„Mit Barmen über Barmen hinaus“ - Beitrag zu dem Symposium zum 60. Geburtstag von Präses Nikolaus Schneider

Es gilt das gesprochene Wort.


„Kirche, Staat und Gesellschaft in der noch nicht erlösten Welt (Barmen V)“

I.
Als ich vor etwas über vierzehn Jahren vor der Frage stand, ob ich bereit sei, für das Amt des Bischofs der Evangelischen Kirche in Berlin-Brandenburg zu kandidieren, rief ich einen mir vertrauten Bischof an und bat ihn um Rat. Ich störte ihn beim Sonntagskaffee. Er redete mir zu, verband das aber mit dem Hinweis: „Vergessen Sie nie: Auch die Kirche gehört zur noch nicht erlösten Welt.“ Worauf die Ehefrau im Hintergrund weithin hörbar stöhnte: „Das kann man weiß Gott sagen!“

Es stimmt: Die 5. Barmer These zählt ausdrücklich nicht nur den Staat, sondern auch die Kirche zur noch nicht erlösten Welt – nicht etwa zur Entschuldigung, sondern zum Trost aller Menschen in kirchenleitender Verantwortung. Wenn zum 60. Geburtstag des rheinischen Präses an diese Feststellung erinnert wird, dann geschieht das nicht, um Resignation zu verbreiten, sondern um Mut zu machen. Die Kirche ist nur ein Gleichnis des Reiches Gottes, nicht das Reich Gottes selbst. Die Kirche ist – gerade im evangelischen Verständnis – eine verbesserungsbedürftige, aber auch eine verbesserungsfähige Größe. Sich um die Reform der Kirche zu bemühen, ist ebenso nötig wie möglich.

In der Beschreibung der noch nicht erlösten Welt beschränkt sich die fünfte These der Barmer Theologischen Erklärung nun allerdings auf Staat und Kirche. Von der Gesellschaft ist noch nicht die Rede. In dieser Hinsicht hat sich unsere Wahrnehmung erweitert. Wir betrachten das öffentliche Zeugnis unseres Glaubens nicht mehr nur im Dual von Kirche und Staat. Wir wissen uns an Menschen gewiesen, die in der Gesellschaft unterschiedliche Erfahrungen machen und unterschiedliche Verantwortungen wahrnehmen. Wir unterstreichen die Eigenständigkeit der Gesellschaft als Erfahrungs- und Handlungsfeld, indem wir neuerdings pointiert von der „Zivilgesellschaft“ sprechen. Wir sehen uns genötigt, mit neuem Nachdruck auf gesellschaftliche Marginalisierungsprozesse hinzuweisen und soziale Gerechtigkeit einzufordern. Kurzum: Es gibt mehr als genug Gründe dafür, beim Blick auf die „noch nicht erlöste Welt“, die gleichwohl Gottes Welt ist, auch auf die Gesellschaft zu achten.
Darüber hinaus kommt uns immer wieder in den Sinn, aus dem es dann gleichwohl auch allzu oft verschwindet, dass nicht nur die Gesellschaft, sondern auch die Natur zu der Welt gehört, die Gott mit dem liebenden Blick des Schöpfers ansieht, weil er es gut mit ihr meint. Verantwortliches Handeln in der noch nicht erlösten Welt, die Antwort des Glaubens auf Zuspruch und Anspruch in Jesus Christus, das Beten und das Tun des Gerechten werden insofern nicht nur Kirche, Gesellschaft und Staat, sondern immer auch unsere Mitwelt und unsere Nachwelt mit in den Blick nehmen müssen.

Das Bleiben an dem, was uns anvertraut ist – gerade durch das Erbe der Bekennenden Kirche – verbindet sich so mit dem, was sich wandelt. Beides zusammenzuhalten sehe ich auch als ein wichtiges Ziel im Handeln des rheinischen Präses Nikolaus Schneider. „Mit Barmen über Barmen hinaus“ – das scheint mir deshalb eine angemessene Perspektive dafür zu sein, ihm zu danken, ihn zu ehren und ihn für eine nächste Wegstrecke zu ermutigen.


