„Identität und Religion. Gibt es ein zweites Leben?“ – Impulsreferat bei der 19. Bamberger Hegelwoche

Wolfgang Huber

I.

„Wünsch mir im Himmel einen Platz / (auch wenn die Balken brächen) / bei Bellman, Benn und Ringelnatz / und wünschte, dass sie e i n e n Satz / in e i n e m Atem sprächen: / nimm Platz!“

Von dem Anfang dieser Woche verstorbenen Peter Rühmkorf stammen diese Zeilen. Sie dienen nicht nur der ein „paar Schaufelwürfe vorm Grab“ vorgetragenen Bitte um die „Aufnahme in die literarische Ahnengalerie“, sondern führen zugleich auf direktem Weg in die der 19. Bamberger Hegelwoche zugrunde liegenden Frage: „Gibt es ein zweites Leben?“

Peter Rühmkorf hat die Szene im Himmel in der ihm eigenen Weise weiter ausgestaltet. Diesen Platz im Himmel wünscht er sich, weil er dann endlich mit Ringelnatz Skat spielen könnte.

Zielt die Rede von einem zweiten Leben auf einen Zeitraum, in dem Menschen, die zu ungleichen Zeiten lebten, endlich miteinander Skat spielen können? Wird in einem zweiten Leben kompensiert, was sich in diesem Leben nicht verwirklichen ließ? Gibt es verschiedene Leben in einem zeitlichen Nacheinander?

II.

Im Rahmen dieser Hegelwoche hat die Frage nach einem zweiten Leben einen anderen Sinn. Die Überschrift „Second Life. Avatare. Cyberwelt“ verweist nicht auf ein anderes künftiges Leben, sondern auf eine Art paralleler Biographie. Das „Second Life“ steht als Synonym für die Konzeption eines zweiten Lebens im zeitlichen Nebeneinander. In ihm kommt zugleich der Traum von einer neuen Identität zum Ausdruck, von einem neuen Leben, einem Neubeginn. Diesen Versuch gibt es nicht erst, seit die elektronischen Medien uns in virtuelle Welten versetzen.

Hinlänglich bekannt ist die Bezeichnung des Karneval als „fünfte Jahreszeit“, als Zeit außerhalb der üblichen Zählung, als Möglichkeitsraum dazu, „aus sich herauszugehen“. Eine vergleichbare Funktion hat für manche der Urlaub als Gegenentwurf zur Alltäglichkeit und damit als eine Zeit, in der sich das „eigentliche“ Leben vollzieht. Wer aber nicht nur „dann mal weg“ sein will, sondern nach einem ganz neuen Leben sucht, der wandert aus. „Goodbye Deutschland!“ und „Neues Leben XXL“ berichten Woche für Woche von Menschen, die fernab der Heimat die Chance auf ein zweites Leben suchen.

Am auffälligsten freilich zeigt sich all dies in der Elektronikwelt. Ein neuer Videospiel-Kassenschlager mag das illustrieren. Schon am ersten Verkaufstag wurde mit „Grand Theft Auto IV“ mehr Geld eingenommen als mit dem Kinohit „Spiderman 3“ oder mit dem letzten „Harry Potter“-Band. In einer Woche wurde es von mehr als sechs Millionen Menschen gekauft. Nur zum Vergleich: Madonnas letzte CD wurde genauso oft verkauft; das dauerte allerdings nicht eine Woche, sondern drei Jahre. „GTA IV“, wie das Spiel nur genannt wird, eröffnet den Spielern Möglichkeiten, die vorher undenkbar waren. Spielt man ein Videogame normalerweise nacheinander, Level für Level, Aufgabe für Aufgabe, so kann die Hauptfigur hier ein multiples Lebens führen. Der brutale Gangster Nico Bellic kann, außer Verbrechen zu verüben, auch bowlen gehen, sich in der Kneipe betrinken oder Dart spielen. Er kann in einem eigens für das Spiel produzierten Fernsehkanal Filme sehen. Ein in das Spiel integriertes Internet steht zum Surfen bereit. Ließ der Spieler seine Hauptfigur mal wieder einen Wagen stehlen, so vermag er einen von 19 Radiosendern einzuschalten. Ein Kommentator bewertet „GTA IV“ als die „lebendigste Welt, die je ein Videospiel geschaffen hat.“ Dabei wird die Verherrlichung von Gewalt verkaufsfördernd eingesetzt.

Eine lebendige Welt, eine parallele Welt, ein „Second Life“, dem sich Millionen von Menschen widmen. Sie probieren sich in Videospielen aus. Sie knüpfen in Chatrooms neue Kontakte. Sie schlüpfen in Avatare, die karnevalesk gestaltet sind, und erkunden virtuelle Räume.

Die Cyberwelt ermöglicht es jedem, der will, ohne die Konsequenz einer wirklichen Veränderung ertragen zu müssen, eine neue Identität auszuprobieren, die Freiheit vom eigenen Ich zu suchen und durchzuspielen. Die Chance, neu zu beginnen, lässt sich nahezu beliebig wiederholen. Noch einmal – und zugleich mit einem Hauch von Fußball-Europameisterschaft – Peter Rühmkorf: „Lieber als verhaunen Bällen nachzusinnen, / zieh ich vor, / noch mal von vorn zu beginnen.“

III.

