Dialog der Religionen in einer pluralen Gesellschaft - Überlegungen aus evangelischer Perspektive - Rede anlässlich der Verleihung der Ehrenmedaille des EAK zum Gedenken an Hermann Ehlers

Wolfgang Huber

I.

Wir leben in einer Zeit des Wandels; das erlebe ich heute am eigenen Leib.

Wenn mir jemand vor einigen Jahren vorausgesagt hätte, dass der Evangelische Arbeitskreis der CDU/CSU mir die Hermann-Ehlers-Medaille verleiht, hätte das bei mir ein ungläubiges Erstaunen ausgelöst; ich glaube freilich auch, dass im Evangelischen Arbeitskreis selbst dieser Vorschlag noch vor nicht allzu langer Zeit verblüffend gewirkt hätte. Umso mehr beglückt mich diese Auszeichnung; und ich danke für sie von Herzen. Sie macht deutlich, dass in den letzten Jahren die Basis für vertrauensvolle Gespräche über Grundfragen unseres gesellschaftlichen Zusammenlebens gewachsen ist. Sie zeigt auch, dass die Herausforderungen, vor denen wir als Christen angesichts der großen Zukunftsfragen stehen, uns dazu bewegen, alte Grenzziehungen hinter der gemeinsamen Verantwortung zurücktreten zu lassen.

Wir leben in einer Zeit des Wandels. Das gilt auch für die Aufgabe, die evangelische Stimme in Gesellschaft, Politik und Kirche vernehmbar zu machen und dem Christsein in seiner evangelischen Gestalt eine klare Kontur zu verleihen. Dafür steht der Name von Hermann Ehlers. Er steht stellvertretend für eine Generation, die diese Aufgabe aus den Erfahrungen des Kirchenkampfs heraus in markanter Form wahrgenommen hat. Heute nötigen uns die Bedingungen einer religiös plural gewordenen Gesellschaft, das auf neue Weise zu tun. Auf diesem Weg sehe ich in der Verleihung der Hermann-Ehlers-Medaille eine große Ermutigung, die mich sehr bewegt.

Wir leben in einer Zeit des Wandels. Das zeigt sich nun nicht zuletzt darin, dass die Verleihung dieser Medaille mit der Erwartung verbunden ist, etwas zum Dialog der Religionen in der pluralen Gesellschaft zu sagen. Denken wir fünfzig Jahre zurück, so finden wir uns in eine Zeit versetzt, in der das Thema „Religion“ in evangelischen Kreisen verpönt war. Karl Barth hatte mit seiner These, Religion sei Unglaube, einen Bannstrahl gegen die Verwendung dieses Wortes geschleudert; die Kenntnis anderer Religionen galt weder im Kanon der allgemeinen Bildung noch im Studium der Theologie als erforderlich. Dietrich Bonhoeffer hatte die moderne Entwicklung zur Mündigkeit des Menschen so gedeutet, dass dadurch die historische Funktion der Religion, das bisher Unerklärliche zu erklären und einen Rückzugsraum für die Innerlichkeit des Menschen zu schaffen, überholt wird. Das große Thema von Bonhoeffers Gefängnistheologie war deshalb die Frage nach einem religionslosen Christentum.

Denken wir fünfundzwanzig Jahre zurück, so war das Thema der Religion aus einem anderen Grund aus dem Focus der Aufmerksamkeit gerückt. Unsere Gesellschaft durchlief eine Phase rapider Traditionsabbrüche. Sie wurden durch die Vorstellung befördert, Säkularisierung sei ein unaufhaltsamer gesellschaftlicher Trend; Selbstbestimmung und Selbstverwirklichung hätten sich jenseits einer überholten Abhängigkeit von der Welt des Religiösen oder von der Autorität der Kirchen zu vollziehen. So stark war dieser Sog, dass wir auch in der Kirche in Gefahr gerieten, der Behauptung einer unaufhaltsamen Säkularisierung durch Prozesse der Selbstsäkularisierung unseren Tribut zu zollen.

Weder das Eine – die Entgegensetzung von Christentum und Religion – noch das andere – die Behauptung einer unaufhaltsamen Säkularisierung der Gesellschaft – trifft noch die heutige Lage. Religion ist öffentlich und persönlich wieder zum Thema geworden. Säkularität bleibt zwar ein wichtiges Kennzeichen unserer politischen Verfassung; aber sie ist keineswegs ein durchgängiges Kennzeichen unserer Gesellschaft. Das unverwechselbar Christliche kann nicht mehr durch eine einfache Entgegensetzung zum Religiösen kenntlich gemacht werden. Dietrich Bonhoeffers Frage, „was das Christentum oder genauer: wer Jesus Christus für uns eigentlich ist“, muss nun im Horizont einer Wiederentdeckung der Religion erkennbar gemacht werden.

