Wechselseitige Unabhängigkeit und Kooperation schließen einander nicht aus, sondern gehören zusammen. Die Kooperation ist nicht etwa eine inkonsequente Einschränkung eines ansonsten geltenden Trennungsprinzips, sondern ist Ausdruck der staatlichen Anerkennung der Religion als einer wichtigen, gesellschaftsgestaltenden, die Grundlagen des Staates selbst mitprägenden Kraft.

Soweit das Grundgesetz selbst Vorgaben für diese Kooperation macht, etwa hinsichtlich des Religionsunterrichts oder der Anstaltsseelsorge, so geschieht dies in voller Übereinstimmung mit der Verfassungsordnung. Nicht nachvollziehbar ist deshalb eine Kritik, die hier von verfassungswidrigem Verfassungsrecht spricht. Eine besonders interessante und wichtige Rechtsquelle sind in diesem Zusammenhang die Staat-Kirche-Verträge. Solche Verträge sind zu allen Zeiten unter dem Grundgesetz aktuell gewesen: nach dem Krieg in der alten Bundesrepublik, nach der Wiedervereinigung in den neuen Bundesländern, erst kürzlich in einigen Stadtstaaten. Im Zuge der Föderalismusreform könnte es durchaus zu neuen Vereinbarungen für Sachgebiete kommen, in denen sich neue Kompetenzen auf Seiten des Bundes oder der Länder ergeben. Längst werden solche Verträge mit dem Staat nicht mehr nur mit den großen Kirchen abgeschlossen.

Der einzige Vertrag auf der evangelischen Seite, der mit der Bundesrepublik abgeschlossen wurde, betrifft die Seelsorge in der Bundeswehr. Unlängst war sein fünfzigjähriges Jubiläum zu feiern; ich habe bei dieser Gelegenheit ausdrücklich darauf hingewiesen, dass dieses Modell auch auf Bundesebene gegebenenfalls auf andere Regelungsmaterien angewandt werden kann.

Der Geist, der solchen Staat-Kirche-Verträgen zugrunde liegt, ist, wie gerade die Präambeln der neueren Verträge exemplarisch deutlich machen, von der gemeinsamen Verpflichtung auf die verfassungsrechtliche Bestimmung der Stellung der Kirchen im freiheitlichen und demokratischen Rechtsstaat ebenso geprägt wie vom Respekt vor der Religions- und Glaubensfreiheit der einzelnen und der Anerkennung des Selbstbestimmungsrecht der Kirchen. Diese Verträge respektieren den Unterschied zwischen dem geistlichen Auftrag der Kirchen und den weltlichen Aufgaben des Staates; sie würdigen aber auch die Bedeutung, die christlicher Glaube, kirchliches Leben und diakonischer Dienst für das Gemeinwohl und den Gemeinsinn der Bürger haben.


V. Folgerungen 

Abschließend gilt es, aus dem Vorgetragenen drei exemplarische Folgerungen zu ziehen.

1. Kirchen und religiöse Pluralität
Mit jeder Religion verbindet sich ein umfassender Anspruch. Es gibt keine Religion, die ohne Konsequenzen für die Lebensführung bleibt. Insofern hat jede Religion auch eine politische Dimension. Sie betrifft nicht nur das private, sondern auch das öffentliche Leben.

