Die Verantwortung der Religionen für Frieden in Europa

Wolfgang Huber

Vortrag in der gemeinsamen Vortragsreihe der Technischen Universität Dresden und der Stiftung Frauenkirche Dresden
„Wege zu einer Kultur des Friedens“  in der Frauenkirche in Dresden


I.
Nach dem Frieden in Europa fragen wir in einer besonderen Situation. In wenigen Tagen, am 25. März, wird die Europäische Union fünfzig Jahre alt. In Rom besiegelten die Vertreter Frankreichs, Deutschlands, Italiens und der Benelux-Staaten vor fünfzig Jahren mit ihrer Unterschrift die Vision von einem friedlichen Europa. Seitdem ist die Idee der europäischen Integration unumkehrbar. Am Anfang stand eine Europäische Gemeinschaft für Kohle und Stahl. Daraus wurde eine Europäische Wirtschaftsgemeinschaft; jetzt haben wir eine Europäische Union. Aus den anfänglich sechs Mitgliedsstaaten wurden 27.

„Vergebung, nicht Vergeltung!“ lautete das Credo des damaligen französischen Außenministers Robert Schuman, eines engagierten Katholiken. Die Kraft, auf die Versöhnung verfeindeter Nationen zu vertrauen, verdankten viele der damaligen Akteure ihrem Glauben. „Der Beitrag, den ein organisiertes und lebendiges Europa für die Zivilisation leisten kann, ist unerlässlich für die Aufrechterhaltung friedlicher Beziehungen“ heißt es schon im Jahr 1950 in dem sogenannten „Schuman-Plan“. Mit diesem weitsichtigen politischen Entwurf bot Frankreich dem „Erzfeind“ Deutschland, der 1945 bedingungslos kapitulieren musste, eine gleichberechtigte Partnerschaft ohne Diskriminierung oder Beschränkung an. Dieses Vorgehen durchbrach die Tradition europäischer Friedensverträge, die oft Diktate der Sieger über die Besiegten waren. Die Römischen Verträge sind eine Wende in der europäischen Geschichte.

Man hatte hohe Ziele; aber man machte sich pragmatisch an deren Verwirklichung. „Friedenssicherung durch wirtschaftliche Kooperation“ hieß das Konzept, das ein anderer großer Europäer entwickelte – nämlich Jean Monnet, der damalige Leiter des französischen Planungsamtes. Mit den Rohstoffen Kohle und Stahl fing man an; dass eines Tages Stahl und Kohle aus anderen Kontinenten nach Europa importiert würden, konnte man sich damals noch nicht vorstellen. Man wollte jedoch sicherstellen, dass diese wichtigen Rohstoffe – wie auch die noch jungen Möglichkeiten der Atomenergie – nicht in den Dienst einer unkontrollierten Rüstung gestellt würden. Bald darauf machte man sich daran, die Hindernisse  für den freien Verkehr von Waren, Dienstleistungen und Kapital zu beseitigen. So erfolgreich war man mit diesem Vorgehen, dass die Mitgliedsstaaten sogar bereit waren, erhebliche Teile ihrer Souveränität auf die Gemeinschaft zu übertragen; damit bahnten sie den Weg zu einer politischen Union. Als die jahrzehntelange Spaltung Europas durch den eisernen Vorhang überwunden war, konnten sich auch osteuropäische Staaten auf die Mitgliedschaft vorbereiten und sie auch erlangen.

Im europäischen Regelungsdickicht von heute gerät die ursprüngliche Idee manchmal in Vergessenheit. Den Frieden durch wirtschaftliche Zusammenarbeit zu sichern, ist ein treffliches Konzept. Aber Vergebung an die Stelle der Vergeltung treten zu lassen, ist ein revolutionärer Gedanke. Seinen Ursprung hat er in der Bergpredigt Jesu. Mich wundert, warum man so selten an die Geschichte der Europäischen Union denkt, wenn gefragt wird, ob man mit der Bergpredigt Politik machen könne. Man kann. Für mich ist das der Ausgangspunkt für das Nachdenken über die Verantwortung der Religionen für den Frieden in Europa.


II.

Wenn gefragt wird, was Europa sei, was diesen Kontinent in seinem Wesen ausmache, so können die Antworten sehr unterschiedlich ausfallen. Der vielleicht renommierteste lebende Philosoph Europas, Jürgen Habermas, verweist in seinem Aufsatz „Der gespaltene Westen“ auf sieben Merkmale Europas, die seiner Auffassung nach dessen Identität begründen und prägen. Er nennt dabei ausdrücklich: „Säkularisierung, Staat vor Markt, Solidarität vor Leistung, Technikskepsis, Bewusstsein für die Paradoxien des Fortschritts, Abkehr vom Recht des Stärkeren, Friedensorientierung aufgrund geschichtlicher Verlusterfahrung“ . Diese sieben Punkte will ich jetzt nicht im Einzelnen diskutieren, obwohl jeder für sich zweifellos der Debatte wert wäre, sondern mich auf den zuletzt genannten konzentrieren.

Mit ihm stellt Jürgen Habermas die These auf, dass die „Friedensorientierung aufgrund geschichtlicher Verlusterfahrung“ einen gemeinsamen Nenner für die Identität Europas bildet. Wenn das stimmt, dann ist für die Zukunft dieses Kontinents viel gewonnen. Europas Identität müsste dann jedoch weder geographisch noch ethnisch noch kulturell, sondern irenisch, also von der Beziehung zum Frieden her, begründet werden. Europa wäre als ein „Friedensprojekt“ (Dieter Senghaas)  etabliert und gerade so auch historisch und kulturell wirksam und prägekräftig. Ich gestehe, dass diese Vorstellung mir persönlich sehr nahe liegt.