Die Entdeckung, dass Säkularisierung nicht einfach ein gesellschaftlicher Megatrend ist, verblüfft in unseren Breiten immer noch viele Menschen. Im globalen Maßstab ist dieser Befund unverkennbar. Christentum und Islam sind in unserer Welt besonders schnell wachsende Religionen. In beiden Glaubensrichtungen wachsen dabei freilich insbesondere auch Gruppen stark an, die in einer religiös gemäßigten Zone wie Mitteleuropa – und dabei ganz besonders im Osten Deutschlands, einem Kernland nicht nur der Reformation, sondern auch der Toleranz – eher Befremden auslösen.

Pfingstkirchen in Lateinamerika, unabhängige Kirchen in Afrika, evangelikale Strömungen in den oder Abspaltungen von den Kirchen der Reformation, neopentekostale Bewegungen im Katholizismus, neue nationale Identifikationen in der Orthodoxie – so befremdlich das alles ist, so unzweideutig deutet es doch auf ein wachsendes Gewicht christlicher Kirchen hin.

Im Bereich des Islam haben wir seit der islamistischen Revolution des Ayatollah Khomeini eine weltweit veränderte Situation vor uns. Dass sie uns auf den Straßen Istanbuls, Kairos oder Berlins durch die wachsende Zahl von Kopftuchträgerinnen besonders sinnenfällig wird, erklärt, warum um dieses Kleidungsstück ein Konflikt von hoher symbolischer Bedeutung entbrannt ist. Dass auf der anderen Seite aus dem begrüßenswerten Vorhaben, das muslimische Freitagsgebet aus den Hinterhofmoscheen herauszuholen und ihm einen angemessenen Ort im öffentlichen Raum zu geben, nun ein gesellschaftlicher Konflikt am die Machtsymbolik von Moschee und Minarett geworden ist, zeigt: Wir befinden uns in einer außerordentlich spannenden, aber auch angespannten Situation des interreligiösen Dialogs.

Wer meint, er könne der interessierten Öffentlichkeit allein schon durch die Rede von den drei „abrahamitischen Religionen“ über diese spannende und angespannte Situation hinweghelfen, täuscht sich über die innere Dynamik der Lage.

II.

Die Veränderung ist mit Händen zu greifen. Heute wird über Reisen von Papst Benedikt XVI. in aller Ausführlichkeit berichtet. Der Evangelische Kirchentag in Köln tritt neben den G8-Gipfel in  Heiligendamm. Mit 1,1 Millionen Teilnehmerinnen und Teilnehmern in der Vielzahl seiner Veranstaltungen hat er alle Erwartungen übertroffen. Die Kulturszene sorgt sich um die Qualität von Gottesdiensten; die Feuilletons diskutieren Fragen der Liturgie. Das persönliche Verhältnis zum christlichen Glauben wird wieder zum Thema; dass Menschen zu seiner geistlichen Kraft verstärkt Zugang finden können, ist ein verbreiteter Wunsch. Die Gleichgültigkeit gegenüber der Gottesfrage weicht klaren Aussagen, natürlich nicht nur im Ja, sondern auch im Nein. Die christlichen Wurzeln der westlichen politischen Kultur werden öffentlich thematisiert. Wie seinerzeit Bundestagspräsident Hermann Ehlers und sein Nachfolger Eugen Gerstenmaier bekennen sich heute der Bundespräsident, die Bundeskanzlerin und viele andere Persönlichkeiten in politischer Verantwortung in erkennbarer Weise zu ihrem evangelischen Glauben.

Der Dialog der Religionen – besonders mit den muslimischen Verbänden – sorgt bundesweit für Schlagzeilen und für überfüllte Hallen auf dem Deutschen Evangelischen Kirchentag. Die großen religiösen Feste sind medial ebenso präsent wie vermeintlich religiös motivierte Auseinandersetzungen. Ereignisse in einem Teil der Welt haben unmittelbare Auswirkungen auf die anderen Teile; das gilt für die Folgen des 11. September 2001 genauso wie für die enorme Hilfs- und Trostbereitschaft nach der Tsunami-Katastrophe an der Wende zum Jahr 2005.

Religion vermittelt den Menschen Halt; sie bringt die Ehre Gottes ebenso zur Geltung wie die gleiche Würde jedes Menschen. Aber der Gottesname kann durch Religionen auch schmählich missbraucht werden. Die globalisierte Welt zeigt beide Gesichter der Religion; eben dies führt die Religionsgemeinschaften noch intensiver zueinander und in das Gespräch miteinander. Es ist ihre gemeinsame Aufgabe, dort zu widersprechen, wo Religion zur Legitimierung von Gewalt missbraucht wird, und dort Antwort zu geben, wo nach der Bedeutung von Religion für das eigene Leben gefragt wird. Beides braucht den Dialog der Religionen.

