Rede zum Tag der deutschen Einheit

Wolfgang Huber

I.

Am Vorabend des 3. Oktober einen so festlichen Kreis zu versammeln und den zu diesem Abend eingeladenen Redner ausdrücklich aufzufordern, etwas zur deutschen Einheit zu sagen, erfreut mich nicht nur, sondern beeindruckt mich. Denn es ist in der Tat angebracht, im 3. Oktober 1990 nicht nur ein Datum unserer staatlichen Geschichte zu sehen, sondern den einschneidenden Wandel zu bedenken, den dieses Datum für unsere Gesellschaft im Ganzen, aber auch für viele unter uns persönlich bedeutet. Für mich selbst bekenne ich ohne jede Einschränkung, dass die Wende der Jahre 1989 und 1990 meine eigene Lebensgeschichte wie diejenige meiner Frau und unserer Familie tiefgreifend beeinflusst hat. Alle Wahrscheinlichkeit spricht dafür, dass wir uns ohne diese Wende heute nicht in Berlin, sondern, sagen wir, eher im idyllischen Heidelberg befänden. Doch selbst wenn in Berlin – wie anders wäre diese Stadt!

Immer wieder muss man sich in Erinnerung rufen, dass die Wende jener Jahre der tiefste Einschnitt in unsere nationale, aber eben auch in unsere persönliche Geschichte seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs gewesen ist – und zwar, das muss man ohne jede Einschränkung sagen, eine Wende zum Guten. Einer meiner in der DDR aufgewachsenen Freunde, die sich noch immer gelegentlich als „gelernte DDR-Bürger“ bezeichnen, hat diese Wende zum Guten gelegentlich so beschrieben: „Unsere Gebete wurden erhört, weit über unser Bitten und Verstehen hinaus.“ Denn es waren nur wenige – darauf werde ich noch zurückkommen – , die tatsächlich mit der deutschen Einheit rechneten oder gar den Zeitpunkt ihres Kommens realistisch voraussahen.

 Ich will nun allerdings heute Abend nicht allseits bekannte Richtigkeiten über die deutsche Einheit wiederholen, sondern einen sehr speziellen Blick auf diese Einheit werfen, einen Blick, der ganz und gar auf meine besondere Verantwortung bezogen ist. Ich will Sie für eine kurze Zeit dazu verlocken, sich die Perspektive der evangelischen Kirche auf diese Vorgänge zu Eigen zu machen, sich also auf einen evangelischen Blick auf die Teilung und die Wiedervereinigung unseres Landes einzulassen.

II.

Dazu veranlasst mich folgende Beobachtung. Über lange Jahre verstand sich die evangelische Kirche in einem herausgehobenen Sinn als ein Bürge und ein Sachwalter der deutschen Einheit. Man wird das ganz besonders am ersten evangelischen Bischof von Berlin-Brandenburg, Otto Dibelius, verdeutlichen können, der für einen großen Teil seiner Amtszeit zugleich Vorsitzender des Rats der Evangelischen Kirche in Deutschland war. So stark war die evangelische Kirche nach 1945 am Gedanken der deutschen Einheit orientiert, dass dieses Motiv für viele der entscheidende Einwand gegen die Einführung einer allgemeinen Wehrpflicht nur für den westlichen Teilstaat – die Bundesrepublik Deutschland – war. Viele in der evangelischen Kirche versuchten, der Entwicklung zu einer globalen Bipolarität mit entsprechenden Folgen für die Teilung des deutschen Volkes das Bekenntnis zur Einheit der deutschen Nation entgegenzusetzen und die Tür zur Wiederherstellung der politischen Einheit offenzuhalten. Otto Dibelius, ganz gewiss kein politischer Schwärmer und sogar durch eine Parteimitgliedschaft mit der CDU verbunden (für einen Bischof gewiss ungewöhnlich), schlug noch im Jahr 1952 vor, die beiden großen Kirchen sollten ihre Bereitschaft erklären, die Kontrolle gesamtdeutscher Wahlen zu übernehmen. Diese Erklärung wurde zwar auf katholischer Seite alsbald zurückgewiesen; auf evangelischer Seite dagegen fand sie weitgehende Zustimmung.

