"Die Bedeutung christlicher Werte für die Zukunft der Gesellschaft" - Rede beim Jahresempfang des Evangelischen Arbeitskreises der CSU in München

Wolfgang Huber

I.

Es ist ein besonderes Zusammentreffen, dass der Vorsitzende des Rates der Evangelischen Kirche in Deutschland beim Evangelischen Arbeitskreis der CSU das Wort nehmen darf – und dies neun Tage, nachdem zum ersten Mal ein evangelischer Christ zum Ministerpräsidenten des Freistaats Bayern gewählt wurde. Ich hatte gestern abend bereits beim Länderspiel Deutschland gegen Tschechien in der Allianz-Arena die Möglichkeit, Günther Beckstein die herzlichen Segenswünsche der Evangelischen Kirche in Deutschland auszusprechen; ich wiederhole das an diesem Ort aufs herzlichste und beziehe in die guten Wünsche den ganzen Evangelischen Arbeitskreis der CSU mit ein.

Es ist auch ein besonderes Zusammentreffen, dass ich über die Bedeutung christlicher Werte für die Zukunft unserer Gesellschaft in einer Woche spreche, in der die zehn Gebote plötzlich in aller Münde sind. Dafür hat allerdings in diesem Fall nicht die CDU/CSU gesorgt, sondern ihr Koalitionspartner. Deren Auseinandersetzung darüber, ob Änderungen an der Agenda 2010 erlaubt seien, hat den früheren Bundeskanzler Gerhard Schröder zu der Bemerkung veranlasst, es handle sich bei der Agenda 2010 nicht um die zehn Gebote, also seien Änderungen erlaubt. Er fügte sogar hinzu, niemand, der an der Agenda 2010 mitgearbeitet habe, solle sich als Moses begreifen. Er sei es nämlich nicht.

Unsere deutschen Zeitungen, auch soweit sie in München erscheinen, hat das wieder einmal dazu gebracht, den Beweis dafür anzutreten, dass sie zwischen „alttestamentlich“ und „alttestamentarisch“ nicht unterscheiden können. Denn da hat nicht etwa der ehemaligen Bundeskanzler mit einem alten Testament jemand anderem etwas vermacht; sondern er hat sich auf einen Zusammenhang aus dem Alten Testament, also auf etwas „Alttestamentliches“ berufen. Er hat also den Vizekanzler nicht etwa „alttestamentarisch verhohnepipelt“, sondern er hat ihn, wenn man sich denn schon so ausdrücken will, „alttestamentlich verhohnepipelt“. Wenn man es so ausdrückt, wird übrigens auch viel klarer, warum man so etwas nicht machen soll.

Doch dieselbe Zeitung, das sei zu ihrer Ehrenrettung hinzugefügt, hat diese Debatte dazu benutz, ihre Leserinnen und Leser heute darüber zu informieren, wer Mose war, und damit der Äußerung von Franz Müntefering, Mose sei „ein ganz toller Typ“ gewesen, noch einige sachdienliche Hinweise angefügt: die zentrale Figur des Pentateuch, also der fünf Bücher Mose, der nach der Offenbarung des Gottesnamens im Dornbusch von Gott den Auftrag erhält, die Israeliten aus der ägyptischen Knechtschaft zu führen. Eben dieser Führer in die Freiheit erhält den Auftrag, dem Volk Israel die zehn Gebote zu übermitteln.

Diese zehn Gebote ziehen wieder Aufmerksamkeit auf sich. Nicht nur das deutsche Hygienemuseum hat ihnen eine Vortragsreihe gewidmet. Theaterprogramme werden an ihnen orientiert, auch hier in München, Ausstellungen ihnen gewidmet. Eine neue Serie der Fernseh-Talkrunde Tacheles widmet sich vom kommenden Samstag an den zehn Geboten. Junge Leute werden in einem solchen Zusammenhang gefragt, welche Gebote ihnen die wichtigsten seien: „Du sollst nicht töten“ heißt die Antwort. Und: „Du sollst Vater und Mutter ehren.“ Und welche Gebote hinzugefügt werden sollen, werden die jungen Leute auch gefragt. Sie antworten: „Du sollst die Kinder achten.“ Und: „Du sollst die Umwelt für Deine Nachkommen bewahren.“ Eindrucksvoll antwortet auch die Agnostikern Thea Dorn: „Du sollst deine Lebenszeit nicht nutzlos verbringen.“ Und weniger ernsthaft, aber auch des Nachdenkens wert, der verstorbene Dichter Robert Gernhardt: „Du sollst nicht lärmen.“