III.

Über diesen Dialog zu reden, bedeutet, an einen Autor zu erinnern, der früher und deutlicher als andere Leitlinien für diesen Dialog formuliert hat. 230 Jahre liegt das zurück; doch noch heute kommt man beim Nachdenken über den interreligiösen Dialog an Lessings Ringparabel nicht vorbei.

Dass dieser Dialog im Geist der Toleranz zu erfolgen habe, wurde von Lessing unvergesslich eingeprägt. Doch welche Art von Toleranz beschreibt Lessing – und welche Art brauchen wir heute? Ist das Bild der drei Ringe, unter denen der wahre Ring sich nicht mehr finden lässt, wirklich ein zureichendes Modell von Toleranz? Die drei Söhne, die von ihrem Vater drei gleich aussehende Ringe erhalten, ziehen vor den Richter, um feststellen zu lassen, wer den echten Ring und mit ihm auch die Herrschaft erhalten hat. Da jedoch nach der Auffassung des Richters die Wahrheitsfrage nicht entschieden werden kann, macht er stattdessen die Frage zum Prüfstein, wer von den dreien der beliebteste sei, welchen also zwei der drei Brüder besonders lieben. Dieser Test geht negativ aus, weil die erklärte Liebe zu einem Bruder das Eingeständnis impliziert hätte, dass er über den echten Ring verfügt. Das veranlasst den Richter zu der Einschätzung, dass es diesen gar nicht mehr gibt; er ging vielmehr, so vermutet er, verloren. An die drei Brüder appelliert er, trotzdem an die Echtheit ihres Rings zu glauben und dies durch ein Verhalten unter Beweis zu stellen, das durch vorurteilsfreie Liebe und Verträglichkeit geprägt ist.

Mit diesem Ausgang der berühmten Ringparabel tritt die Frage nach der Wahrheit in den Hintergrund. Das von Lessing vorgeschlagene Konzept der Toleranz kann deshalb zu einer relativistischen Vorstellung von Toleranz verleiten, der alle Wahrheitsansprüche gleich gültig sind; der öffentliche Streit um die Wahrheit wird dann um des lieben Friedens willen ausgesetzt. Wer sich dem von Lessing vorgeschlagenen Konzept dagegen entzieht, wird sich zu einem fundamentalistischen Verständnis religiöser Wahrheit verführt sehen, welches dem andern einen Zugang zur Wahrheit des Glaubens gerade bestreitet. Relativistische Toleranz und fundamentalistischer Absolutheitsanspruch sind aber beide mit einem aufrichtigen Dialog der Religionen unvereinbar. Diesem ist mit Gleichgültigkeit so wenig geholfen wie mit Fundamentalismus. Er braucht vielmehr eine überzeugte Toleranz. Toleranz ist also nicht mit einer Haltung gleichzusetzen, die alles für richtig hält und jedem Recht gibt. Wenn alles gleich gültig ist, wird alles gleichgültig. Es wird beliebig und verliert an Bindungskraft und Überzeugung.

Das aber widerspricht dem Wesen der Religion. Denn keine Religion kann ohne Konsequenzen für die Lebensführung wahrhaftig gelebt werden. Deshalb hat jede Religion zugleich mit ihrer persönlichen, ja individuellen Dimension auch eine öffentliche, politische Dimension. Sie betrifft nicht nur das private, sondern auch das öffentliche Leben.

So verstandene Religion hat auch in der pluralen Gesellschaft westlicher Prägung ihren Ort. Die freiheitliche Gesellschaft braucht eine Haltung wechselseitigen Respekts, die den Dialog einfordert und dem Streit um die Wahrheit nicht ausweicht. „Klarheit und gute Nachbarschaft“ – so haben wir in der Evangelischen Kirche in Deutschland das Verhältnis zwischen den Religionen deshalb beschrieben. Und wir treten über diese Grundhaltung gern ins Gespräch ein – ganz besonders mit Vertretern des Islam.

IV.

Für den christlichen Glauben gründet der Respekt vor den Anhängern eines anderen Glaubens in der Gewissheit, dass jeder Mensch zum Bild Gottes erschaffen und von Gott – all seinen Verfehlungen zum Trotz – geliebt ist. Wechselseitiger Respekt gründet dieser christlichen Betrachtungsweise zufolge nicht in religiöser Indifferenz, sondern in der Gewissheit des Glaubens. Tolerant kann nur sein, wer in einer eigenen  Glaubensgewissheit beheimatet ist. In einem guten Verständnis schließen sich deshalb Dialog und Mission nicht aus. Das meint freilich nicht, dass der Dialog der Religionen sich in einer Art von gegenseitigem Bekehrungswettstreit vollzieht. Zwang und Unterwerfung lassen sich weder mit einem Dialog der Religionen noch mit einem christlichen Verständnis von Mission vereinbaren. Es geht vielmehr um eine gemeinsame Suche nach der Wahrheit.