Wer beginnt, sich in der Welt des world-wide-web eine zweite Identität aufzubauen, der legt einen „Avatar“ an, eine Identifikationsfigur, die von anderen angesprochen werden kann, eine elektronische Konfiguration, die im virtuellen Raum Orte besetzen und Wege zu belegen vermag. Das Wort „Avatar“ ist eine Ableitung aus dem Sanskrit; es wird im Hinduismus zur Darstellung des wiederholten „Herabstiegs“ einer Gottheit zum Zwecke der jeweiligen Wiederherstellung der Weltordnung verwendet. Ich halte es nicht für einen Zufall, dass dieser Begriff zu einem konstituven Bestandteil der Konzeption eines „Second Life“ geworden ist. In ihm verbirgt sich die Sehnsucht danach, ein in seiner Bestimmung und in seinem Vollzug identisches Leben zu führen.

Christen bejahen die Frage, ob es ein zweites Leben gibt. Sie wissen zugleich, dass es eine das reale Leben bedrohende Gestalt annehmen kann, die den alltäglichen Lebensvollzug verleugnet. Die Bitte jedoch „Dein Reich komme“, von Christen rund um den Erdball täglich ausgesprochen, meint ein „Second Life“ in einem lebensdienlichen Sinn, die das Leben neu ergreifen lässt.

Das ist die Perspektive, von der aus ich auf den Sog neuer Formen des „Second Life“ schaue. Statt kulturkritisch zu lamentieren, sollte man den Motiven nachspüren, die sich in der Faszination durch „Second Life“ Ausdruck verschaffen.  Ein Motiv ist die Flucht aus dem Alltäglichen und Gewohnten. Wer die Tragik und Verletzlichkeit des Lebens nicht erträgt, sucht ihr zu entfliehen. Hier wird unausgesprochen der Wunsch laut, das Leben möge sich wieder zum Guten wenden und heil werden.

Dieses Motiv führt ebenso eine religiöse Bedeutung mit sich wie das andere Motiv, nämlich der Wunsch, ein Leben ganz neu zu beginnen, ein neuer Mensch zu werden. Mit ihm sind wir noch einen Schritt näher an einem Grundimpuls des christlichen Glaubens: „Ist jemand in Christus, so ist er eine neue Kreatur; das Alte ist vergangen, siehe, Neues ist geworden.“ Mit dem Neuen verbindet sich die Hoffnung, es dieses Mal richtig zu machen, von den Abwegen auf einen klaren Weg zu geraten: „Nun aber bleiben Glaube, Hoffnung, Liebe, diese drei, aber die Liebe ist die größte unter ihnen.“

Schließlich wird in einem „Second Life“ die Chance gesucht, sich wieder und wieder auszuprobieren. Das ist die Hoffnung ewiger Kindheit, die Hoffnung, in der Welt der Optionen bleiben zu können. Insofern ist „Second Life“ eine Antwort auf die Multioptionsgesellschaft. Man möchte sich keine Option verbauen. Denn ein Scheitern könnte nachhaltige Konsequenzen haben. Man möchte keine irreversible Entscheidung treffen, sondern immer wieder von vorne beginnen können. Denn um einen definitiven Schritt gehen zu können, braucht man einen klaren Bezugsrahmen; er aber fehlt.

In der Flucht vor dem Leben meldet sich der Wunsch nach seiner Heilung. Der Wunsch nach einem Neubeginn ruft nach einer Orientierung für das eigene Leben. Im kindlichen Ausprobieren wird die Frage nach dem tragenden Bezugsrahmen laut. Alle drei Motive sind durch die Frage nach dem Wert und dem Ort des eigenen Lebens und damit nach der eigenen Identität verbunden. Sie weisen deutlich religiöse Bezüge auf.

In diesen Motiven liegen positive Ansatzpunkte für Wertorientierung und Identitätsfindung. Die Flucht aus dem Alltäglichen und Gewohnten kann dazu führen, das Alltägliche und Gewohnte neu anzunehmen. Die Suche nach einer Spur für das eigene Leben kann sich erfüllen. Wer die Erfahrung des Versagens in sein Leben integriert, gewinnt in diesem Leben einen neuen Stand.

Zur Versuchung wird das „Zweite Leben“ dann, wenn die Rückkopplung zum ersten verloren geht, wenn das „Second Life“ in Konkurrenz tritt zu dem Leben, in das hinein wir von Gott gerufen und von einer Mutter geboren sind. In einer solchen Versuchung stellt sich die Frage nach dem Heil, nach der Orientierung und nach dem Bezugsrahmen unseres Lebens erst recht, nämlich in radikaler Weise.

IV.

Der Schritt vom Wunsch zur Wirklichkeit fällt schwer. Denn ein solcher Schritt ist nicht nur mit Erfüllung, sondern auch mit Verzicht verbunden. Wer unter mehreren Möglichkeiten des Lebens eine verwirklicht, lässt andere Möglichkeiten ungenutzt. Wer den Schritt von der Vielfalt der Optionen zu einer bestimmten Lebensform geht, räumt seinen Platz in der virtuellen Welt und lässt sich auf die wirkliche Welt ein. In der wirklichen Welt aber haben wir es stets nicht nur mit Gelingen, sondern auch mit Scheitern zu tun; Widerstände und Probleme bleiben nicht aus. Mit ihnen muss man sich auseinandersetzen, wenn man einen solchen Schritt tut.

Mit Peter Rühmkorf habe ich begonnen; mit seiner Interpretation der Identitätsfrage will ich schließen: „Die Frage nach dem Sinn kennt keine Ruh / – wohl weiss ich, dass ich bin – doch nicht wozu. / Trotzdem behaupte ich, die Welt alleine, / ich meine, ohne mich, das wäre noch keine.“