Kaum einem fällt in solchen Zusammenhängen übrigens auf, dass die zehn Gebote mit keiner der so oft zitierten Aufforderungen beginnen. Sie beginnen überhaupt nicht mit einer Aufforderung. Ihr erster Satz heißt: „Ich bin der Herr, dein Gott, der ich dich aus Ägyptenland, aus der Knechtschaft, geführt habe. Dann kommt erst die erste Aufforderung, das erste Gebot: „Du sollst keine anderen Götter haben neben mir.“ So wie die Einleitung unterschätzt wird: die Zusage der Freiheit, so wird auch das erste Gebot unterschätzt: die Wegweisung der Freiheit. Dabei ist auch sie von kaum zu überschätzender Aktualität. Zu offenkundig ist, dass wir in der Gefahr stehen, uns neuen Göttern zu unterwerfen, so oft wir auch die Behauptung wiederholen, wir lebten in einer säkularen Gesellschaft. Die Götter des Erfolgs, der Selbstverwirklichung, der Eigenverantwortung, die Neigung dazu, wirtschaftliche Maßstäbe über alles und jedes herrschen zu lassen, beispielsweise auch über den Sonntag, all das zeigt, mit welcher Art von Götzendienst wir uns heute auseinanderzusetzen haben. Dass Menschen auch in Zeiten der Globalisierung noch den Sinn für Proportion behalten, versteht sich keineswegs von selbst. Jesu berühmtes Zinsgroschenwort muss heute wohl so aufgenommen werden, dass man freimütig sagt: „Gebt der Wirtschaft, was der Wirtschaft ist, und Gott, was Gottes ist.“ Das ist übrigens ein Grundsatz, dessen Befolgung der Wirtschaft selbst keineswegs zum Schaden gereichen würde.

Es gehört auch zu den Auswirkungen der Globalisierung, dass wir solche Fragen in einer Situation erörtern, die durch religiöse Pluralität gekennzeichnet ist. Es ist ja wahr: Nach der Bedeutung christlicher Werte für die Zukunft unserer Gesellschaft fragen wir auch deshalb mit neuem Nachdruck, weil andere, nämlich islamische Werte in unserer Gesellschaft verstärkt Geltung beanspruchen. Welche Haltung nehmen wir zu dieser Entwicklung ein? Wie zeigen wir den Respekt vor der Religionsfreiheit auch Andersgläubiger in überzeugender Weise und bezeugen doch zugleich den Respekt gegenüber der Prägekraft des christlichen Glaubens für Gegenwart und Zukunft? Wie praktizieren wir Toleranz ohne falsche Unterwürfigkeit? Diese Frage ist von offenkundiger Aktualität.

Ein kundiger und aufmerksamer Beobachter, der ZEIT-Redakteur Jörg Lau, hat in diesen Tagen die Diskussionslage in Deutschland folgendermaßen charakterisiert – und ich zitiere wörtlich: „Unter den Kirchen in Deutschland scheint sich beim Dialog mit den Muslimen eine Art Arbeitsteilung herauszuschälen. Die katholische Kirche setzt eher auf eine Strategie der Umarmung  - unterbrochen von gelegentlichen Ausbrüchen wie der Regensburger Rede des Papstes, Kardinal Lehmanns Zweifeln an der Anerkennungsreife der Islamischen Verbände und Kardinal Meisners Absage an  interreligiöse Feiern. Die evangelische Kirche hingegen hat den Part der konsistenten inhaltlichen Auseinandersetzung gewählt, auch um den Preis des lieben Dialogfriedens. Das ist in ihrem Papier “Klarheit und gute Nachbarschaft” deutlich geworden.“