Deshalb ist die Frage nach Frieden und Toleranz zwischen den Religionen auch noch nicht mit der Ausrufung eines „Projekts Weltethos“ beantwortet; die Antwort kündigt sich vielmehr erst dann an, wenn die Religionen ihre Differenzen im Glaubensverständnis in einer Weise austragen können, die den Frieden nicht gefährdet, sondern stärkt.

Ich erinnere mich gut daran, wie Herr Ministerpräsident Prodi als Präsident der Europäischen Kommission im Jahr 2004 in Brüssel auf den Besuch europäischer Kirchenführer reagierte. Während dieses Gesprächs sagte Präsident Prodi zu uns: Bis zu einem gewissen Grade nehmen Sie in den Kirchen die Zukunft Europas vorweg. Denn die entscheidende Aufgabe Europas ist es, der Pluralität eine Gestalt zu geben, die Einheit in Verschiedenheit zu leben. Und er fuhr fort: Die ökumenische Gemeinschaft der Kirchen ist ein Modell für die Einheit in Verschiedenheit, die wir in Europa brauchen.

Wir sollten diese Perspektive erweitern: Die Weise, in welcher die Religionen ihr Verhältnis untereinander klären und wie sie ihren Dialog gestalten, ist von enormer Bedeutung für die Frage, ob unsere Gesellschaft ihre Differenzen friedvoll klären kann oder nicht. Wir haben die Chance, den Dialog in Klarheit und im gemeinsamen Fragen nach der Wahrheit friedlich zu führen. Damit können wir ein Vorbild für das friedliche Miteinander verschiedener Überzeugungen abgeben.

V.

Theologische Klarheit und das Bemühen um gute Nachbarschaft vollziehen sich dabei auf gesellschaftlichen Voraussetzungen, die das Grundgesetz bereitstellt. Es garantiert den Religionsgemeinschaften Religionsfreiheit. Sie bildet auch die entscheidende Voraussetzung für den Dialog zwischen den Religionen.

Die Religionsfreiheit gründet im Gewissen des einzelnen. Sie darf ihm nicht geraubt werden. Deshalb wurde die Religionsfreiheit nach der Wiederentdeckung der Gewissensfreiheit in der Reformation zuerst von Minderheiten eingefordert und eingeklagt. Sie war zuallererst als Freiheit zur Religion gemeint. Aber sie schließt das Recht zur Freiheit von der Religion ein. Die Verhältnisse kehren sich jedoch um, wenn der Freiheit von der Religion der Vorrang vor der Freiheit zur Religion zuerkannt wird. Einem solchen Ungleichgewicht treten Christen beherzt entgegen.

Die Religionsfreiheit schließt das Recht zum Wechsel der Religion oder Weltanschauung ein. Das hat die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte von 1948 in ihrem Artikel 18 genauso anerkannt wie die Europäische Menschenrechtskonvention von 1950. Das klare Votum in der Vollversammlung der Vereinten Nationen veranlasste damals Saudi-Arabien, der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte die Zustimmung zu verweigern.

Als die Vereinten Nationen im Jahr 1966 die Menschenrechte in dem Internationalen Pakt über staatsbürgerliche und politische Rechte mit rechtlicher Verbindlichkeit ausstatten wollten, war das Recht, die Religion zu wechseln, verschwunden; die Rede war (ebenfalls in Artikel 18) nur noch von dem Recht, „eine Religion oder Weltanschauung eigener Wahl zu haben oder anzunehmen“. Dass das Recht, eine Religion „abzulegen“ oder zu „wechseln“, nicht mehr vorkam, war der Preis, der für die Zustimmung von islamisch geprägten Staaten gezahlt wurde. Dieser Preis war genauso hoch wie die Konzession, die gegenüber den USA und anderen Staaten dadurch geleistet wurde, dass in diesem Pakt von 1966  die Todesstrafe anerkannt und lediglich ihre Verhängung auf „schwerste Verbrechen“ beschränkt wurde, die zu dem Zeitpunkt, zu dem sie verübt wurden, bereits mit der Todesstrafe bedroht waren.