II.
Die Barmer Theologische Erklärung vom 31. Mai 1934 ist uns in Theologie und Kirche zu einer unverzichtbaren Grundlage geworden. Insgesamt zehn Gliedkirchen der Evangelischen Kirche in Deutschland, darunter auch die Evangelische Kirche im Rheinland, bejahen in der einen oder anderen Form in ihren Grundordnungen Barmen ausdrücklich als schriftgemäßes, für das kirchliche Handeln verbindliches Bekenntnis. Auch die EKD „bejaht“ in ihrer Grundordnung „als bekennende Kirche“ „die von der ersten Bekenntnissynode in Barmen getroffenen Entscheidungen.“

Und auch die evangelische Theologie war in Deutschland jahrzehntelang über weite Strecken von dem Theologen geprägt, der auch für einen Großteil der Formulierungen in der Barmer Theologischen Erklärung verantwortlich ist: Karl Barth. Viele der sogenannten „Barthianer“ haben nach 1945 den theologischen Fakultäten und kirchlichen Hochschulen ihren Stempel aufgedrückt. Generationen von Pfarrern und Pfarrerinnen sind durch sie geprägt worden. Auch ich bekenne gerne, viel von Karl Barth und seiner Theologie gelernt zu haben.

Heute stehen nicht mehr in vergleichbarer Weise theologische Schulen gegeneinander. Die der dialektischen Theologie vorausgehende Epoche der Theologiegeschichte hat wieder vermehrt Aufmerksamkeit auf sich gezogen. Manche fragen, ob die einfache Antithese zwischen Schleiermacher und Barth wirklich nur weiterführt. Andere entdecken plötzlich, wie sie angesichts einer massiven Kritik an der Theologie Adolf von Harnacks von höchster römisch-katholischer Stelle sich sogar zur Verteidigung dieses Großmeisters des Kulturprotestantismus aufschwingen. Im Jahr 2007 müssen wir feststellen, dass es offenkundig unfruchtbar ist, eine einfache Entgegensetzung theologiegeschichtlicher Epochen einfach zu reproduzieren. Den aktuellen Herausforderungen des 21. Jahrhunderts wird eine solche Debatte nicht gerecht. Diese Erfahrung zeigt sich auch am Umgang mit der Barmer Theologischen Erklärung. Wir müssen mit Barmen – über Barmen hinaus.


III.
Das lässt sich an der fünften Barmer These besonders anschaulich verdeutlichen. In fünf knappen Punkten will ich zunächst die Stärken dieser These in Erinnerung rufen.

1. Barmen V ist ein Teil der ganzen Theologischen Erklärung mit ihrem Vorspruch, ihren Bibelworten, ihren Thesen und ihren Verwerfungen. Alles, was von Barmen V her über den Staat und über sein Verhältnis zur Kirche gesagt wird, hat seinen theologischen Maßstab darin, dass Jesus Christus „das eine Wort Gottes“ ist, „auf das wir zu hören, dem wir im Leben und Sterben zu vertrauen und zu gehorchen haben“ (Barmen I). Und was von Barmen V her über das Verhältnis des Christen zum Staat zu sagen ist, ist ohne die theologische Begründung in Barmen II her nicht zu verstehen. Dort heißt es, dass die Folge der in Christus geschenkten Befreiung der „freie, dankbare Dienst an seinen Geschöpfen“ ist.

2. Wer den Text der fünften Barmer These liest, muss auch beachten, was nicht dort steht. Zur biblischen Begründung der Sätze über den Staat wird nicht auf Römer 13 verwiesen, wie es die lutherische Tradition vor allem des 19. und frühen 20. Jahrhunderts vorgemacht hatte. Der Staat gerät also nicht in die Nähe einer göttlichen Schöpfungsordnung. Indem auf 1. Petrus 2 Bezug genommen wird, begründet und begrenzt Barmen V die Anerkennung jeglicher staatlicher Autorität in der Gottesfurcht. Es wird aber auch nicht unter Berufung auf Offenbarung 13 einer Haltung das Wort geredet, die dem Staat ein bloßes „ohne mich“ entgegenschleudert. Barmen V bestimmt den Staat von seiner Funktion her als eine „göttliche Anordnung“. Diese göttliche Anordnung hat einen Zweck, der in dem Votum der Evangelischen Kirche der Union zu Barmen V aus dem Jahr 1986 bündig auf die unüberholte Formel gebracht wird: „Für Recht und Frieden sorgen“.