Der Anlass für Jörg Laus Bemerkung ist eine neu aufgeflammte Debatte über Moscheebauten, zu der ich Anfang der Woche beigetragen habe, indem ich Überlegungen noch einmal aufgriff, die ich in meinem Buch „Position beziehen. Das Ende der Beliebigkeit“ vorgetragen habe. Dabei habe ich an die Beobachtung angeknüpft, dass gegenwärtig mehr Moscheen neu gebaut werden, als bisher in Deutschland existieren. Nach Angaben des Islamarchivs in Soest sind in Deutschland zurzeit 184 Moscheen im Bau oder in Planung. Bereits genutzt werden 159 Moscheen. Dabei handelt es sich um „klassische Moscheen“, die durch Kuppeln oder Minarette auch von außen erkennbar sind. Dazu kommen etwa 2600 Gebets- und Versammlungshäuser und außerdem Schulmoscheen und islamische Gebetsstätten.

Meine Überlegungen zu dieser Entwicklung gehen davon aus, dass Religionsfreiheit immer auch die Freiheit des Andersgläubigen ist. Wir können zwar darauf hinweisen, dass auch die Diskussion über Moscheebauten in Deutschland davon profitieren würde, wenn Christen in Saudi-Arabien neue Kirchen bauen könnten und wenn die Religionsfreiheit auch für christliche Gemeinden in der Türkei gewährleistet wäre, statt dass das Christentum in der Region um seine Existenz fürchten müsste, in die der Apostel Paulus einige seiner wichtigsten Briefe schrieb. Trotzdem gilt ebenso: Wir selbst können unser Verständnis von Freiheit nicht davon abhängig machen, ob sie in anderen Ländern gewährt wird oder nicht. Das schließt natürlich auch den Bau von Moscheen hierzulande ein. Ich halte es in diesem Zusammenhang für besser, Muslime bewegen sich in ihren Moscheen als in irgendwelchen Hinterhöfen.

Allerdings tragen auch die Angehörigen anderer Religionen eine Mitverantwortung für die Wahrung von Religionsfreiheit und Toleranz. Wer sich auf die Religionsfreiheit beruft, muss auch die anderen Aussagen unserer Verfassung akzeptieren. Die Gleichbehandlung von Mann und Frau gehört ebenso dazu wie die Freiheit, die Religion zu wechseln. Keine Religion kann Gewalt rechtfertigen.

Doch nachdem all dies klargestellt ist, muss auch die Frage erlaubt sein, was es sich mit der offenbar groß angelegten Moscheebau-Initiative in unserem Land auf sich hat. Deshalb wiederhole ich auch hier die Frage, inwieweit es sich dabei um die legitime Befriedigung religiöser Bedürfnisse handelt oder ob weitergehende Machtansprüche damit verbunden sind. Muslimische Verbände wären gut beraten, mit Fragen dieser Art offen umzugehen, statt sie pauschal zurückzuweisen, wie es in dieser Woche erneut geschehen ist.

Was wir in diesem Land brauchen, ist nach meiner Überzeugung ein wirklich standhafter und prinzipienfester Dialog mit dem Islam. Er geht davon aus, dass unsere muslimischen Mitbürgerinnen und Mitbürger keineswegs von vornherein aus unserer Werte- und Verfassungswelt herausdefiniert werden. Vielmehr müssen wir versuchen, sie in die Mitverantwortung für Religionsfreiheit und Toleranz hineinziehen. Aber dazu gehört auch die Bereitschaft, Machtansprüche in Frage stellen, ohne unsere freiheitlichen Prinzipien aufzugeben. Ich bin froh darüber, dass dieser Ansatz auch in der Öffentlichkeit verstanden wird. Dass er zugleich lebhafte Kontroversen auslöst, versteht sich von selbst. Und wenn die Frage gestellt wird, ob die Position der Evangelischen Kirche in Deutschland in solchen Fragen sich weiterentwickelt hat, frage ich zurück, wem wohl damit gedient wäre, wenn wir in derart wichtigen Fragen nicht dazu lernen würden. Die Evangelische Kirche jedenfalls versteht sich, wenn ich das einmal ganz weltlich ausdrücken darf, als ein lernendes System. Und wenn ich es geistlich sagen darf: Sie vertraut auf den Heiligen Geist. Und der hat es ja bekanntlich damit zu tun, dass er nicht nur weht, wo und wann er will, sondern dass er bei diesem Wehen auch Neues bringt.