Es war dem in West-Berlin residierenden Bischof außerordentlich wichtig, dass seine Predigtstätte, die Marienkirche, im Ostteil der Stadt lag; St. Marien ist auch heute noch meine regelmäßige Predigtkirche. Unmittelbar nach dem Bau der Berliner Mauer hielt er – zwischen dem 28. August und dem 1. September 1961 – in der Kirche am Südstern eine Reihe von „Reden an eine gespaltene Stadt“, die von einer auch heute noch anrührenden Eindringlichkeit sind. Ausdrücklich berief er sich in der Veröffentlichung dieser Reden auf die außerordentliche Verantwortung der evangelischen Kirche für die Einheit Deutschlands: „Unsere evangelische Kirche hat immer versucht, sich dieser Entwicklung (nämlich der Aufspaltung Berlins, die vom Osten her gekommen sei) entgegenzuwerfen. Wir waren bis vor kurzem die einzige organisatorische Klammer zwischen Osten und Westen. Wir hatten eine Kirche. Gewiss, die Katholiken hatten auch eine Kirche; für sie ist Deutschland nur ein Glied in einer weltumspannenden Organisation. Wir haben eine deutsche evangelische Kirche! Wir haben es niemals als eine vornehmste Aufgabe der evangelischen Kirche betrachtet, dass sie Deutschland zusammenhalten sollte. Eine Kirche hat andere Aufgaben als die: ein Land zusammenzuhalten. Aber nachdem uns das einmal in den Schoß gefallen war – die einzigen noch, die West und Ost zusammenhalten! -, da haben wir das als ein Geschenk und eine Aufgabe von Gott in die Hand genommen und haben versucht, die Einheitlichkeit unserer Kirche und damit auch die Einheit unseres Volkes über ganz Deutschland hinweg zu exerzieren, so gut es eben ging.“

Man muss es pathetisch ausdrücken: So wie der Kirchentag in Leipzig 1954 mit weit über 500 000 Teilnehmern an der Schlussversammlung zu einer Demonstration des deutschen Einheitswillens wurde, so war im Jahr des Mauerbaus der 81jährige Berliner Bischof eine Symbolfigur des Aufbegehrens gegen die gewaltsame Teilung unserer Stadt und unseres Landes, einer derjenigen, die sich mit der aufgezwungenen Spaltung nicht abfanden.

Dafür, was die Mauer in Berlin bedeutete, gibt es heute nur noch wenige Orte des Gedenkens. Der für mich wichtigste ist die Gedenkstätte an der Bernauer Straße. Denn diese Straße erlangte im August 1961 durch den Bau der Berliner Mauer weltweit traurige Berühmtheit. Die Grenze teilte die gesamte Straße direkt entlang der Häuserfront. Die Gebäude gehörten zum Ostteil der Stadt – traten die Bewohner aus den Haustüren, standen sie im Westbezirk Wedding. Innerhalb weniger Wochen ließ die DDR-Regierung die Haustüren und Fenster zumauern. Auf die Bernauer Straße fiel fortan der Schatten der Mauer.

In den achtziger Jahren erregte die Bernauer Straße noch einmal die Aufmerksamkeit der Weltöffentlichkeit: Die in dieser Straße stehende Versöhnungskirche überragte mit ihrem roten Backsteinturm die Grenze des Kalten Krieges. Sie wurde am 22. Januar 1985 gesprengt. Das Bild des fallenden Kirchturms ging um die Welt.

