„Theologische Grundlegung des Auftrags der Ökumene- und Auslandsarbeit der EKD“ - Vortrag beim Konvent der Auslandspfarrer und –pfarrerinnen der EKD

Wolfgang Huber

I.

Gott, der sprach: Licht soll aus der Finsternis hervorleuchten, der hat einen hellen Schein in unsere Herzen gegeben, dass durch uns entstünde die Erleuchtung zur Erkenntnis der Herrlichkeit Gottes in dem Angesicht Jesu Christi (2. Korinther 4, 6).

Das neutestamentliche Losungswort für den 5. Juli 2008 nehme ich als eine wegweisende Orientierung für das Vorhaben, gemeinsam über den Auftrag der Ökumene- und Auslandsarbeit der EKD nachzudenken. Ich freue mich darüber, dass ich das gemeinsam mit Ihnen tun kann, die Sie für die Evangelische Kirche in Deutschland in der ganzen Welt Ihren Dienst so wahrnehmen, dass sich mit Gottes Hilfe „Erleuchtung zur Erkenntnis der Herrlichkeit Gottes in dem Angesicht Jesu Christi“ ereignen kann.

Davon, mit wie viel Leidenschaft, Fröhlichkeit und Phantasie sich dieser Dienst entfaltet, konnte ich mir in den zurückliegenden Jahren ein vielfältiges Bild machen. Ich denke an die eindrücklichen Begegnungen anlässlich der großen Reisen von Ratsdelegationen nach China, nach Lateinamerika, in die USA oder ins Heilige Land sowie an die vielen Begegnungen aus unterschiedlichen Gründen mit Gemeinden in Europa. New Delhi, Peking, Schanghai, Santiago de Chile, Buenos Aires, Porto Alegre, Sao Leopoldo, Washington, New York, Atlanta, London, Kiew, Jerusalem, Beirut, Moskau, Rom, Brüssel, Neapel, Genf, zuletzt Dublin: das sind die Namen von Orten, an denen ich in den letzten Jahren deutschsprachiges Gemeindeleben miterleben durfte und dabei spürte, wie meine Begeisterung für diese wichtige Aufgabe wuchs und sich immer tiefer verwurzelte. Vor uns liegt eine Reise nach Namibia, Südafrika und Äthiopien. Später in diesem Jahr plane ich einen Besuch in Warschau. Im nächsten Jahr steht unter anderem ein Besuch in den Niederlanden auf der Agenda. Gerade diese Ratsreisen – sei es mit Ratsdelegationen, sei es mit Mitarbeitenden des Kirchenamts – sind es, die in den letzten Jahren die große Bedeutung der Arbeit der Auslandsgemeinden nicht nur bei mir selbst, sondern im Rat insgesamt bewusst und zu einem besonderen Anliegen gemacht hat. Im Namen des ganzen Rates der EKD möchte ich diesen Tag nutzen, Ihnen diese große Aufmerksamkeit des Rats der EKD für Ihr Arbeitsfeld deutlich zu machen und Ihnen für ihren großen Einsatz in diesem wichtigen Feld von Herzen zu danken.

II.

Gott hat einen hellen Schein in unsere Herzen gegeben. Das ist der Ausgangspunkt für eine theologische Grundlegung der Ökumene- und Auslandsarbeit der EKD, zu der ich mit einigen wenigen Überlegungen beitragen will. Sie beruht auf keinem anderen Fundament als die Arbeit unserer Kirche insgesamt. Es kann also nur darum gehen, den gemeinsamen Grund, auf dem die Kirche ruht, und das uns zu gute kommende gnädige Handeln Gottes, das die Kirche ins Leben ruft und erhält, aus der Perspektive dieser besonderen Aufgabe näher zu beschreiben.