Allerdings: Die von Habermas gebrauchte Formel macht deutlich, dass die Friedensorientierung Europas nicht schon immer und gleichsam von selbst da gewesen ist. Die irenische Identität Europas ergibt sich nicht von selbst, sondern entspringt einer geschichtlichen Verlusterfahrung. Sie beruht somit auf einschneidenden Ereignisssen, die die Geschichte dieses Kontinents geprägt haben. Es geht um traurige und tragische Ereignisse, um Friedlosigkeit und Gewalt.


III.
Um dies zu verdeutlichen, will ich einen dreifachen Rückblick vornehmen; ich will den Lichtkegel unserer gemeinsamen Aufmerksamkeit auf drei Stationen der Geschichte Europas lenken.

Der erste Rückblick: Karl der Große - Tod oder Taufe

Als der Frankenkönig Karl der Große zu Beginn der 790er Jahre mit der Vernichtung des Awarenreiches beschäftigt war, erhoben sich die längst „befriedet“ geglaubten Sachsen erneut, um die verhasste Fremdherrschaft der Franken abzuschütteln. Der König überließ den Awarenfeldzug seinem Sohn Pippin und zog selbst wieder gegen die Sachsen zu Felde. Jahrelang wurde sein Heer damit in Atem gehalten, die Aufstände der Sachsen zu bekämpfen. Bis zum Jahr 804 dauerte es, bis der dann bereits zum römischen Kaiser gekrönte Karl endgültig die Oberhand über das standhafte Volk der Sachsen gewann. Der letzte Schlag, den er führte, war der grausamste. Er ließ zehntausende Sachsen mit Weib und Kind deportieren und in andere Gebiete des Reiches umsiedeln. Die besonders unruhigen Gaue trat er sogar an den slawischen Abodritenfürsten Thrasko ab, der mit den Franken verbündet, mit den Sachsen aber seit ewigen Zeiten verfeindet war. Hinrichtungen, Deportationen, Verwüstungen und Zerstörungen im Lande und sogar das Abtreten sächsischen Bodens an uralte Feinde – das waren die brutalen Maßnahmen, mit denen dieses Volk schließlich in die Knie und zur Annahme des Christentums gezwungen wurde. „Tod oder Taufe“ hieß die Losung in Sachsen über Jahrzehnte. Im Jahre 804 war der Widerstand endlich gebrochen. Die Sachsen waren endgültig in die fränkische Reichskultur gezwungen.

Der zweite Rückblick: Die Kreuzritter – Blut und Freudentränen

Im Jahr 1099 eroberten die christlichen Kreuzritter Jerusalem. Flüchtlinge, die nach Bagdad entkommen konnten, berichteten, dass die Kreuzritter auf dem Weg zur Heiligen Stadt eine Spur der Verwüstung hinterlassen hatten: viele zerstörte und geplünderte Dörfer und Städte, zahlreiche ermordete Land- und Stadtbewohner. Nach der Einnahme der Stadt Jerusalem begann ein Massaker ungeheuren Ausmaßes, das viele Tage lang andauerte. Die Sieger töteten wahllos Männer, Frauen und Kinder, plünderten Häuser und Moscheen und ließen innerhalb der Stadtmauern keinen Moslem am Leben. Das gleiche Schicksal traf die jüdische Gemeinde. Als sie sich in die Hauptsynagoge zurückzog, wurde diese von den Kreuzrittern niedergebrannt. Wer zu fliehen versuchte, wurde mit dem Schwert erschlagen. Als alles vorbei war, zogen die Ritter, „Freudentränen weinend“, zum Heiligen Grab, wo sie ihre blutbefleckten Hände zum Gebet falteten.

Der dritte Rückblick: Gustav Adolf gegen Wallenstein - Krieg der Konfessionen

Der niederländische Maler Anton van Dyck erhielt im Dreißigjährigen Krieg den Auftrag, Porträts des protestantischen Königs Gustav Adolf von Schweden und des kaiserlich-katholischen Feldherrn Albrecht von Wallenstein zu malen. In seinen noch heute weithin bekannten Porträts stellte er die beiden Gegenspieler so frappierend ähnlich dar, als ob sie verwandt, ja, als ob sie Brüder wären. In den Bildern der Kontrahenten spiegelt sich so der ganze Widersinn des durch konfessionelle Streitigkeiten mitverursachten verheerenden Krieges, der das Geschick Deutschlands über Jahrhunderte prägen sollte. Der als „Löwe von Mitternacht“ verklärte schwedische König war wohl ebenso wenig ein selbstloser Retter des Protestantismus, wie der böhmische Condottiere ein uneigennütziger kaisertreuer Katholik war. Mochten religiöse Motive mitspielen, vor allem waren die beiden eigensüchtige Machtpolitiker, glänzende Feldherren und Organisatoren. Sie bestimmten die Geschicke des großen „teutschen Krieges“ und lebten beide nicht lange genug, um zu seiner Beendigung beitragen zu können. In einem vor wenigen Jahren (2003) erschienenen Buch von Hans-Werner Huf wird die Zeit des Dreißigjährigen Krieges mit ihren Höhen und Tiefen, vor allem aber mit ihrer Angst und ihren Schrecken, noch einmal lebendig. Der Titel des Buches spricht für sich: „Mit Gottes Segen in die Hölle“.