Keine fünf Jahre später fiel die Berliner Mauer. Am 9. November 1989 endete die Absurdität einer geteilten Stadt; am 3.Oktober 1990 feierte unser Volk das Geschenk der Wiedervereinigung. Zehn Jahre nach dem Fall der Mauer konnte das Richtfest für die neue Versöhnungskapelle gefeiert werden; ein Jahr später wurde sie ein-geweiht – das geistliche Zentrum des Erinnerns an diesem Ort.

Die Evangelische Versöhnungskirchengemeinde an der Bernauer Straße trägt dazu bei, dass wir das Gedächtnis prägen, die Gewissen schärfen und die Zukunft miteinander gestalten. In der Versöhnungskapelle kann man neu verstehen, was das Neue Testament seit zwei Jahrtausenden in sich birgt - den Ruf Gottes, der an uns gerichtet ist: Ihr seid zur Freiheit berufen. Die Kapelle ist für mich das Zentrum der Gedenkstätte Berliner Mauer. Es rührt mich jedes Mal wieder an, dass die Gemeinde von ihrem Gemeindezentrum in der Bernauer Straße 111 in die Kapelle umgezogen ist, so dass das Gemeindezentrum selbst als Ort der Dokumentation über die Berliner Mauer genutzt werden kann. Ich wünsche sehr, dass das neue Gedenkstättenkonzept des Berliner Senats diesen Ort noch besser als bisher zur Geltung bringen wird.

III.

Noch an einen anderen Berliner Bischof will ich in diesem Zusammenhang erinnern. Bischof Kurt Scharf, den Nachfolger von Otto Dibelius, der ebenfalls zugleich Vorsitzender des Rats der Evangelischen Kirche in Deutschland war, muss ich erwähnen, weil er den Fall der Mauer und die Wiedervereinigung Deutschlands in einer Weise vorausgesagt hat, für die ich kein weiteres Beispiel kenne. Der Bischof wurde 1975 von einer besorgten Berlinerin gefragt, wann die deutsche Wiedervereinigung zu erwarten sei. Die damals 88-jährige Charlottenburgerin wollte der evangelischen Kirche Wertpapiere vererben. Sie befürchtete durch eine mögliche Wiedervereinigung mit der sozialistischen DDR Verluste. Sie schrieb deshalb: „Es wäre wohl ratsam, Herrn Bischof Scharf zu befragen, wann mit einer Wiedervereinigung zu rechnen ist. Ich bin halt der Meinung, die Papiere vorher zu verkaufen, denn bei einer Wiedervereinigung fallen vorerst die Papiere. Es ist doch so, dass man den erlös so hoch wie möglich erzielen will.“ Kurt Scharf wurde die Frage der alten Dame am nächsten Tag vorgelegt. Er zögerte nicht lange mit der Antwort und vermerkte noch am selben Tag, dem 23. April 1975, handschriftlich auf dem ihm vorgelegten Brief: "In 15 Jahren!" Aber er fügte hinzu: „Aber dann werden die Papiere steigen – wegen des erhöhten Wirtschaftspotentials!“

Vielleicht war die wirtschaftliche Prognose meines verehrten Vorvorgängers nicht ganz so präzise wie die politische. Aber die politische Prognose war erstaunlich. Da hat einer im Jahr 1975 die Wiedervereinigung für das Jahr 1990 vorausgesagt. Und wir feiern heute den Vorabend des Tags der deutschen Einheit.