Dabei wenden wir uns zuerst dem konstituierenden Grundgeschehen der Kirche zu, von dem alles ausgeht, auf das alles zuläuft. Dieses Grundgeschehen besteht in dem Hören auf Gottes Wort in der Auslegung der biblischen Botschaft, in der Gemeinschaft in Brot und Wein und damit in Leib und Blut Jesu Christi, in der Verbundenheit durch die eine Taufe, in der Gemeinschaft der Glaubenden, verbunden in Lob und Klage, Gebet und Segen. Das will ich in drei Hinsichten entfalten. Die theologische Bestimmung, die spirituelle Entfaltung und die wahrgenommene Verantwortung sind die drei Hinsichten, von denen die Rede sein soll. Dabei werde ich mich für die theologische Grundorientierung immer wieder an den zentralen Aussagen der Barmer Theologischen Erklärung von 1934 orientieren.

Zunächst die theologische Bestimmung. Die Kirche ist hörende Kirche. Damit sie das sein kann, muss sie zugleich verkündigende und lehrende Kirche sein. Dass der Glaube aus dem Hören kommt, rückt für uns als in besonderer Weise mit der Verkündigung Beauftragte die theologische Arbeit in den Mittelpunkt. Sie ist und bleibt die Grundlage für die Deutung des biblischen Worts und in der Kraft dieses Wortes auch für die Gestaltung der Gegenwart aus der Quelle und im Lichte des Evangeliums von der liebenden Zuwendung Gottes zu den Menschen. Nur wenn wir diesem theologischen Grundvollzug Kraft und Zeit, gemeinsame Diskussion und persönliche Reflexion schenken, werden Tiefe und Vertrauenswürdigkeit so wachsen können, dass Menschen dadurch angesprochen und verändert werden.

In dem weit gespannten und vielfältigen Kontext, in dem sich die Arbeit in Auslandsgemeinden vollzieht, gewinnt diese theologische Aufgabe ihr besonderes Gewicht. Wir brauchen theologische Arbeit, um aus einem hermetischen Sprachspiel auszubrechen und aufzubrechen, das bisweilen schon nach innen schwer verständlich ist und dann erst recht nach außen befremdlich wirkt. Was mir vorschwebt und wofür ich werbe, ist ein neues Zutrauen zu guter Theologie, die zugleich öffentlich und elementar ist. Sie zeichnet sich nicht durch den hermetischen Charakter ihrer Sprache, sondern durch die Relevanz aus, in der sie die biblische Botschaft  auf gegenwärtiges Wahrheitsbewusstsein bezieht und mit den Herausforderungen unserer Zeit verknüpft.

Sodann die spirituelle Entfaltung. Das Bemühen um gute Theologie kommt nicht zum Ziel, wenn es sich nicht mit geistlichem Leben in evangelischer Spiritualität verbindet. Wir leben auch in unserem Dienst davon, dass wir uns voll Vertrauen in das bergen können, was wir uns nicht selber sagen können. In den Strom der Tradition hineingenommen zu werden, von der Wolke der Zeugen umgeben zu sein, in der Gemeinschaft am Tisch des Herrn mit Christus als dem Haupt vereint zu sein, all das bildet eine notwendige Grunddimension christlicher Existenz. Darin erleben wir nicht nur Kontinuität und Verlässlichkeit, wir erleben auch, wie manchmal vergessen und verschüttet erscheinende Schätze unserer Geschichte zu neuem Leben erwachen und verändernde Kraft entfalten.

Die Frage nach der Bedeutung geistlichen Lebens aus der Kraft des Heiligen Geistes gehört zu den großen Herausforderungen, mit denen wir aus eigenen Erfahrungen wie aus den Erfahrungen ökumenischer Geschwister konfrontiert sind. Das ungeheure Wachstum pentekostaler und charismatischer Bewegungen wirkt sich auch auf die Arbeit der Auslandsgemeinden aus. In der Reflexion und der Weitergabe dieser Erfahrungen sind unsere Auslandsgemeinden wichtige Impulsgeber für Fragen, die uns auch in der EKD zunehmend beschäftigen. Ja, das Miteinander von guter Theologie und lebendiger, im Evangelium gegründeter Spiritualität bildet eine wichtige Kernaufgabe in den Reformprozessen, um die wir uns gegenwärtig in der EKD bemühen.