In beiden Fällen handelt es sich um verhängnisvolle Einschränkungen der Menschenrechte. Was die Religionsfreiheit betrifft, hat sich die Situation seitdem generell nicht verbessert. In islamischen Staaten gilt die Abwendung vom Islam als „Abfall“, der in einer Reihe von Ländern mit der Todesstrafe bedroht ist. Die Verkündigung anderer Glaubensweisen neben dem Islam wird vielfach unterdrückt. So wird in der Türkei der Ausdruck „Missionar“ nur in ablehnendem Sinn verwendet und nur auf Christen angewandt, die von ihrem Glauben auch in der türkischen Gesellschaft Zeugnis ablegen wollen. Wozu Menschen dadurch verleitet werden, wurde im April durch den Mord an drei Mitarbeitern des Zirve-Verlags in der ostanatolischen Stadt Malatya deutlich, zu denen auch der aus Deutschland stammende evangelische Christ Tilman Geske gehörte. Nach wie vor verbindet sich für mich die Erschütterung über diesen Vorgang mit der Bewunderung für Susanne Geske, die sich dazu entschlossen hat, nach der Ermordung ihres Mannes mit ihren drei Kindern in Malatya zu bleiben. Aber zugleich wurde dieser Vorgang zu einem Symbol dafür, in wie starkem Maß die Religionsfreiheit in unserer Gegenwart bedroht ist.

Umso mehr Beachtung verdient die Tatsache, dass der Zentralrat der Muslime in Deutschland in seiner Islamischen Charta von 2002 ausdrücklich feststellt: „Die im Zentralrat vertretenen Muslime akzeptieren das Recht, die Religion zu wechseln, eine andere oder gar keine Religion zu haben.“ Es ist zu wünschen und zu fördern, dass diese Auffassung sich möglichst weit ausbreitet und dass aus dem „Akzeptieren“ allmählich ein „Bejahen“ wird. Einstweilen gibt es auch in Deutschland ehemalige Muslime, die nicht wagen, ihren Übertritt zum christlichen Glauben öffentlich erkennbar zu machen, weil sie sich vor Repressalien fürchten; und ich glaube, wir sind uns einig darüber: Das muss sich ändern!

Wenn wir von der Religionsfreiheit sprechen, müssen wir deshalb heute mit neuem Nachdruck das individuelle Recht jedes einzelnen betonen, eine Religion zu haben oder auch keine, sie zu wechseln und sich öffentlich zu seiner Überzeugung zu bekennen. Im Dialog der Religionen ist das ein unbequemes Thema. Aber Appeasement an dieser Stelle wäre Verrat an der Religionsfreiheit selbst. Natürlich machen wir die Gewährleistung der Religionsfreiheit in Deutschland nicht rechtlich davon abhängig, ob und in welchem Umfang sie in anderen Ländern gewährt ist. Aber im Dialog der Religionen müssen wir unzweideutig darauf bestehen, dass die Religionsfreiheit unteilbar ist. Sie gilt für Christen in der Türkei ebenso wie für Muslime in Deutschland. Beziehungsweise genauer: Dass sie für Christen in der Türkei nicht gilt und auch für Aleviten in der Türkei eingeschränkt ist, kann uns nicht gleichgültig lassen. Und ebenso gilt: Die Diskussion über Moscheebauten fiele in Deutschland leichter, wenn in Saudi-Arabien christliche Gottesdienste möglich wären.

VI.

Das abendländische Christentum hat in seiner Geschichte oftmals Andersdenkende ausgeschlossen, bekämpft und vertrieben. Erst mit der wechselseitigen Unabhängigkeit von Staat und Religion wurde es möglich, unterschiedlichen religiösen Überzeugungen innerhalb ein und derselben Rechtsordnung einen angemessenen und gleichrangigen Ort zu gewährleisten.

Diese historische Erfahrung spricht dafür, dass Religionsfreiheit als universales Menschenrecht nur verwirklicht und gesichert werden kann, wenn die staatliche Ordnung einen säkularen, demokratischen Charakter trägt und  eine Pluralität von Meinungen und Gruppen zulässt. Der politische Durchsetzungsanspruch von Religionen muss so weit zurückgenommen werden, dass die Gleichstellung und Gleichbehandlung aller Religionen gewährleistet ist und den Religionsgemeinschaften die Freiheit in der Regelung ihrer Überzeugungen und Angelegenheiten zuerkannt wird.

Ein so gearteter säkularer und pluraler Verfassungsstaat muss darauf verzichten, sich selbst religiös zu begründen oder sich mit einer über dem Recht stehenden religiösen Legitimation zu versehen. Doch das schließt nicht aus, dass die staatliche Ordnung in einer Verantwortung "vor Gott und den Menschen" begründet wird. Dass die Präambel des Grundgesetzes diesen Verantwortungshorizont ausdrücklich zur Sprache bringt, engt die Religionsfreiheit in keiner Weise ein. Auch wenn eine europäische Verfassung sich ausdrücklich zur Verantwortung vor Gott und den Menschen und zur Bedeutung der jüdisch-christlichen Tradition bekennen würde, wäre das keine Einschränkung der Religionsfreiheit. Es wäre der Hinweis darauf, warum die Würde des Menschen schlechterdings unantastbar ist. Ein solcher Hinweis tut jeder Verfassungsordnung gut.