Siebzehn Jahre liegt das zurück, mehr als eine halbe Generation. Gewiss ist es so, dass mehr Menschen sich genau daran erinnern, wo sie den 9. November 1989 zugebracht haben, als wo sie am 3. Oktober 1990 waren. Der Grund ist einfach: Die Nachricht von der Öffnung der Berliner Mauer traf uns überraschend; der Vollzug der Wiedervereinigung am 3. Oktober 1990 war vorher angekündigt. Aber das macht das zweite Datum nicht weniger wichtig als das erste. Und gegenüber dem 9. November behält der 3. Oktober dadurch eine herausragende Stellung, dass er die Vieldeutigkeit nicht teilt, die dem Datum des 9. November in der deutschen Geschichte anhaftet. Denn die Ausrufung der Republik 1918, der Marsch auf die Feldherrnhalle 1923, die Reichspogromnacht 1938 und die Öffnung der Mauer 1989 – all diese Daten fallen auf den einen Tag des 9. November. Das ist eine Fülle der Gesichter, die kaum zu bewältigen ist. Im Vergleich dazu hat der 3. Oktober eine bemerkenswerte Sonderstellung. Und damit meine ich nicht nur meine Freude darüber, dass der Geburtstag meiner Frau immer von einem Feiertag gefolgt wird.

Allerdings wird uns in diesem Jahr bewusst, dass diese Sonderstellung so unumschränkt doch nicht gilt. Denn in diesem Jahr feiern wir am 3. Oktober nicht nur den Tag der deutschen Einheit. Vielmehr wird an diesem Tag zugleich – noch einmal, wie man hinzufügen muss – an die Anfänge des Landes Brandenburg erinnert. Denn dieser wird aus guten Gründen auf das Jahr 1157 datiert. Der Askanier Albrecht der Bär eroberte damals von den Slawen die Nordmark und nahm Brandenburg an der Havel in Besitz. Der 11. Juni 1157 gilt dafür als das entscheidende Datum. Doch die erste Urkunde, in der Albrecht der Bär sich selbst als Markgraf von Brandenburg bezeichnet, datiert vom 3. Oktober 1157; deshalb erstrecken sich die brandenburgischen Jubiläumsfeierlichkeiten bis zum morgigen Tag – und dies mit vollem Recht. Ein solches ausgedehntes Erinnern, das auch den 3. Oktober einbezieht, ist schon deshalb berechtigt, weil es den Stolz eines neuen Bundeslands auf sein doch beachtliches Alter dokumentiert. Kein Zweifel: Manche der sogenannten alten Bundesländer bringen es – verglichen mit diesen 850 Jahren – doch nur auf ein vergleichsweise junges Alter von 60 oder gar – wie Baden-Württemberg – nur wenig mehr als fünfzig Jahren.

Doch kehren wir von dieser Seitenüberlegung wieder zu Kurt Scharfs Voraussage der Wiedervereinigung zurück. Auch wenn der Bischof deren Datum mit einer so erstaunlichen Präzision voraussagte: selbstverständlich war die Wiedervereinigung nicht. Und es war auch nicht selbstverständlich, dass sie ohne Gewalt kam. Dazu trugen vor allem die Oppositionsgruppen in Ostberlin, Leipzig und anderswo bei. Die „Umweltbibliothek“ in der Zionskirche war ein Beispiel dafür. Sie hatte mehr im Sinn als nur Umweltschutz. Die Lebensumwelt insgesamt war gemeint: Reisefreiheit, Meinungsfreiheit, Wahlfreiheit. Im Keller des Pfarrhauses wurden die Umweltblätter vervielfältigt. In ihnen konnte man nicht nur lesen, wie hoch die Schwermetallbelastung des Bodens war. Man erfuhr auch, wer ein-gesperrt wurde, weil er einen politischen Witz erzählt hatte.  Oder wer eines Ausreiseantrags wegen verhaftet worden war.

Solche Nachrichten waren in der DDR untersagt. Im November 1987 beschlagnahmte die Stasi in einer Nacht- und Nebel-Aktion die Geräte und nahm einige Bürgerrechtler fest. Heftiger Protest aus Ost und West führte bald zur Freilassung. Die Umweltbibliothek war in aller Munde.

Das war der Beginn der Wende. Wenn wir den „Tag der Deutschen Einheit“ feiern, denken wir an den Mut derer, die sich für die Veränderung des Landes eingesetzt haben. Wir denken auch an ihre Angst. In den Kirchengemeinden fanden sie Halt und Ermutigung.