Der moderne Staat erwartet, dass dies in einer Form geschieht, die mit der Pluralität in der Gesellschaft vereinbar ist. Die offene Gesellschaft westlicher Prägung birgt eine Vielfalt von Lebensvorstellungen, Weltanschauungen und Religionen in sich, deren Beziehungen zueinander in einem zivilgesellschaftlichen Prozess öffentlicher Verständigung auf der Grundlage gegenseitiger Toleranz gestaltet werden müssen. In einem langen und durchaus schmerzhaften geschichtlichen Lernprozess, zu dem die Konfessionskriege der frühen Neuzeit genauso gehören wie der Übergang zu innerstaatlicher religiöser Pluralität im 18. Jahrhundert, haben die europäischen Gesellschaften gelernt, Toleranz als das Komplementärprinzip zur Religionsfreiheit zu begreifen. Auch die Kirchen haben erkannt, dass es dem Kern des christlichen Glaubens entspricht, die Menschenwürde, die Menschenrechte und damit die Religionsfreiheit auch Menschen anderen Glaubens zuzuerkennen. Deshalb respektieren die christlichen Kirchen das Existenzrecht anderer Religionen, einschließlich ihres Anspruchs auf ein Wirken in der gesellschaftlichen Öffentlichkeit.

Toleranz meint dabei nicht: alles für richtig zu halten und jedem Recht zu geben. Religiöse Toleranz in einem ernsthaften Sinn meint das Aushalten und Austragen von Differenzen in Anerkennung der Verbindlichkeit von religiösen Überzeugungen. Eine freiheitliche Gesellschaft, in der religiöse Überzeugungen ernst genommen werden, braucht eine wache, selbstbewusste Toleranz, die den Dialog einfordert, um gemeinsam Antworten auf die für alle wichtigen Fragen zu suchen. Wechselseitiger Respekt und das Bekenntnis zur klaren Scheidung zwischen Religion und Gewalt bilden entscheidende Voraussetzungen für das friedliche Zusammenleben in einer pluralen Gesellschaft und für den Frieden zwischen Völkern, Kulturen und Religionen. Diese Voraussetzungen zu erhalten ist Aufgabe aller Religionen.

Die Entwicklung religiös begründeter Parallelgesellschaften – wie dies auch in unserem Lande in Bezug auf den Islam mancherorts zu beobachten ist – bildet einen Nährboden des Fundamentalismus. Niemand kann das Recht haben, unter Berufung auf religiöse Regeln oder auf kulturelle Traditionen aus seinem jeweiligen Herkunftsland andere Menschen gewaltsam zu bedrängen, zu verletzen, ja zu töten oder öffentlich und mit dem Anspruch auf Resonanz die These vom "Traditionsmord" zu vertreten. Gesellschaft, Staat und Religionsgemeinschaften sind heute in besonderem Maße gehalten, ihr Verhältnis zu einander im Bewusstsein solcher gemeinsamer Grundüberzeugungen zu bestimmen und die Rahmenbedingungen der Religionsfreiheit in der freiheitlich demokratischen Grundordnung unseres Gemeinwesens so zu entwickeln, dass religiöser Fanatismus darin keinen Platz hat und haben kann.

Dieser Gedanke wird in der wichtigen Zeugen-Jehovas-Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts aufgenommen, wenn das Gericht jedenfalls die Religionsgemeinschaften mit Körperschaftsstatus auf den Schutz der Grundrechte Dritter und darauf verpflichtet, die Grundsätze des freiheitlichen Staatskirchenrechts, zu denen die Einhaltung von Toleranz gehört, nicht zu beeinträchtigen oder zu gefährden.

Aus einer christlichen Perspektive gründet das Eintreten für die Religionsfreiheit als Menschenrecht in der Glaubensgewissheit, um deretwillen der Mitmensch als Nächster geachtet und in seiner abweichenden Glaubensweise respektiert wird. Der christliche Glaube stützt sich – insbesondere in seiner reformatorischen Deutung, aber nicht allein in ihr – auf eine göttlich zugesprochene Anerkennung der menschlichen Person, die unabhängig von ihren Taten und damit auch von ihren Überzeugungen gilt. Daher entspricht es dem Kern christlichen Glaubens, diese Menschenwürde, die Menschenrechte und damit die Religionsfreiheit auch Menschen anderen Glaubens zuzuerkennen. Deshalb respektieren die christlichen Kirchen das Existenzrecht anderer Religionen, einschließlich ihres Anspruchs auf ein Wirken in der gesellschaftlichen Öffentlichkeit.