Etwa dreißig bis vierzig Prozent der deutschen Bevölkerung jener Zeit starb infolge des Krieges, und die meisten der im Jahr 1648 noch Lebenden waren durch den Krieg gezeichnet. Im Herzen Europas waren Tod und Schrecken so übermächtig aufgetaucht, dass nicht nur die Deutschen, sondern alle Europäer froh waren, mit dem Vertragswerk von Münster und Osnabrück Frieden und Sicherheit mit juristischen Mitteln und politisch durchaus nachhaltig besiegelt zu wissen. Auch außerhalb Deutschlands galten die 1648 geschlossenen Verträge lange Zeit als Meisterwerke internationaler Konfliktregulierung und als tragfähige Grundlagen des europäischen Staatensystems. Friedensorientierung aufgrund geschichtlicher Verlusterfahrungen – die Friedensverträge von Münster und Osnabrück sind exemplarische Illustrationen solcher prägender gesamteuropäischer Erfahrungsmuster.

Wenn die heutige christliche Friedensethik die multilaterale Dimension internationaler Friedenspolitik und die Notwendigkeit einer rechtlichen Codierung (und Kodifizierung) von Friedensprozessen betont, dann hat dies seinen geschichtlichen Ursprung unter anderem in solchen, vor vielen Jahrhunderten gemachten europäischen Erfahrungen. Bedrückend bleibt, dass unsere historischen Rückblicke das Christentum als eine religiöse Bewegung zeigen, die in den herangezogenen Beispielen keineswegs für Friedfertigkeit und Gewaltlosigkeit stand.


IV.
In einem kürzlich veröffentlichten Beitrag kommt der Politikwissenschaftler Mathias Hildebrandt zu der nicht unbegründeten Feststellung: „Ganz zweifelsohne wohnt den Religionen ein nicht zu unterschätzendes Gewaltpotenzial inne, das ganz erhebliche destruktive Kräfte freisetzen kann. Dabei scheint keine der Weltreligionen von diesem Verdacht ausgenommen werden zu können: weder das Christentum noch der Islam, aber auch nicht das Judentum und auch nicht der Hinduismus. [...] Selbst der insbesondere durch den Dalai Lama im Ruf besonderer Friedfertigkeit stehende Buddhismus kann nicht für sich reklamieren, keine Gewalt freizusetzen.“
Hildebrandt bezieht sich dabei nicht nur auf die europäische Situation. Seine These über die Rolle der Weltreligionen entwickelt er vielmehr in einem globalen Horizont. Was im Blick auf die ganze Welt gilt, kann indes für Europa nicht unrichtig sein. Es ist wahr, den Religionen eignet ein Gewaltpotenzial. Unsere drei Rückblicke auf Stationen der europäischen Geschichte konnten dies illustrieren. Aber ebenso zutreffend ist auch die andere und nicht minder wichtige Aussage, dass allen großen Religionen ein beachtliches Friedenspotenzial innewohnt. In ihnen ist eine große Sehnsucht nach dem Frieden  aufbewahrt; sie verfügen über die Möglichkeit und die Fähigkeit dazu, Gewalt einzudämmen und Frieden zu stiften.

Auch dafür ließen sich historische Rückblenden durchführen. Zu denken wäre beispielsweise an das klare Friedenszeugnis der frühen Christen, die sich dem Wehrdienst des Römischen Reichs schon deshalb entzogen, weil er mit der Verehrung der römischen Kaiser verbunden war. Die Affinität von Kriegsdienst und Götzendienst wurde so in einer exemplarischen Weise aufgedeckt – eine Affinität, die beispielsweise im Ersten Weltkrieg wieder offenkundig wurde, als die kriegführenden Parteien sich jeweils auf „ihren“ Gott beriefen, obwohl sie doch, theoretisch zumindest, ein und denselben Gott bekannten. Das „Gott mit uns“ auf den deutschen Koppelschlössern bleibt ein Fanal für diese Art von Götzendienst, gegen den schon die frühe Christenheit ein klares Zeugnis abgelegt hatte.

Oder es wäre daran zu denken, dass auf europäischem Boden für mehrere Jahrhunderte eine friedliche Koexistenz zwischen arabischen Muslimen, Juden und Christen gelang. Seit der Mitte des 8. Jahrhunderts erreichten im Emirat Cordoba auf diese Weise Landwirtschaft, Handwerk und geistiges Leben eine hohe Blüte. Die arabische Kultur jener Zeit  brachte bedeutende Gelehrte hervor; Avicenna, Averroes und Maimonides sind vor allem zu nennen. Die Überlieferung großer Teile der griechischen Philosophie ist diesen Gelehrten zu danken. So wirkte sich diese friedliche Koexistenz nachhaltig auf die mittelalterliche Entwicklung Europas aus.
Zwar war noch keineswegs programmatische Toleranz das Erbe des Mittelalters, wohl aber eine faktisch akzeptierte Vielfalt. Inmitten einer gewaltsamen politischen Umwelt suchten die Kirchen zumindest Inseln des Friedens zu schaffen. Die treuga Dei war eine solche Zone: Bestimmte Tage in der Woche und bestimmte Bereiche wurden zu Zonen und Zeiträumen eines Waffenstillstands erklärt. Unterlegene Konfliktparteien erhielten zumindest einen Rückzugsraum. Die theologische Einsicht in den Gottesfriede setzte sich in ein Rechtsinstrument zur Begrenzung der Gewaltsamkeit um.

Ferner ist daran zu erinnern, dass aus den konfessionellen Auseinandersetzungen der Reformationszeit das erste große europäische Friedensprojekt hervorging. Mit dem Augsburger Religionsfrieden von 1555 wurde der erste Schritt zu einer Friedensordnung getan, die auf dem Respekt vor der gewissensbestimmten Glaubensüberzeugung der einzelnen beruht. Mit den gewiss noch unzureichenden Instrumenten des dem Landesherrn übertragenen Rechts zur Entscheidung über die Wahl der Konfession – dem sogenannten ius reformandi – und der für die Angehörigen anderer Konfessionen eröffneten Möglichkeit, unter Mitnahme ihres Eigentums das Land zu wechseln – dem sogenannten ius emigrandi – wurden erste Schritte zu einer friedlichen Koexistenz unternommen, die in der Folgezeit weiter ausgebaut wurden.