Doch Religionsfreiheit ist nicht nur bequem. Sie fördert nicht nur den Frieden, sondern auch den Konflikt. Wir kennen die Rechtfertigung von Gewalt im Judentum, im Christentum und im Islam. Wir werden die unfriedlichen Folgen der Religion in allen drei Bereichen nur in dem Maß überwinden, in dem wir zu selbstkritischen Korrekturen bereit und im Stande sind. Dabei sollten die Religionen sich gegenseitig unterstützen. Ihre Dialoge sollten sie so führen, dass solche selbstkritischen Korrekturen möglich werden. Das aber kann nur gelingen, wenn die strittigen Themen angesprochen werden. Das Thema „Religion und Gewalt“ gehört dazu, wenn Religionen nicht unter einen Generalverdacht geraten sollen. Das aber ist genauso verkehrt wie etwa der Versuchung nachzugeben, die Religionsfreiheit generell einzuschränken. Denn das wäre nicht der richtige Weg, um die Friedensverantwortung der Religionen und die Friedensfähigkeit einer freiheitlichen Gesellschaft zu sichern und zu stärken.

Aber zum Dialog der Religionen gehört auch die Einsicht, dass mit der Religionsfreiheit nicht jede denkbare Äußerung sakrosankt ist. Gerade weil der Staat sich in seiner Religionsneutralität von der inhaltlichen Beurteilung religiöser Überzeugungen fern hält, muss die Debatte in den Religionsgemeinschaften und zwischen ihnen bis zu inhaltlichen Fragen vordringen. Ein fairer Streit um die Wahrheit und das Ringen um Wege des Friedens in die Zukunft gehören zu den substantiellen Gestalten der Religionsfreiheit selbst.

VII.

Als vor einem halben Jahr die Handreichung der Evangelischen Kirche in Deutschland unter dem Titel „Klarheit und gute Nachbarschaft: Christen und Muslime in Deutschland“ erschien, kam es in muslimischen Verbänden zu Irritationen und Verärgerungen über diesen Text. Das wurde mitgeteilt, als diese Verbände kurzfristig eine Verabredung zu einem Spitzengespräch zwischen ihnen und der Evangelischen Kirche in Deutschland widerriefen und ihre Teilnahme an dem geplanten Termin absagten. Inzwischen hat die Evangelische Kirche in Deutschland eine Gegeneinladung des Koordinierungsrats der Muslime angenommen. Auf dem Deutschen Evangelischen Kirchentag war der Dialog von Christen und Muslimen eines der beherrschenden Themen; er war nicht frei von Spannungen.

Die hinter solchen Irritationen stehende Problematik lässt sich folgendermaßen beschreiben: Das Bekenntnis zu dem einen Gott, das Christen und Muslime verbindet, kann nicht darüber hinwegtäuschen, dass sie mit diesem Bekenntnis unterschiedliche Gottesvorstellungen verbinden. In einer theologisch wenig genauen Weise wird dieses Thema häufig in die Frage gefasst, ob Christen und Muslime an denselben Gott glaubten. Die Frage klingt so, als ob es mehrere Götter gäbe – was Christen wie Muslime mit Nachdruck bestreiten. Ihr Bekenntnis stimmt vielmehr darin überein, dass es nur einen Gott gibt. Aber das schließt unterschiedliche Gottesvorstellungen nicht aus. Konkret wird der Unterschied im Blick auf die Person des Jesus von Nazareth, zu dem Christen sich als dem Sohn Gottes bekennen, in dem Gott sich in seiner vergebenden Liebe und Barmherzigkeit offenbart. Der Islam dagegen sieht in Jesus von Nazareth einen Propheten, der in der inneren Logik des Islam dem Propheten Mohammed untergeordnet ist. Zur Aufrichtigkeit im Umgang miteinander gehört es, das festzustellen und von daher auch einzuräumen, dass auch im Dialog der Religionsgemeinschaften untereinander das eigene Bekenntnis nicht verleugnet werden kann.

Die Klarheit, die in dieser wie in anderen Fragen vonnöten ist, schließt nach unserer Überzeugung gute Nachbarschaft nicht aus; vielmehr ist eine solche gute Nachbarschaft ohne solche Klarheit gar nicht zu haben; sie steht dann nämlich auf tönernen Füßen. Klarheit ohne gute Nachbarschaft wäre lieblose Schroffheit und würde Mauern errichten. Und gute Nachbarschaft ohne Klarheit würde wichtigen Fragen ausweichen, Profile verwischen, Identitäten aufgeben. Ohne ihre Identität aber können Religionen so wenig existieren wie Individuen.