Die Verwirklichung der Religionsfreiheit als Menschenrecht weltweit ist heute eine unaufgebbare Forderung und ein Anliegen der beiden großen Kirchen in Deutschland. Die Bejahung der individuellen wie der kollektiven, der negativen wie der positiven Religionsfreiheit ist ein Ergebnis eines geistesgeschichtlichen Prozesses insbesondere seit der Reformation. Die Menschenrechte bilden inzwischen einen Schwerpunkt der christlichen Ethik.

2. Staatskirchenrecht oder Religionsverfassungsrecht?
Wer die religiöse Pluralität bejaht und in diesem Sinn einen Monopolanspruch der christlichen Kirchen auf die Repräsentation von Religion in der Öffentlichkeit hinter sich lässt, muss, so scheint es, Schwierigkeiten mit dem hergebrachten Begriff des Staatskirchenrechts haben. Von daher ist es verständlich, dass der, wenn ich recht informiert bin, zuerst von Peter Häberle vorgeschlagene Begriff des Religionsverfassungsrechts spürbar an Resonanz gewinnt. Sogar in einem so traditionsbewussten Lehrbuch wie demjenigen, das Axel von Campenhausen, seit der neusten Auflage gemeinsam mit Heindrich de Wall, verantwortet, wird der Begriff des Religionsverfassungsrechts demjenigen des Staatskirchenrechts systematisch vorgeordnet (so S. 40), wenn auch im Titel das „Staatskirchenrecht“ – man möchte hinzufügen: gerade eben noch – den Rang des Haupttitels behält und das Religionsverfassungsrecht in den Untertitel verweist.

Der in dieser Hinsicht ausgebrochene „begriffspolitische Grundsatzstreit“ hat viele Facetten. Das System der Religionsfreiheit in seinen individuellen, korporativen und institutionellen Aspekten ist heute natürlich längst nicht mehr auf die Freiheit zur Wahrnehmung des christlichen Glaubens und auf das institutionelle Verhältnis zwischen den christlichen Kirchen und dem demokratischen Verfassungsstaat beschränkt. So meint der Begriff des Staatskirchenrechts ebenso wie der des Religionsverfassungsrechts gleichermaßen die heute selbstverständliche pluralistische Rahmenordnung des säkularen Staates, in der „die Institutionen als Instrument gemeinsamer Aktivitäten und Belange der Bürger und ihrer religiösen Gruppierungen verstanden (werden), die zur realen Verwirklichung ihrer Grundrechte dienen“ (M. Heckel). Die grundrechtlich verbürgte, individuelle Religionsfreiheit gehört längst zum anerkannten Kern des Staatskirchenrechts; dass es auch in seinen institutionellen Aspekten von der individuellen Religionsfreiheit aus zu entwerfen und zu normieren sei, ist keineswegs eine neue These. Deshalb erscheint es mir als hochproblematisch, hierzu einen dogmatischen Streit zu führen; unverkennbar verbindet sich dieser Streit bei manchen Akteuren mit der Absicht, die korporative und institutionelle Seite der Religionsfreiheit zurückzudrängen. Soweit dabei ein Leitbild bestimmend ist, das die Religionen in ihrer korporativen und institutionellen Gestalt auf den Bereich des Privaten beschränken wollen, ist dem aus historischen wie aus aktuellen, vor allem aber aus grundsätzlichen Erwägungen zu widersprechen.

Die deutlichere Wahrnehmung religiöser Pluralität in unserer Gesellschaft bietet keinen Grund dazu, die in der Religionsfreiheit begründete Verhältnisbestimmung von Religionsgemeinschaften und Verfassungsstaat in Frage zu stellen oder zu modifizieren – ganz im Gegenteil. Allein pragmatische Gründe der Anerkennung der religiösen Pluralität in unserer Gesellschaft können es deshalb nahe legen, dem Begriff des Religionsverfassungsrechts den weiteren Bedeutungsradius zuzuerkennen und den herkömmlichen Begriff des Staatskirchenrechts dem zuzuordnen. Es mag sein, dass eine solche Vorgehensweise es auch erleichtert, die deutschen Erfahrungen und Weichenstellung im europäischen Rahmen zu vermitteln und verständlich zu machen.