Schließlich ist auch zu erwähnen, dass Europa es war, in dem die großen Friedensrufe und Friedensentwürfe entstanden, die von Erasmus über Immanuel Kant bis zu Bertha von Suttner reichten; die neuzeitliche Friedensbewegung legte sich einen Titel zu, den sie direkt der Bergpredigt Jesu entnahm; geht doch der Name „Pazifismus“ unmittelbar auf die Seligpreisung der Friedensstifter durch Jesus zurück. In den Erschütterungen des Jahrhunderts der Weltkriege kam wieder zum Bewusstsein, was dem Christentum von seinen Ursprüngen her eingestiftet war: die Berufung dazu, Frieden zu stiften. Doch nicht nur für den christlichen Glauben, sondern für alle Religionen stellt die Verantwortung für den Frieden eine unausweichliche Verpflichtung dar. 

Für den Frieden in Europa sind daher alle großen Weltreligionen verantwortlich, sofern sie auf diesem Kontinent präsent sind. Ob es sich um Christen handelt oder um Muslime, Juden, Hindus oder Buddhisten: Sie alle, und nicht nur sie, sondern auch diejenigen, die sich zu keiner dieser Religionen zählen, sind dem Frieden verpflichtet. Eine besondere Verantwortung der Christen für den Frieden in Europa besteht allerdings auf Grund der besonderen christlichen Prägung, die der Kontinent durch das Christentum erfahren hat. Unbeschadet der religiösen Pluralität, die Europa heute prägt (die Haltung von Menschen ohne religiöse Bindung eingeschlossen), ergibt sich eine besondere Verantwortung der Christen auch daraus, dass von den 720 Millionen Bürgerinnen und Bürgern Europas mehr als 500 Millionen Christen sind. Anders gewendet: Mehr als zwei Drittel aller Europäer gehören einer christlichen Kirche an.

Für sie alle gilt: Christen sind von ihrem Glauben her verpflichtet, für den Frieden einzutreten. Denn Jesus Christus war weder ein Feldherr noch ein Gotteskrieger, sondern ein jüdischer Rabbi, der in seiner Predigt die Sanftmütigen pries und die Friedensstifter „Gottes Kinder“ nannte (Matthäus 5, 5 und 9). Ziel christlichen Handelns ist schon deshalb immer der Friede, niemals der Krieg. Dies ist die Perspektive aller Konfessionen in Europa: neben der römisch-katholischen Kirche die orthodoxe Christenheit, die Anglikaner, die kontinentaleuropäisch geprägten Protestanten sowie verschiedene, zumeist evangelische Freikirchen. Der Friede ist der große Auftrag der Christenheit. Dabei gilt: Auch wenn dieser Auftrag seit Jahrtausenden fest steht - die Christenheit hat, ebenso wie Europa, den Frieden noch vor sich.

Es stimmt mich in diesem Zusammenhang froh, dass das Eintreten für den Frieden in Europa auf der Agenda der christlichen Kirchen ganz oben steht. Vor vier Wochen, Mitte Februar, fand in Wittenberg zur Vorbereitung der 3. Europäischen Ökumenischen Versammlung in Hermannstadt (Sibiu) im September dieses Jahres eine Tagung statt, in der Vertreter und Vertreterinnen der europäischen Kirchen sich öffentlich zu ihrem Engagement in der Gewaltüberwindung bekannten. "Mach mich zu einem Werkzeug deines Friedens" lautete im Anklang an das berühmte, Franz von Assisi zugeschriebene Gebet das Thema einer Feier der gemeinsamen Verpflichtung zur Überwindung von Gewalt im Rahmen einer Versammlung von orthodoxen, katholischen, anglikanischen und evangelischen Kirchenvertretern und Kirchenvertreterinnen. Nicht mehr wie einst die Legitimation von Kriegen oder die Segnung von Waffen, sondern die Gewaltüberwindung ist das große Ziel der Christenheit. Das ist verheißungsvoll. Es lässt für Europas Zukunft hoffen.

Ich ziehe eine Zwischenbilanz: Die großen Religionen – einschließlich des Christentums – haben eine durchaus ambivalente Geschichte im Blick auf ihr Friedenspotenzial. Sie tragen die Möglichkeit in sich, Gewalt und Unfrieden zu schaffen und zu rechtfertigen. Aber ebenso tragen sie eine Sehnsucht nach Frieden in sich; sie sind von dem Auftrag bestimmt, Frieden zu stiften und Gewalt zu überwinden. Die europäische Geschichte mit ihren Erfahrungen von Schuld, Leid und Vernichtung, mit ihren Abgründen und eigentümlichen Verlusterfahrungen hat in der zweiten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts mit dazu beigetragen, das große und reiche Friedenspotenzial der in Europa ansässigen Religionen, auch und insbesondere der Christenheit, zur Entfaltung zu bringen. Wenn Christen sich von Gott zu Werkzeugen seines Friedens machen lassen, dann können sie zusammen mit den Vertretern anderer Religionen zu Friedensstiftern für den Kontinent Europa werden.