II.

Diese Beispiele mögen genügen, um deutlich zu machen: Die Diskussion über christliche Werte und ihre Bedeutung für die Zukunft unserer Gesellschaft rückt wieder ins Zentrum der Aufmerksamkeit. Nun ist allerdings bei dieser Debatte auch Vorsicht geboten. Denn der christliche Glaube erschöpft sich nicht in Werten. In polemischer Zuspitzung hat der Theologe Eberhard Jüngel sogar das Evangelium einmal als eine „wert-lose Wahrheit“ bezeichnet. Die christlichen Kirchen und die christliche Theologie bilden keine „Bundesagentur für Werte“; ihr Auftrag erschöpft sich nicht darin, Werte bereitzustellen und dadurch für das Schmieröl des gesellschaftlichen Motors zu sorgen. Was sie zu sagen haben, muss vielmehr in bestimmten Fällen eher wie der Sand im Getriebe wirken. Denn die Wahrheit, für die sie eintreten, richtet sich nicht nach gesellschaftlichen Bedürfnissen und fügt sich nicht ins politische Machtkalkül. Diese Wahrheit bezieht sich nämlich darauf, dass Gott sich in einem Menschen offenbart, der den Mächtigen ein Ärgernis ist, sich dem gewohnten Tempelkult verweigert und sich den Niedrigen helfend zuwendet. Dass Gott in ihm sein menschliches Antlitz zeigt, ist so befremdlich, dass der natürliche religiöse Instinkt immer wieder dazu neigt, den Glauben an Gott haben zu wollen, ohne dafür auf den Gekreuzigten schauen zu müssen.

Doch auch aus dieser radikalen, an Jesus Christus als dem gekreuzigten und auferstandenen Herrrn orientierten Haltung heraus tragen die christlichen Kirchen und die christliche Theologie zugleich auf eine bestimmte Weise zu den die Gesellschaft prägenden Vorstellungen und den daraus abgeleiteten ethischen Maßstäben. Dabei wissen sie sich in eine Hoffnungsperspektive hineingestellt, die sich am kürzesten in den Worten erfassen lässt, mit denen die biblische Erzählung von der Sintflut schließt: „So lange die Erde steht, soll nicht aufhören Saat und Ernte, Frost und Hitze, Sommer und Winter, Tag und Nacht“ (1. Mose 8, 22).

Diese Bundeszusage Gottes, von der die alttestamentliche Sintflutgeschichte berichtet, hat sich bewährt. Die Sintflutangst, wie sie sich vor dem Jahr 1524 noch einmal in Europa ausgebreitet hat, weil ein angesehener Astrologe eine entsprechende Konstellation vorausgesagt hatte, gehört der Vergangenheit an. Saat und Ernte, Frost und Hitze, Sommer und Winter, Tag und Nacht bestimmen bei aller technischen Weiterentwicklung bis heute unseren Lebensrhythmus. Die Kenntnis dieses sich Jahr für Jahr neu entwickelnden Zyklus ist die Grundlage nicht nur für wirtschaftlichen Erfolg, sondern auch für unsere Ernährung. Und gleichzeitig erleben wir immer stärker, dass dieser Rhythmus zwar im Großen beständig, im Detail aber sehr gefährdet ist. Er wird von Menschenhand beeinflusst und verändert. Genau in dieser Hinsicht verwandeln sich die Errungenschaften der modernen Wissenschaft in Gefährdungen, wenn beispielsweise durch die Emission von Treibhausgasen die Klimaerwärmung forciert oder durch die Begradigung von Wasserläufen die Hochwassergefahr erhöht wird. Wir spüren, dass der kurzfristige Vorteil nicht dafür bürgt, dass unser Handeln langfristig verantwortbar ist.

III.