3. Der Staat übt seine Aufgabe nicht im luftleeren Raum aus, sondern in der „noch nicht erlösten Welt“. Mir kommen zur Illustration immer wieder die beiden Reisen mit Mitgliedern des Rats der EKD während der letzten Jahre in den Sinn, die mich am allermeisten bedrückt haben. Das eine war die Reise in den Nahen Osten: Das „heilige Land“ – noch nicht erlöste Welt. Und das andere war der Sudan, wo uns das tägliche Leiden und Sterben von Menschen unausgesetzt dazu herausfordert, Wege zu finden, damit der Staat seine Funktion erfüllt: „für Recht und Frieden sorgen“ - gerade dort, wo die Welt in ihrer Unerlöstheit so besonders schrecklich deutlich wird. Denn nur da, wo dem Staat von allen Beteiligten das „Monopol legitimer physischer Gewaltsamkeit“ (Max Weber) zuzuerkannt wird, kann er das gebrochene Recht und den gestörten Frieden wiederherstellen. Ohne eine Einschränkung des Gewaltmonopols auf den Staat kann die Gewalt nicht eingedämmt werden.

4. Auch wenn die Kirche das rechte Handeln des Staates als Wohltat ankennen kann, so hat sie doch die Aufgabe, diesen Staat an seine Grenzen zu erinnern. An den nicht von ihr selbst, sondern von Gott gesetzten Maßstäben hat sie den Staat zu messen und sein Handeln zu prüfen. Wenn der Staat sich zum totalen Staat erklärt und unumschränkten Gehorsam fordert, sind Christen und Christinnen zum Widerstand dagegen nicht nur berechtigt, sondern sogar verpflichtet. Ernst Wolf hat aufgezeigt, warum es den Christen in Deutschland so schwer gefallen ist, dem nationalsozialistischen Staat zu widerstehen: „Eine Vergöttlichung des Staates und eine Verstaatlichung der Kirche in ihm, beides war eine nicht erst jetzt erdachte Möglichkeit, sondern gehört in wesentlichen Stücken zum Erbe der geschichtlichen Entwicklung des Protestantismus.“ Vor diesem Hintergrund muss die Erkenntnis von Barmen V ganz besonders gewürdigt werden.

5. Gerade wenn die Kirche theologisch vom Staat redet, hat dies unvermeidlich politische Konsequenzen. Dies wehrt jeglicher Zurückdrängung der Kirche in den bloß privaten Raum und ermuntert die Kirche dazu, ihr politisches Mandat wahrzunehmen. Gleichzeitig gilt aber auch, dass die Kirche ihren Zeugnisauftrag gegenüber dem Staat nur so lange wahrnehmen kann, als sie selbst vom Staat unterschieden bleibt und nicht versucht, sich staatliche Aufgaben anzueignen. Aber auch der Staat muss davor bewahrt werden, seine Grenzen zu überschreiten. Wo er dies auch heute tut und beispielsweise einen Anspruch auf die Definition von Werten und deren – alleinige – Vermittlung in der Schule erhebt, muss er auf seine weltanschauliche Neutralität ebenso erinnert werden wie an seine Pflicht, auch im öffentlichen Bereich den Entfaltungsraum der Religionsfreiheit zu sichern, also sich eine Haltung „fördernder Neutralität“ zu eigen zu machen. Damit sie nicht denken, ich rede über abstrakte Probleme, nenne ich die Einführung des Pflichtfachs LER in Brandenburg und – noch krasser – des Pflichtfachs Ethik ohne Abmeldemöglichkeit in Berlin.