V.
Was aber können und müssen die Religionen tun, wenn sie in der Rolle von Friedensstiftern tätig werden wollen? Die Antwort lässt sich kurz und bündig fassen: Sie sollen für den Frieden beten und arbeiten („orare et laborare“). Zu den grundlegenden Friedensaufgaben der christlichen Kirchen gehören:

  • das Gebet für den Frieden und die Verkündigung des Evangeliums;

  • die Vermittlung von Bildung im Sinn grundlegender Orientierungen und die erzieherische Vermittlung von Werten und Normen;

  • die ethische Reflexion der Sicherung und Förderung des Friedens in der öffentlichen Diskussion, beispielsweise durch Denkschriften (im katholischen Bereich ist meist von „Hirtenworten“ die Rede);

  • die Aufgabe, die politisch Verantwortlichen wirksam daran zu erinnern, dass sie auf Recht und Gerechtigkeit verpflichtet sind und das ihnen Mögliche zur Wahrung und Förderung des Friedens zu tun haben;

  • die Wahrnehmung seelsorgerlicher Verantwortung für die in Politik und Gesellschaft Handelnden. Diese seelsorgerliche Zuwendung gilt den politisch Verantwortlichen ebenso wie den Soldatinnen und Soldaten sowie den Zivildienstleistenden;

  • der Aufbau und Ausbau von zivilen (christlichen) Friedens- und Freiwilligendiensten;

  • die Pflege von Kontakten zu anderen Völkern und Nationen durch das weltweite Netz ökumenischer Verbundenheit;

  • der Dialog mit anderen Religionen und die Achtung der bestehenden religiösen und kulturellen Differenzen.

In diesen acht Punkten scheint mir das Wesentliche erfasst zu sein. Trotzdem schließe ich Ergänzungen natürlich nicht aus. Doch schon die genannten Punkte, die ihrerseits wiederum höchst unterschiedliche Facetten haben, machen deutlich, dass die Aufgabe, Frieden zu schaffen, alles andere als einfach oder gar trivial ist; sie ist vielmehr außerordentlich komplex und vielschichtig. Das Gebet, die Bildung, die ethische und politische Orientierung, die seelsorgerliche Begleitung, der Aufbau von zivilen Friedensdiensten, die Pflege ökumenischer und interreligiöser Verbundenheit: das sind umfangreiche, komplexe und anspruchsvolle Aufgaben, die sich für die Christenheit stellen. Die Evangelische Kirche in Deutschland trägt auf all diesen Ebenen zur Stärkung und Förderung von Friedensprozessen bei. Die europäischen evangelischen Kirchen tun dies einerseits über die Gemeinschaft Evangelischer Kirchen in Europa (GEKE), andererseits im ökumenischen Verbund mit den orthodoxen Kirchen im Rahmen der Konferenz Europäischer Kirchen (KEK).  Die bevorstehende Europäische Ökumenischen Versammlung wird darüber hinaus mit der Konferenz der europäischen katholischen Bischofskonferenzen gemeinsam vorbereitet und durchgeführt.

Inwieweit die anderen in Europa tätigen Religionen Beiträge für den Frieden leisten können und dies tatsächlich tun, wird man – je nach der eigenen Perspektive – unterschiedlich wahrnehmen und beurteilen. Gebet, Bildung, ethische und politische Orientierung, seelsorgerliche Begleitung, Aufbau von zivilen Friedensdiensten und die Stärkung von weltweiter, auch interreligiöser Verbundenheit – dies alles können jedoch grundsätzlich auch Überschriften für die Ziele anderer Religionen sein. Und sie sind dies ja auch – mindestens in Teilen, mindestens annäherungsweise.

Was das Gebet für den Frieden angeht, so denke ich an viele weltweite Solidaritätsaktionen in Moscheen und Synagogen nach dem 11. September 2001. In den USA und in Europa gab es viel Anteilnahme an dem Leid der Opfer und ihrer Familien, und über die Grenzen der Religionen hinweg wurde die Notwendigkeit gesehen und empfunden, miteinander solidarisch zu sein und im Dienste des Friedens in der Welt den Sumpf des internationalen Terrorismus auszutrocknen.

Ich erinnere ferner an das Friedensgebet verschiedener Religionen und Konfessionen von Assisi im Jahr 1986, das auf Initiative Papst Johannes Pauls II. zustande kam. An ihm waren Vertreter aller fünf großen Weltreligionen beteiligt, ebenso Repräsentanten kleinerer Religionen. Solche gemeinsamen Gebete für den Frieden sind danach auch an unterschiedlichen Orten wiederholt worden. Sie haben ihren guten Sinn und ihr Recht - jedenfalls solange deutlich ist, dass es sich dabei um multireligiöse, nicht um interreligiöse Veranstaltungen handelt. Denn klar ist, dass nicht alle Religionen aus demselben Gottesverständnis heraus beten; somit können sie auch nicht einfach miteinander beten. Gerade der wechselseitige Respekt gebietet es, die wesentlichen Unterschiede zwischen den religiösen Lebensformen ernst zu nehmen und weder zu verwischen noch zu verschweigen.