Das Wissen, dass die Verantwortung für unser Handeln dessen langfristige Folgen einschließt, ist in der Land- wie in der Forstwirtschaft seit Jahrhunderten fest verankert. Das heute so beliebte Wort „Nachhaltigkeit“ ist zuerst überhaupt für die Forstwirtschaft geprägt worden. Sie musste nämlich auf den guten Altersaufbau eines Waldes achten, wenn ein langfristiger Ertrag gesichert werden sollte. Hier wurde zunächst die Vorstellung von einem Generationenvertrag geprägt, dem zufolge wirtschaftlich effektives Handeln sich nicht nur am eigenen Vorteil, sondern auch am Nutzen für die nächste Generation ausrichtet. Heute sehen wir – zumindest ansatzweise – ein, dass zukunftsfähiges Handeln sich an solchen Grundsätzen der Nachhaltigkeit und des Generationenvertrags ausrichten muss. Dass diese Art von Verantwortung für unsere Zukunftsfähigkeit, für die Bildung tragender Werte, für die Nachhaltigkeit unseres Lebens und Wirtschaftens von entscheidender Bedeutung ist.

Doch selbstverständlich sind solche Einsichten nicht. Meistens beschränkt man die Anwendung dieser Konzeption auf den Bereich der Ökologie. Doch so wichtig dieser Bereich ist, so wichtig ist es, dass wir neben der ökologischen und der ökonomischen auch die soziale und kulturelle Nachhaltigkeit im Blick haben. Ob unsere Gesellschaft zukunftsfähig ist, entscheidet sich nicht nur daran, ob wir mit den natürlichen Ressourcen verantwortlich umgehen und unsere Wirtschaft leistungs- und wettbewerbsfähig erhalten. Es entscheidet sich ebenso daran, ob wir die Institutionen des sozialen Zusammenlebens pfleglich behandeln, ob wir unsere kulturelle Identität bewusst bewahren und weiterentwickeln, ja, ob es uns gelingt, ein Bild von der Zukunft unserer Gesellschaft zu entwerfen. Sonst könnte es sein, dass wir wichtige Elemente des sozialen Zusammenhalts und des kulturellen Erbes innerhalb kurzer Zeit verspielen, ohne dass irgendein tragfähiger Ersatz dafür in Aussicht steht.

Das Schlüsselthema, an dem sich für mich eine solche umfassendere Betrachtung von Nachhaltigkeit entscheidet, ist das Thema der Familie. Der demographische Wandel, den wir erleben, nötigt uns dazu, den ursprünglichen Sinn des vierten Gebots wieder zu erkennen: „Du sollst Vater und Mutter ehren“. Im ursprünglichen Sinn des Gebots sind damit die alt gewordenen Eltern von Erwachsenen gemeint, die auf Ehre und Fürsorge in besonderer Weise angewiesen sind. Doch wir sollten bedenken, dass Dankbarkeit und Fürsorge in gleicher Weise auch aufgebracht werden sollten, wo es um die Gabe des Lebens, das Geschenk des Geborenwerdens, das Aufwachsen von Kindern geht. Das wir an dieser Stelle zu einem Paradigmenwechsel kommen, ist in meinen Augen eine der dringlichsten Aufgaben unserer Zeit.

Auch am Beispiel des Sonntags lässt sich erläutern, was ich meine. Auch nach der Föderalismusreform steht der Umgang mit ihm unter dem Verfassungsgebot, den Sonntag und die staatlich anerkannten Feiertage „als Tage der Arbeitsruhe und der seelischen Erhebung“ zu achten. Durch die Steigerung der Zahl der verkaufsoffenen Sonntage, die besonders Kluge dann noch mit einer „Bäderregelung“ verbinden, wird dieses Verfassungsgebot in manchen Bundesländern Schritt für Schritt ausgehöhlt. Die beiden Kirchen haben sich deshalb  dazu entschlossen, in dieser Frage das Bundesverfassungsgericht anzurufen.

Denn der besondere Schutz des Sonntags wird durch solche Entwicklungen in sein Gegenteil verkehrt. Ein solches Vorhaben nimmt den Menschen nur noch als Konsumenten wahr. Der Eindruck drängt sich auf, dass die Pflicht zum Schutz des Sonntags, die sich aus den entsprechenden Verfassungsbestimmungen ergibt, bei solchen Vorhaben überhaupt nicht im Bewusstsein ist. Wer die Wertebasis des gesellschaftlichen Zusammenlebens stärken will, muss sorgsam mit den Institutionen der Sozialkultur umgehen.