 
IV.
Was heißt es nun, mit Barmen über Barmen hinauszugehen? Auch dafür fünf Hinweise in fünf Schritten.

1. Der Staat kann heute nicht mehr als gesellschaftsunabhängige Hoheitsmacht gedacht werden. Im Gegenteil: Der Staat ist eine politische Selbstorganisation der Gesellschaft. Das statische Modell des Gegenübers von Staat und Kirche, das Barmen V prägt, muss angesichts unseres mehrdimensionalen Bildes vom Staat erweitert werden. Die Vereinten Nationen, um ein Beispiel zu nennen, sollten als eine Form von „Staat“ anerkannt und unterstützt werden. Eine theologische Ethik des öffentlichen Bereichs muss dies ebenso in den Blick nehmen wie die ungleich größere Bedeutung, die man im Jahr 2007 im Vergleich zu 1934 der Gesellschaft einräumen muss.

2. Nach Barmen V besteht die Aufgabe des Staates darin, für Recht und Frieden zu sorgen. Das ist zwar richtig, aber nicht genug. So ist darüber hinaus auch die Aufgabe des modernen Sozialstaats zu nennen, seine Wohlfahrtsfunktion auszuüben. Das meint nicht den Vollverpflegungsstaat, der seinen Bürgerinnen und Bürgern jegliche Eigeninitiative abnimmt. Aber auch dort, wo nicht die Verteilungs-, sondern die Beteiligungsgerechtigkeit im Zentrum der Argumentation steht, entlässt man den Staat im sozialen Bereich nicht aus seiner Verantwortung. In der Denkschrift „Gerechte Teilhabe“, die der Rat der EKD im letzten Jahr veröffentlicht hat, wird die „Befähigung zu Eigenverantwortung und Solidarität“ deshalb als gesellschaftliche und staatliche Aufgabe betont.

3. Für Barmen V wie für die traditionelle politische Ethik des Protestantismus ist weithin eine Gleichgültigkeit gegenüber der Frage nach der politischen Form charakteristisch. Alle Überlegungen zur politischen Form sind in der knappen Formel von der “Verantwortung der Regierenden und der Regierten“ versteckt. Eine evangelische Ethik des Politischen muss nach der Weiterentwicklung politischer Institutionen und nach der Stärkung politischer Beteiligungsbereitschaft fragen. In der Demokratiedenkschrift von 1986 wie in der Gemeinsamen Erklärung „Demokratie braucht Tugenden“ haben wir Schritte in dieser Richtung unternommen.

4. Eine evangelische politische Ethik muss sich den Lebensmöglichkeiten künftiger Generationen zuwenden und dabei den Umgang mit den natürlichen Lebensbedingungen in den Blick nehmen. Ich halte in diesem Zusammenhang die drohende Klimakatastrophe für ein auch in unseren Kirchen noch sträflich vernachlässigtes Thema.

5. In Barmen V fehlt jeder Hinweis auf die Stellung des Individuums und auf seine Rechte. Es wird nichts gesagt zum einzelnen Menschen, seiner Menschenwürde und den daraus herzuleitenden Grundrechten. Unter den drei Leitbegriffen der neuzeitlichen Revolutionen – Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit – ist vor allem die Freiheit zu einem Schlüsselwort für das Selbstverständnis des modernen Menschen geworden. Freiheit ist aber ebenso ein Schlüsselwort des christlichen Glaubens, gerade in seinem evangelischen Verständnis. Es ist eine große Aufgabe, das in die Diskurse unserer Zeit einzubringen.


V.
Über die Rolle von Bekenntnissen hat Manfred Kock, für Nikolaus Schneider wie für mich ein unmittelbarer Vorgänger, einmal gesagt:: „Bekenntnisse haben für die evangelische Kirche eine hervorgehobene Bedeutung. Das Bekennen braucht den Dialog mit den Vätern und Müttern des Glaubens. Dabei ist das Bekennen nie abgeschlossen.“ Diese drei Sätze bewähren sich an der Barmer Theologischen Erklärung in besonderer Weise. Das gilt gerade für ihre fünfte These.