Als vor einem guten Vierteljahr eine Handreichung der Evangelischen Kirche in Deutschland unter dem Titel „Klarheit und gute Nachbarschaft: Christen und Muslime in Deutschland“ erschien, kam es in muslimischen Verbänden zu Irritationen und Verärgerungen über diesen Text. Das wurde mitgeteilt, als diese Verbände kurzfristig eine Verabredung zu einem Spitzengespräch zwischen ihnen und der Evangelischen Kirche in Deutschland widerriefen und ihre Teilnahme an dem geplanten Termin absagten.
Die hinter solchen Irritationen stehende Problematik lässt sich folgendermaßen beschreiben: Das Bekenntnis zu dem einen Gott, das Christen und Muslime verbindet, kann nicht darüber hinwegtäuschen, dass alle drei mit diesem Bekenntnis unterschiedliche Gottesvorstellungen verbinden. In einer theologisch wenig genauen Weise wird dieses Thema häufig in die Frage gefasst, ob Christen und Muslime an denselben Gott glaubten. Die Frage klingt so, als ob es mehrere Götter gäbe – was Christen wie Muslime mit Nachdruck bestreiten. Ihr Bekenntnis stimmt vielmehr darin überein, dass es nur einen Gott gibt. Aber das schließt nicht aus, dass das Bekenntnis zu dem einen Gott sich in beiden Religionen mit sehr unterschiedlichen Gottesvorstellungen verbindet. Konkret wird der Unterschied im Blick auf die Person des Jesus von Nazareth, zu dem Christen sich als dem Sohn Gottes bekennen, in dem Gott sich in seiner vergebenden Liebe und Barmherzigkeit offenbart. Der Islam dagegen sieht in Jesus von Nazareth einen Propheten, der in der inneren Logik des Islam dem Propheten Mohammed untergeordnet ist. Zur Aufrichtigkeit im Umgang miteinander gehört es, das festzustellen und von daher auch einzuräumen, dass auch im Dialog der Religionsgemeinschaften untereinander das eigene Bekenntnis nicht verleugnet werden kann. der Missionsauftrag der christlichen Kirchen Muslimen gegenüber nicht außer Kraft gesetzt ist.

Die Klarheit, die in dieser wie in anderen Fragen vonnöten ist, schließt nach unserer Überzeugung gute Nachbarschaft nicht aus; vielmehr ist eine solche gute Nachbarschaft ohne solche Klarheit gar nicht zu haben; sie steht dann nämlich auf tönernen Füßen. Klarheit ohne gute Nachbarschaft wäre lieblose Schroffheit und würde Mauern errichten. Und gute Nachbarschaft ohne Klarheit würde wichtigen Fragen ausweichen, Profile verwischen, Identitäten aufgeben. Ohne ihre Identität aber können Religionen so wenig existieren wie Individuen.

Deshalb halten wir bei entsprechenden Gelegenheiten multireligiöse Feiern und Gebete für möglich, lehnen aber interreligiöse Feiern ab. Multireligiös heißt: Menschen unterschiedlicher Religionen beten nacheinander oder nebeneinander oder feiern nebeneinander Gottesdienste. Das kann einen guten Sinn haben, wenn es durch einen gegebenen Anlass, ein wichtiges Anliegen oder gemeinsame Trauer für dieses Beten nacheinander oder nebeneinander einen einleuchtenden Grund gibt. Interreligiös würde demgegenüber bedeuten: Man betet in derselben Veranstaltung ein und dasselbe Gebet zu Gott. Das halten wir als evangelische Kirche nicht für möglich. Es ist allerdings auch nicht nötig. Auch wenn wir jeweils in unseren Traditionen beten, können wir miteinander Frieden halten und für den Frieden in Europa eintreten.

Miteinander können die Religionen etwas für den Frieden tun, was jede einzelne von ihnen nur sehr viel schlechter könnte. Sie können Beispiele gelebter Toleranz bieten. Sie können zeigen, wie Menschen unterschiedlicher Überzeugungen und Lebensformen in wechselseitiger Achtung miteinander leben können. Eine Vorstellung von Toleranz ist dabei freilich vorausgesetzt, die mit gleichgültiger Beliebigkeit nicht zu verwechseln ist. Toleranz setzt vielmehr voraus, dass Menschen zu dem stehen, was ihnen wichtig ist, und deshalb achtungsvoll mit dem umgehen, was anderen wichtig ist. Man kann diese Vorstellung als „überzeugte Toleranz“ bezeichnen und sie von derjenigen „indifferenten Toleranz“ abheben, die heute oft leichtfertig bereits als zureichende Form von Toleranz ausgegeben wird. Solche „überzeugte Toleranz“ kann freilich nur gelingen, wenn die Achtung vor der Integrität des andern und die Bereitschaft, konkurrierende Wahrheitsansprüche achtungsvoll auszutragen, leitend sind. Religiöse Haltungen, in denen die Durchsetzung von Wahrheitsansprüchen mit Gewalt für möglich gehalten werden, sind zur Toleranz nicht im Stande und verdienen auch ihrerseits keine Toleranz.

 Insofern sind die Tendenzen zu fundamentalistischen Gestalten von Religion, die wir gegenwärtig beobachten, in hohem Maß beunruhigend. Sie gefährden den Friedensbeitrag der Religionen in hohem Maß; ja sie erschweren für viele Zeitgenossen den Zugang zur Wahrheit der Religion. Solche fundamentalistischen Religionsformen begegnen uns heute innerhalb des Islam. Der Ausschließlichkeitsanspruch des Islam wird in ihnen mit der Forderung nach unmittelbarer politischer Verwirklichung und gegebenenfalls der gewaltsamen Durchsetzung in einem Dschihad, einem heiligen Krieg, verbunden. Fundamentalistische Religionsformen begegnen aber auch innerhalb des Christentums; sie folgen häufig dem Muster „Wer nicht für uns ist, ist gegen uns“; das Bekenntnis zu Jesus als dem Herrn verbindet sich mit der Vorstellung von Reichen des Bösen, Achsen des Bösen oder vom Teufel besessenen Zonen, die durch Gebet von dieser Besessenheit befreit werden müssen. So deutlich man solchem Fundamentalismus entgegentreten muss, so klar muss man auch erkennen, dass religiöser Analphabetismus keine zureichende Antwort auf Fundamentalismus ist. Zureichend ist vielmehr allein eine Antwort, die eine geklärte religiöse Identität mit der Bereitschaft zu Frieden und Toleranz im Verhältnis der Religionen zueinander verbindet. 