Die christlichen Kirchen bringen in diese Diskussion das christliche Menschenbild ein. Wir sagen deutlich: Der Sonntag ist als Tag des Gottesdienstes, der Muße und der Besinnung zu erhalten. „Ohne Sonntag gibt es nur noch Werktage“ – dieser Satz, den wir als evangelische Kirche vor wenigen Jahren in einer öffentlichen Kampagne vertreten haben, gilt auch heute. In diesen Wochen nehmen wir die Sonntags-Kampagne wieder neu auf: „Gott sei Dank, es ist Sonntag.“ Mit diesem Satz sprechen wir eine noch deutlichere Sprache – und weisen ausdrücklich darauf hin, wem der „Tag des Herrn“ gewidmet ist – oder doch gewidmet sein sollte. „Du sollst den Feiertag heiligen.“ Es geht in der Diskussion um den Sonntagsschutz um die Bewahrung einer wichtigen sozialen Institution, um die kulturelle Qualität des Zusammenlebens, um den Raum für die Freiheit der Religion. Dabei muss man betonen, dass eine Aushöhlung des Sonntagsschutzes, wie dies Bundesverfassungsrichter Udo di Fabio deutlich gemacht hat, keineswegs der Religionsneutralität des Staates entspricht. Sondern ein solches Verhalten bevorzugt eine religionslose, ja atheistische Einstellung. Das ist gerade kein Ausdruck von Religionsneutralität, sondern von religiöser Parteinahme, wenn auch in antireligiöser Absicht.

Es ging und es geht uns als evangelischer Kirche um Nachhaltigkeit und um einen christlich geprägten Wert, den ich für die Zukunft unserer Gesellschaft für ein unerlässliches Gut halte. Wir wollen nicht zulassen, dass das Menschenbild in unserer Gesellschaft auf Konsumentengröße gestutzt wird. Der Sonntag ist ein Symbol für die Würde und die Freiheit, die dem Menschen von Gott aus zukommt und durch die das Bild des Menschen in unserer Gesellschaft grundsätzlich geprägt ist. Ich wünschte, unsere Gesellschaft insgesamt könnte den Sonntag mit den Worten begrüßen: „Gott sei Dank, es ist Sonntag!“

IV.

Mit den beiden Stichworten der Freiheit und der Würde will ich zum Schluss den Horizont angedeutet, in dem ich die Bedeutung christlicher Werte für die Zukunft der Gesellschaft beschreiben möchte. Aber vorher trete ich noch einmal von den drängenden gesellschaftlichen Herausforderungen zurück und frage mich: Was ist eigentlich der Beitrag einer christlichen Gemeinde, der von niemand anders erbracht werden kann? Was tun Christen, das andere nicht genauso tun könnten? Wenn ich so frage, stoße ich auf die Antwort: Von allen anderen Gemeinschaften unterscheidet die christliche Gemeinde sich dadurch, dass sie Gottesdienst feiert. Von der Lebensgestaltung anderer Menschen unterscheidet sich die Lebensgestaltung von Christen zu allererst dadurch, dass sie beten. Der wichtigste Beitrag christlicher Kirchen für die Zukunft der Gesellschaft ist – aus dieser Perspektive betrachtet – das Gebet.

Die christlichen Kirchen entdecken ihren Auftrag neu, dass sie Räume für die Begegnung mit dem Heiligen und Anlässe zur Vergewisserung im Gebet schaffen. Das gehört zu ihrem Auftrag in einer Gesellschaft, die das Beten verlernt hat und es immer wieder neu lernen muss. Viele sind ungeübt in der Sprache des Gebets, die so einfach ist, weil sie aus dem Herzen kommt, und doch so schwer, weil das Gebet im Vertrauen auf Gott seinen Grund hat. Vorgegebene Gebete wie die Psalmen und das Vaterunser sind eine große Hilfe dabei, sein Herz vor Gott auszuschütten. Doch auch das Nutzen dieser Formen will geübt und gelernt werden. Glaubende sind neu gefordert, Lehrer des Betens zu werden.