Nun wird wieder Bilanz gezogen. In diesem Jahr fällt sie positiv aus. Die Staatsverschuldung wächst endlich nicht mehr. Die Arbeitslosigkeit ist geringer als seit vielen Jahren. An die Stelle von Zukunftsangst tritt wieder Zuversicht. Die Unterschiede zwischen Ost und West sind in vielem auch nicht größer als die zwischen Nord und Süd. Die Wiedervereinigung ist gelungen. Gott sei Dank.

Das bedeutet nicht, dass wir am Ende der Aufgabe angelangt sind. Bleibende Ungleichheiten der Lebensverhältnisse verschränken sich vielmehr nach wie vor mit unterschiedlichen Mentalitäten. Das spüren wir in den Kirchen besonders deutlich. Zu meiner eigenen Landeskirche gehören die dünn besiedelten Regionen der Uckermark und der Prignitz, die nach den Kriterien der OECD sogar als unbesiedelt gelten. Dass nur noch eine Minderheit der Bewohner der Kirche angehört, macht die Aufgaben, vor denen wir stehen, noch schwieriger. Das eigenständige Finanzaufkommen, das in solchen Regionen zu Stande kommt, ist und bleibt schwach. Kirchliche Arbeit in solchen Regionen lässt sich nur mit einem kräftigen Finanztransfer aus Berlin aufrechterhalten. Zugleich klagen die klein gewordenen Gemeinden darüber, sie würden zu wenig beachtet. Gewichtiger noch ist die kollektive Gottvergessenheit, die nach wie vor viele ostdeutsche Regionen prägt. Die Bereitschaft der Kirchen, unter der SED-Herrschaft zu bleiben und standzuhalten – „Kirche im Sozialismus“ war dafür die höchst zweideutige Formel – und die bewundernswerte Rolle von Kirchengemeinden und kirchlichen Gruppen in der Vorbereitung der Wende haben nichts daran geändert, dass Menschen durch die Jahrzehnte der DDR gehen konnten, ohne mit der Kirche je in Berührung zu kommen. Demgemäß sind sie bis zum heutigen Tag religiöse Analphabeten. Und der Umgang Berlins vor allem, aber auch die Lage in Brandenburg tragen dazu bei, dass dieser religiöse Analphabetismus sich in die nächste Generation vererbt. Nach wie vor liegen große Aufgaben vor uns.

IV.

Lassen Sie mich die deutsche Einheit noch von einer letzten Seite beleuchten. Im Sommer 2004 durfte ich Papst Johannes Paul II. in Castel Gandolfo aufsuchen. Das war ein halbes Jahr vor seinem Tod. Während des Gesprächs richtete er sich plötzlich, so schwer ihm jede Bewegung und auch das Sprechen fielen, in seinem Sessel auf, sah mich fragend an und sagte: „Sie kommen aus Berlin.“ Und dann nach einer Pause: „Brandenburger Tor.“ Es war klar, was er damit meinte. Für ihn war das Brandenburger Tor ohne Zweifel der wichtigste Ort in Berlin. Er erinnerte sich an seinen Besuch in unserer Stadt 1996 und an die Kundgebung aus diesem Anlass am Brandenburger Tor. Aber er hatte vor allem im Sinn: Diesen Ort hatte man gewählt, weil er das wichtigste Symbol für die Vereinigung nicht nur Berlins und Deutschlands, sondern des europäischen Kontinents ist. Und ihm war bewusst, was er selbst dazu beigetragen hatte – durch seine Ermutigung für seine polnischen Landsleute, die auf ihre Weise dem Mut der Menschen in der DDR vorausgegangen und ihm zur Seite getreten war.