Religionen, die einen solchen Zugang zu ihrer Friedensverantwortung entwickeln, können der Vergeltung widerstehen, die Versöhnungsbereitschaft fördern und die Fähigkeit, Konflikte gewaltfrei zu lösen, verbessern und stärken. Die Religionen sollten ein verstärktes Interesse daran entwickeln, gesellschaftliche Friedensprozesse zu fördern, und sich selbst als Akteure der Friedenserziehung verstehen.

Den „Dialog der Religionen“, die wichtigste Alternative zum „Kampf der Kulturen“, gibt es seit langem. Er muss gefördert, verstärkt und nach Kräften gepflegt werden. Als positives Beispiel erwähne ich die „Kölner Friedensverpflichtung“ vom 29. Oktober 2006. In ihr erklären Vertreter von Christentum, Judentum und Islam, dass sie jeder Verhetzung von Menschen entgegentreten, sich aktiv für Frieden und Verständigung engagieren und zu gegenseitigem Verständnis sowie zum Abbau von Vorurteilen beitragen. Ausdrücklich verpflichten sie sich darauf, „dass Hass und Gewalt überwunden werden und Menschen in unserer Stadt Köln und überall auf der Welt in Frieden, Sicherheit, Gerechtigkeit und Freiheit leben können.“

Ebenso wie der Dialog der Religionen die wichtigste Alternative zum Kampf der Kulturen ist, so bildet die zivile Konfliktbearbeitung die wichtigste Alternative zum Austragen von Konflikten mit militärischer Gewalt. Eine kürzlich veröffentlichte Studie nimmt nun ausdrücklich „Religionsbasierte Akteure der zivilen Konfliktbearbeitung“  in den Blick. Religionsbasierte Akteure, seien es Einzelpersonen, Bewegungen oder Organisationen – so stellt diese Studie fest – haben in den letzten Jahrzehnten bedeutsame Funktionen in der Deeskalation von Konflikten wahrgenommen. Zu den herausragenden Beispielen gehören die Vermittlung eines Friedensabkommens im mosambikanischen Bürgerkrieg durch die katholische Gemeinschaft San Egidio (1992), der kollektive Widerstand der ruandischen Muslime gegen den Völkermord von Hutus und Tutsis (1994) oder die Bedeutung der Kirchen, insbesondere der evangelischen Kirche für die „friedliche Revolution“ in der ehemaligen DDR (1989). Das letzte Beispiel ist für uns von besonderem Belang, weil es sich im eigenen Land vollzogen hat, mit Auswirkungen für ganz Europa. Wir wären auch nicht in dieser Kirche versammelt, wenn es die Ereignisse von 1989 nicht gegeben hätte. Dieses größte Wunder in unserer Geschichte während der letzten sechzig Jahre hat sich vor unseren Augen abgespielt, jeder kann es bezeugen, man kann die Wahrheit mit Händen greifen. Und so sollte es auch nicht schwer fallen, der Schlussfolgerung des Autors zuzustimmen, dass den Religionen in politischen Konflikten ein bemerkenswertes Friedenspotenzial eignet. 

Dafür, dass nichtchristliche  Religionen in Europa für zivile Friedensdienste Verantwortung übernehmen, sind mir bisher nur Ansätze bekannt. Beispielhaft lässt sich für Deutschland ein Projekt des Jüdischen Wohlfahrtswerks innerhalb des Freiwilligen Sozialen Jahrs (FSJ) erwähnen, das dem Einsatz für Einwanderer aus Russland gewidmet ist. Jüdische oder muslimische, hinduistische oder buddhistische Friedensgruppen und -initiativen, vielleicht sogar zivile Friedensdienste, getragen von diesen Weltreligionen, wären eine hoffnungsvoll stimmende Vision. Es wäre nicht nur aus der Sicht der christlichen Kirchen wünschenswert, um die gemeinsame Sorge um den Frieden in der Welt sozusagen interreligiös zu verankern; sondern es wäre zugleich ein Beitrag zur Stärkung ziviler Ressourcen in der europäischen Gesamtgesellschaft.

Europas Friedensgeschichte steht keineswegs an einem Nullpunkt. Die gemeinsame europäische Vergangenheit ist nicht nur eine Geschichte von Schuld und Versagen, sondern bietet auch zahlreiche hoffnungsvolle Aspekte. Der Historiker Michael Borgolte konstatierte kürzlich in einem Beitrag zur Geschichte der kulturellen Werte Europas, seines Erachtens „... führten religiöse Gegensätze keineswegs unweigerlich zu Auseinandersetzungen, ja mörderischen Vernichtungskämpfen. Auf der ertragenen Differenz mit den anderen hat Europas Überleben, vor allem aber seine Kultur, bis heute beruht.“ .

Die Achtung von Differenzen, von der Borgolte spricht, darüber hinaus die Toleranz als das Ertragen des Anderen in seiner ganzen uns ebenso bereichernden wie befremdenden Andersartigkeit  heißt auch: Klarheit bei gleichzeitiger guter Nachbarschaft. Ein Dialog der Religionen muss stets beides einschließen: Klarheit in der Sache, also auch das Eingeständnis bleibender Differenzen, und zugleich die Bereitschaft zu guter Nachbarschaft. Diese Doppelstruktur ist auch eine Bedingung der Möglichkeit für den künftigen Frieden in Europa und in der Welt. Und gute Nachbarschaft sollte niemand gering schätzen. Denn: „... ein Nachbar in der Nähe ist besser als ein Bruder in der Ferne.“ (Sprüche 27, 10).