Der Beter weiß um die Grenze, die allem menschlichen Tun und Wollen gesetzt ist. Er weiß zugleich, dass sein Leben auf Voraussetzungen beruht, die es sich nicht selbst geben konnte, und dass es deshalb auch über die jedem menschlichen Leben gesetzten Grenzen hinausweist. Beten macht verantwortlich; es stimmt in die Aufgabe ein, Verantwortung für das Geschehen um mich herum zu übernehmen.

Das ist der entscheidende Hintergrund auch für die Frage, was die reformatorische Tradition in die Prägung unserer Gesellschaft einbringt. Wenn man so fragt, wird man sicher zweierlei hervorzuheben haben: Die Unantastbarkeit der Menschenwürde und die reformatorische Entdeckung der Freiheit. Beide führen das Individuum über sich hinaus, verbinden es mit dem Nächsten und mit einem größeren Ganzen, mit Gott selbst. Ebenso, wie es heute notwendig ist, die Verankerung des Menschenwürdeprinzips im christlichen Glauben neu ins Bewusstsein zu heben, ist es heute auch angezeigt, den Freiheitsgedanken in seiner reformatorischen Prägung neu zur Sprache zu bringen.

Heute geht es darum, Menschen, die sich ihrer Freiheit bewusst sind, neu dafür zu gewinnen, dass sie Bindungen eingehen und darin den Sinn ihrer Freiheit erkennen. Heute geht es darum, Menschen, die von ihrer Mündigkeit auch in Glaubensfragen überzeugt sind, zugleich davon zu überzeugen, dass diese Mündigkeit gerade in der Gemeinschaft der Kirche einen Wurzelgrund findet.

Die besondere Aufgabe der evangelischen Kirche besteht deshalb heute darin, eine Kirche der Freiheit zu sein. Sie bietet Menschen eine Glaubensheimat, die sich dazu gerufen wissen, von ihrem Glauben selbst Rechenschaft abzulegen und ihn in der Gemeinschaft mit anderen aus verantworteter Freiheit zu leben.

Das nötigt sie aber auch zum Widerspruch überall dort, wo Menschen diskriminiert werden, wo ihre Würde missachtet und ihre Freiheit geleugnet wird. Nach wie vor sind es die immer wieder aufflammenden Beispiele von Antisemitismus und von Rassismus, von menschenverachtender Feindseligkeit gegen einzelne Fremde oder für fremd Gehaltene wie gegen ganze Gruppen, die unseren Protest nötig machen.

Aber es gibt auch andere Themen, die heute in den Horizont der Freiheit rücken. Die Frage, ob die Selbstbestimmung des Menschen auch die Bestimmung über den eigenen Tod einschließt, ist ein deutliches Beispiel dafür. Die Stimmen werden lauter, die in bestimmten Situationen ein Recht auf die ärztliche Beihilfe zum Suizid oder sogar auf eine Tötung auf Verlangen durch den Arzt einfordern. Das sind die Handlungsweisen, die oft unscharf unter dem Begriff der „aktiven Sterbehilfe“ zusammengefasst werden. Wer im Bewusstsein hat, dass die Freiheit des Menschen geschenkte und endliche Freiheit ist – also nicht selbst geschaffene und unbegrenzte Freiheit – , der wird auch daran festhalten, dass der Tod des Menschen etwas Unverfügbares behält. Auf den Tod müssen wir warten, wir dürfen ihn nicht herbeiführen. Das Sterben hat seine Zeit; deshalb gibt es keine Pflicht, ja nicht einmal ein Recht zur Lebensverlängerung um jeden Preis. Aber das Sterben darf nicht willkürlich herbeigeführt werden – auch nicht durch eine Patientenverfügung, die Bedingungen dafür angibt, wann der Arzt von seiner Fürsorgepflicht für das Leben befreit ist. Wo es um die Grenzen der menschlichen Existenz, um Leben und Sterben geht, stellen sich Wertfragen in einer besonders fundamentalen Weise. Weil sich solche Fragen heute verstärkt stellen, kündigt sich die Wendung zu einem neuen Wertebewusstsein an. Das Ende der Beliebigkeit kündigt sich an. Wir sollten als Christen unsere Stimme beherzt einbringen. Sie wird gebraucht.