Deshalb halten wir bei besonderen Gelegenheiten, die das erforderlich machen, multireligiöse Feiern und Gebete für möglich, lehnen aber interreligiöse Feiern ab. Multireligiös heißt: Menschen unterschiedlicher Religionen beten nacheinander oder nebeneinander oder feiern nebeneinander Gottesdienste. Das kann einen guten Sinn haben, wenn es durch einen gegebenen Anlass, ein wichtiges Anliegen oder gemeinsame Trauer für dieses Beten nacheinander oder nebeneinander einen einleuchtenden Grund gibt. Interreligiös würde demgegenüber bedeuten: Man betet in derselben Veranstaltung ein und dasselbe Gebet zu Gott. Das halten wir als evangelische Kirche nicht für möglich. Es ist allerdings auch nicht nötig. Auch wenn wir jeweils in unseren Traditionen beten, können wir miteinander Frieden halten und für den Frieden in Europa eintreten.

 Miteinander können die Religionen etwas für den Frieden tun. Ich bin deshalb sehr froh, dass es gelungen ist, im Vorfeld des Deutschen Evangelischen Kirchentages führende Repräsentanten der sechs Weltreligionen aus den G8-Staaten und aus Afrika zu einer Konferenz nach Köln einzuladen. Erarbeitet wurde eine gemeinsame Erklärung, die als „Ruf aus Köln“ den Staats- und Regierungschefs der G8-Staaten nach Heiligendamm zugestellt wurde. Ohne die Unterschiede zwischen den Religionen zu nivellieren, haben wir uns gemeinsam zur Würde des Menschen und zur Gerechtigkeit als Gaben Gottes bekannt.

Dies ist in meinen Augen ein gelungenes Beispiel einer Toleranz, die voraussetzt, dass Menschen zu dem stehen, was ihnen wichtig ist, und deshalb achtungsvoll mit dem umgehen, was anderen wichtig ist. Religiöse Haltungen, in denen die Durchsetzung von Wahrheitsansprüchen mit Gewalt für möglich gehalten werden, sind zur Toleranz nicht im Stande und verdienen auch ihrerseits keine Toleranz.

Insofern sind die Tendenzen zu fundamentalistischen Gestalten von Religion, die wir gegenwärtig beobachten, in hohem Maß beunruhigend. Sie gefährden den Friedensbeitrag der Religionen in hohem Maß; ja sie erschweren für viele Zeitgenossen den Zugang zur Wahrheit der Religion. Solche fundamentalistischen Religionsformen begegnen uns heute innerhalb des Islam. Der Ausschließlichkeitsanspruch des Islam wird in ihnen mit der Forderung nach unmittelbarer politischer Verwirklichung und gegebenenfalls der gewaltsamen Durchsetzung in einem Dschihad, einem heiligen Krieg, verbunden. Fundamentalistische Religionsformen begegnen aber auch innerhalb des Christentums; sie folgen häufig dem Muster „Wer nicht für uns ist, ist gegen uns“; das Bekenntnis zu Jesus als dem Herrn verbindet sich mit der Vorstellung von Reichen des Bösen, Achsen des Bösen oder vom Teufel besessenen Zonen, die durch Gebet von dieser Besessenheit befreit werden müssen. So deutlich man solchem Fundamentalismus entgegentreten muss, so klar muss man auch erkennen, dass religiöser Analphabetismus keine zureichende Antwort auf Fundamentalismus ist. Zureichend ist vielmehr allein eine Antwort, die eine geklärte religiöse Identität mit der Bereitschaft zu Frieden und Toleranz im Verhältnis der Religionen zueinander verbindet.

Religionen, die einen solchen Zugang zu ihrer Friedensverantwortung entwickeln, können der Vergeltung widerstehen, die Versöhnungsbereitschaft fördern und die Fähigkeit, Konflikte gewaltfrei zu lösen, verbessern und stärken. Die Religionen sollten ein verstärktes Interesse daran entwickeln, gesellschaftliche Friedensprozesse zu fördern, und sich selbst als Akteure der Friedenserziehung verstehen.

Den „Dialog der Religionen“, die wichtigste Alternative zum „Kampf der Kulturen“, gibt es seit langem. Er muss gefördert, verstärkt und nach Kräften gepflegt werden. Als positives Beispiel erwähne ich die „Kölner Friedensverpflichtung“ vom 29. Oktober 2006. In ihr erklären Vertreter von Christentum, Judentum und Islam, dass sie jeder Verhetzung von Menschen entgegentreten, sich aktiv für Frieden und Verständigung engagieren und zu gegenseitigem Verständnis sowie zum Abbau von Vorurteilen beitragen. Ausdrücklich verpflichten sie sich darauf, „dass Hass und Gewalt überwunden werden und Menschen in unserer Stadt Köln und überall auf der Welt in Frieden, Sicherheit, Gerechtigkeit und Freiheit leben können.“