VI.
Natürlich kann man bei einer Überlegung zur Friedensverantwortung der Religionen der Frage nicht ausweichen, wie sie zu Militäreinsätzen im Interesse der Friedenssicherung stehen. Hier kann ich erst recht nur für die eigene Religion stehen. Im Christentum haben sich die friedensethischen Positionen des prinzipiellen Pazifismus und der Lehre vom gerechten Krieg über lange Zeit in großer Spannung gegenübergestanden. Unter den veränderten Bedingungen seit der Wende in Europa hat sich die Perspektive verändert. Beide Positionen sind einander unter dem Gesichtspunkt der Verantwortung für einen gerechten Frieden näher gerückt. Auf der Seite pazifistischer Positionen ist deutlicher bewusst geworden, dass eine gewissenspazifistische Position nicht ausreicht. Denn nicht wie ich selbst ohne Gewissensbelastung eine Konfliktsituation bestehe, sondern wie Gewaltanwendung wirksam verhindert oder beendet werden kann, ist die entscheidende ethische Frage. Für diese Frage gilt als Grundsatz der Vorrang gewaltfreier Lösungen vor dem Einsatz militärischer Gewalt. Doch im Interesse der Verhinderung oder Beendigung faktischer Gewaltanwendung kann die Drohung mit oder sogar der Einsatz militärischer Gewalt nicht vollständig ausgeschlossen werden. Die Gemeinschaft Evangelischer Kirchen in Europa hat diesen Gesichtspunkt in einer friedensethischen Erklärung so erläutert, dass sie „militärische Lösungen als äußerste Möglichkeit zur Verhinderung von Genoziden und gravierenden Menschenrechtsverletzungen“ nicht ausgeschlossen hat. Wörtlich heißt es dazu: „Wenn militärische Gewalt die einzig mögliche Antwort zu sein scheint, um solche Situationen zu entschärfen, verlangt sie eine legitime Autorität, um sie einzusetzen, und eine beschränkte Anwendung der Kriterien. Im gegenwärtigen Stand der internationalen Rechtsordnung ist der UN-Sicherheitsrat die von der internationalen Staatengemeinschaft beauftragte Einrichtung, militärisch gegen einen Staat in Situationen vorzugehen, in denen 'der internationale Friede und die Sicherheit bedroht sind'.“ Und das Dokument fügt hinzu: „Die Anwendung von bewaffneter Gewalt (sollte) nur dann akzeptiert werden, wenn sie gemäß der Regeln und Entscheidungen des Völkerrechts stattfindet. Es stimmt, dass die Grundsätze des Völkerrechts durch Macht untermauert werden müssen, aber es ist noch wichtiger, dass diese Gewalt nach den Grundsätzen des Völkerrechts angewandt wird."

Wenn europäische Friedenspolitik sich solche Grundsätze zu Eigen machen kann, weist sie über die Grenzen des eigenen Kontinents hinaus und kann Bausteine zu einer multilateralen Friedensordnung beitragen. Eine solche Friedenspolitik würde die Verlusterfahrungen der Geschichte Europas zum Ausgangspunkt nehmen und eine Friedensorientierung entwickeln, die anschlussfähig an die friedensethischen Grundsätze der anderen Religionen ist.


VII.
Zum Schluss ein irenisches „ceterum censeo“ zum Europäischen Verfassungsvertrag.

Cato der Ältere soll in der Zeit vor Beginn des Dritten Punischen Krieges jede Sitzung des römischen Senats mit der kategorischen Aufforderung beendet haben, die feindliche Stadt Karthago müsse zerstört werden: „Im Übrigen bin ich der Auffassung (ceterum censeo), dass Karthago zerstört werden muss.“ Seine Meinung setzte sich durch und wurde praktische Politik. Ob das nur seiner Hartnäckigkeit zu verdanken war, sei dahingestellt.

Ich möchte heute schließen mit einem ganz und gar friedlich gemeinten „ceterum censeo“, das ich aus der Sicht der Evangelischen Kirche in Deutschland in diesen Tagen intensiver europäischer Debatten erneut vorbringen will. Ich bin sicher, dass ich dabei auch für andere christliche Konfessionen und vielleicht auch für andere Religionen spreche. In diesen Monaten wird wieder über die Europäische Verfassung diskutiert. Eine Verfassung ist in herausragendem Sinn eine Friedensordnung. Deren Präambel gibt Auskunft über den Geist, der diese Friedensordnung bestimmt. Das ist der Grund, dessentwegen ich auch heute dafür plädiere, dass es in der Präambel der künftigen europäischen Verfassung einen klaren Gottesbezug geben sollte. Ich füge hinzu, dass der bisher undeutliche Hinweis auf die religiösen Traditionen Europas klarer gefasst und ausdrücklich auf die jüdisch-christlichen Traditionen unseres Kontinents bezogen werden sollte. In diesem Zusammenhang danke ich der Bundeskanzlerin, Frau Dr. Angela Merkel, ausdrücklich dafür, dass sie sich ausdrücklich in dieser Richtung geäußert hat. Gott, auch wenn sich mit ihm unterschiedliche Vorstellungen verbinden, ist ein Gott des Friedens. Die irenische Identität Europas könnte gestärkt werden, wenn die säkulare Verfassung unseres Kontinents dies nicht verschweigen, sondern explizit benennen würde. Denn auch die europäische Staatengemeinschaft lebt von Voraussetzungen, die sie selbst nicht garantieren kann. Genau diese Voraussetzungen aber können zum Frieden in Europa und in der Welt einen entscheidenden Beitrag leisten.