Wir in Berlin haben an der Bedeutung des Brandenburger Tors keinen Zweifel. Es ist das wichtigste Symbol für die Einheit der Stadt, für die Einheit Deutschlands, für die Einheit Europas. Jahrzehntelang war es nach Westen durch die Mauer abgeschirmt. Wer es von Westen aus sehen wollte, musste dafür auf ein Podest steigen. Für Staatsgäste war das ein Pflichttermin. Das Tor war zum Symbol der Teilung geworden.

Deshalb wurde hier auch der Fall der Mauer besonders heftig gefeiert. Ich habe es selbst am 10. November 1989 erlebt – damals noch als Gast unserer Stadt. Nie werde ich das vergessen. Groß war der Jubel auch, als am 22. Dezember 1989 ein Grenzübergang geöffnet wurde und der Durchgang durch das Tor wieder möglich war. Der Jubel wiederholte sich erst recht, als am 3. Oktober 1990 die deutsche Einheit zu feiern war.

Keine andere Stadt in Deutschland verfügt über ein Symbol, das so stark den Wandel von der getrennten zur vereinten Nation anzeigt. Kein anderes Bauwerk verkörpert die siebzehn Jahre des Zusammenwachsens unserer Stadt und unseres Landes so wie dieses Tor. Das Brandenburger Tor gilt inzwischen als der zweitwichtigste Ort in unserem Land. Zwischen dem Kölner Dom und der Schlosskirche in Wittenberg wurde es bei einem entsprechenden Wettbewerb platziert.

Doch der Jubel, wie ihn viele von uns am Brandenburger Tor erlebt haben, ist nicht ungebrochen. Viele kleiden ihre Erinnerung an die Jahre der Einheit in den Ton der Klage. Dabei besteht kein Grund dazu, der Klage das letzte Wort zu lassen. Vielmehr besteht viel Grund zur Dankbarkeit.

Einen Wandel im Frieden haben wir erlebt. Jeder kann seine Meinung frei äußern. Unser Land hat eine anerkannte Stellung in der Welt und nimmt seine internationale Verantwortung wahr. Deutsche aus Ost und West haben in großer Zahl im jeweils anderen Teil eine neue Heimat gefunden. Auf dieser Grundlage könnten wir auch mit immer wieder anstehenden Schwierigkeiten selbstbewusster umgehen. Wir sollten nicht die eigene Lage madig machen; wir sollten nach dem besten Weg Ausschau halten.

So wichtig freilich das Brandenburger Tor als Symbol ist, so wichtig ist es auch, dass der Dank für die Einheit in Freiheit auf andere Weise symbolischen Ausdruck findet. Das kann ein weiteres Denkmal für Einheit und Freiheit sein; aber auch andere Wege sind denkbar. Für mich bildet insbesondere die Frauenkirche in Dresden schon jetzt ein solches Denkmal; mit ihm verbindet sich eine europäische Perspektive; es symbolisiert die Versöhnung, die in Europa möglich wurde. Kein Zweifel kann im übrigen daran bestehen, dass die Arbeit für die Demokratie und die in ihr benötigten Tugenden der wichtigste Beitrag zur Einheit in Freiheit ist.

Aber auch das andere sollte man bedenken: Die Leiden und Nöte von Menschen in der Zeit der DDR sollten nicht zugedeckt oder vergessen werden. Der Erfolg entsprechender Filme – sei das „Das Leben der anderen“ oder „Die Frau vom Checkpoint Charlie„ – zeigt, wie groß das Bedürfnis und die Chance dazu sind, die Erinnerung an dunkle Erfahrungen und persönliche Bedrängnis lebendig zu halten. Am allerwichtigsten dafür ist das persönliche Gespräch. Ans Ziel gekommen ist die Einheit erst dann, wenn dieses Gespräch zwischen Ost und West selbstverständlich geworden ist, noch selbstverständlicher als heute. Denn auch heute (und damit will ich schließen) gilt die Einsicht Melanchthons, dass wir zum Gespräch geboren sind.