3. Kirche in der europäischen Verfassungsordnung
In den vergangenen Jahren, in denen es um die Formulierung des Verfassungsvertrages der Europäischen Union ging, hat die Diskussion über den Gottesbezug sowie über die Erwähnung der jüdisch-christlichen Tradition in der Präambel in der öffentlichen Debatte besondere Aufmerksamkeit gefunden. Evangelische und katholische Kirche in Deutschland haben ihre Position in dieser Debatte einvernehmlich formuliert und in die politische Diskussion eingebracht. Auch heute unterstreiche ich gern, dass ein Hinweis auf die Verantwortung vor Gott in der Präambel des europäischen Verfassungsvertrags einen guten Ort hätte und dass mir die Präzisierung der Rede von religiösen und humanistischen Traditionen im Sinn eines Hinweises auf die jüdisch-christliche Tradition unentbehrlich erscheint.

In dieser Debatte ist freilich ein anderer Aspekt weithin in den Hintergrund getreten. Im Hinblick auf Kirchen und Religionsgemeinschaften ist der Artikel I-52 des Entwurfs Gegenstand eingehender Überlegungen gewesen. Dieser Artikel soll eine bereits in einer Protokollerklärung zum Amsterdamer Vertrag sekundärrechtlich verankerte Bestimmung in das Primärrecht der Europäischen Union übernehmen. Es geht um die Festlegung, dass die nationalen Systeme der Religionsverfassung durch das europäische Recht zu beachten sind und nicht beeinträchtigt werden dürfen. Daneben ist vorgesehen, dass die europäischen Institutionen in den Dialog mit den Religionsgemeinschaften eintreten sollen; dieses Vorhaben wurde bereits unter der österreichischen Präsidentschaft im Jahr 2006 in Gang gebracht wurde und wird im Mai 2007 unter der deutschen Präsidentschaft weitergeführt. Unabhängig von der derzeit offenen Frage nach dem künftigen Schicksal des europäischen Verfassungsvertrags ist beides von großer Bedeutung: sich auf europäischer Ebene über den hohen Rang der Religionsfreiheit zu verständigen und die unterschiedlichen Formen der Ausgestaltung der Religionsfreiheit in den europäischen Ländern zu achten. Gerade in diesem Feld kann es ein System des „kleinsten gemeinsamen Nenners“ nicht geben.

Die Aufgabe, „Europa eine Seele zu geben“, schließt ganz gewiss die Belange der individuellen, korporativen und institutionellen Religionsfreiheit als zentrales Element ein. Deutlich steht uns als Kirchen die Aufgabe vor Augen, den kirchlichen Auftrag innerhalb der EU wahrzunehmen und für eine freiheitliche Religionsverfassungsordnung auch auf europäischer Ebene einzutreten. Der stetige und transparente Dialog zwischen den europäischen Institutionen und den Religionsgemeinschaften wird von uns in seiner Bedeutung hoch eingeschätzt. Als Kirchen treten wir dafür ein, dass die individuelle wie die korporative und die institutionelle Religionsfreiheit mitsamt der religiösen Neutralität des Staates und der gemeinsamen Verantwortung von Staat und Religion für das Gemeinwesen auch im europäischen Kontext geachtet wird, so wie dies im nationalen deutschen Bereich durch die gewachsene Verhältnisbestimmung von Kirche und Verfassungsordnung der Fall ist. Als Kirchen bejahen wir dies, weil wir von der Überzeugung bestimmt sind, dass die Freiheit des Glaubens zum Kernbereich menschlicher Freiheit gehört.