Ebenso wie der Dialog der Religionen die wichtigste Alternative zum Kampf der Kulturen ist, so bildet die zivile Konfliktbearbeitung die wichtigste Alternative zum Austragen von Konflikten mit militärischer Gewalt. Eine kürzlich veröffentlichte Studie nimmt nun ausdrücklich „Religionsbasierte Akteure der zivilen Konfliktbearbeitung“  in den Blick. Religionsbasierte Akteure, seien es Einzelpersonen, Bewegungen oder Organisationen – so stellt diese Studie fest – haben in den letzten Jahrzehnten bedeutsame Funktionen in der Deeskalation von Konflikten wahrgenommen. Zu den herausragenden Beispielen gehören die Vermittlung eines Friedensabkommens im mosambikanischen Bürgerkrieg durch die katholische Gemeinschaft San Egidio (1992), der kollektive Widerstand der ruandischen Muslime gegen den Völkermord von Hutus und Tutsis (1994) oder die Bedeutung der Kirchen, insbesondere der evangelischen Kirche für die „friedliche Revolution“ in der ehemaligen DDR (1989). Das letzte Beispiel ist für uns von besonderem Belang, weil es sich im eigenen Land vollzogen hat, mit Auswirkungen für ganz Europa. Dieses größte Wunder in unserer Geschichte während der letzten sechzig Jahre hat sich vor unseren Augen abgespielt, jeder kann es bezeugen, man kann die Wahrheit mit Händen greifen. Und so sollte es auch nicht schwer fallen, der Schlussfolgerung des Autors zuzustimmen, dass den Religionen in politischen Konflikten ein bemerkenswertes Friedenspotenzial eignet.

Dafür, dass nichtchristliche Religionen in Europa für zivile Friedensdienste Verantwortung übernehmen, sind mir bisher nur Ansätze bekannt. Beispielhaft lässt sich für Deutschland ein Projekt des Jüdischen Wohlfahrtswerks innerhalb des Freiwilligen Sozialen Jahrs (FSJ) erwähnen, das dem Einsatz für Einwanderer aus Russland gewidmet ist. Jüdische oder muslimische, hinduistische oder buddhistische Friedensgruppen und -initiativen, vielleicht sogar zivile Friedensdienste, getragen von diesen Weltreligionen, wären eine hoffnungsvoll stimmende Vision. Es wäre nicht nur aus der Sicht der christlichen Kirchen wünschenswert, um die gemeinsame Sorge um den Frieden in der Welt sozusagen interreligiös zu verankern; sondern es wäre zugleich ein Beitrag zur Stärkung ziviler Ressourcen in der europäischen Gesamtgesellschaft.

Der Historiker Michael Borgolte konstatierte kürzlich in einem Beitrag zur Geschichte der kulturellen Werte Europas, seines Erachtens „... führten religiöse Gegensätze keineswegs unweigerlich zu Auseinandersetzungen, ja mörderischen Vernichtungskämpfen. Auf der ertragenen Differenz mit den anderen hat Europas Überleben, vor allem aber seine Kultur, bis heute beruht.“ Die Achtung von Differenzen, von der Borgolte spricht, darüber hinaus die Toleranz als das Ertragen des Anderen in seiner ganzen uns ebenso bereichernden wie befremdenden Andersartigkeit heißt auch: Klarheit bei gleichzeitiger guter Nachbarschaft.

In einer Rede im Jahr 1954 hat Hermann Ehlers dies für den politischen Bereich mit Blick auf den beginnenden Prozess eines zusammenwachsenden Europas in der ihm eigenen, klaren und tiefgründigen Weise so gesagt: Die Verantwortung einer jeden Nation in Europa bedeute nicht deren Auflösung und „Vermischung“; sondern sie führt zum „Abbau der Lattenhäge, die bisher Volk von Volk geistig und politisch geschieden haben, und der Erkenntnis, dass letztlich jedes Volk auch für seinen eigenen Bereich durch das Miteinander mehr gewinnt als durch das Nebeneinander, geschweige denn das Gegeneinander.“ Wie recht er damit hatte, erkennen wir heute mit Blick auf die erwachsen gewordene Europäische Union klar und deutlich. Und wir halten es auch für den Dialog der Religionen fest; er muss stets beides einschließen: Klarheit in der Sache, also auch das Eingeständnis bleibender Differenzen, und zugleich die Bereitschaft zu guter Nachbarschaft. Diese Doppelstruktur ist auch eine Bedingung der Möglichkeit für den künftigen Frieden. Und gute Nachbarschaft sollte niemand gering schätzen. Denn, wie es im Buch der Sprüche heißt: „Ein Nachbar in der Nähe ist besser als ein Bruder in der Ferne.“