Schließlich die wahrgenommene Verantwortung. Das Hören auf Gottes Wort in theologischer Reflexion und die persönliche wie gottesdienstliche Spiritualität befreien zur Verantwortung. Angesichts der vielfältigen Gefährdungen und Dilemmata menschlicher Existenz stellt sich unausweichlich die Frage nach den ethischen Konsequenzen aus dem christlichen Glauben. Das gilt für Gemeinden in Deutschland ebenso wie für unsere Auslandsgemeinden. Doch oft sind Auslandsgemeinden durch die Konfrontation mit Armut, Gewalt, Krankheit und der Verletzung von Menschenrechten ethisch besonders unmittelbar herausfordert. Auch darin sind sie für uns in der Gemeinschaft der EKD besonders wichtig, weil wir an Ihrem Beispiel erleben können, wie unser Glaube uns in verbindliches Eintreten für Menschenwürde und Menschenrechte, für einen gerechten Frieden und die Bewahrung der Natur führt. Wir lernen immer wieder neu, dass darin eine Frucht christlicher Freiheit liegt.

Diese drei Dimensionen des von Gott geschenkten Worts, aus dem ein heller Schein in unsere Herzen kommt, lassen sich zusammenfassend auf die Kernaussage beziehen, mit der  die Barmer Theologische Erklärung von 1934 beginnt: Jesus Christus, wie er uns in der Heiligen Schrift bezeugt wird, ist das eine Wort Gottes, das wir zu hören, dem wir im Leben und im Sterben zu vertrauen und zu gehorchen haben. Denn wir bemerken gegenwärtig durchaus, dass Theologie, Spiritualität und Weltverantwortung auseinander fallen, wenn sie nicht im Bekenntnis zu Jesus Christus als dem einen Wort Gottes zusammengehalten werden. Auch mit solchen zentrifugalen Prozessen haben Sie vermutlich in der Auslandsarbeit zu tun: mit theologischen Spezialisierungen – beispielsweise im interreligiösen Dialog – , die in der Gefahr stehen, den Bezug auf die einigende Mitte zu verlieren, mit Neigungen zu spirituellen Experimenten, die den Reiz des Neuen wichtiger nehmen als die Schätze unserer eigenen christlichen Spiritualität, oder auch mit Projekten gesellschaftlicher Verantwortung, deren Zusammenhang mit dem Grundauftrag christlicher Gemeinden erst wieder aufs neue verdeutlicht werden muss. Die Weite unserer Aktivitäten lässt sich leichter durchhalten, wenn sie in klarer Weise auf die Mitte der uns aufgetragenen Botschaft bezogen sind: das befreiende Wort von Gottes Gnade in Jesus Christus.

III.

Von ihrer Herkunft her ist die Auslandsarbeit Ausdruck einer volkskirchlichen Situation. Sie repräsentiert eine Einheit von Glauben, Sprache und Kultur, die auch in der Fremde aufrechterhalten werden soll. Doch sie gerät heute in den Sog tiefgreifender Veränderungen. Diese nehmen natürlich in jedem Kontinent, in jedem Land, in jeder konkreten Situation unterschiedliche Gestalt an. Aber sie sind, so scheint mir, doch von einem gemeinsamen Grundzug bestimmt, den ich als religiöse und weltanschauliche, aber auch als innerchristliche Pluralisierung bezeichnen will. Die religiöse und weltanschauliche Pluralisierung verleiht unserem missionarischen Auftrag neuen Nachdruck; die innerchristliche Pluralisierung gibt der ökumenischen Aufgabe ein neues Gesicht. Diesen beiden Gesichtspunkten will ich mich in den beiden nächsten Gedankengängen zuwenden.

Zunächst also zur missionarischen Dimension unseres Handelns. Die Wiederentdeckung der missionarischen Dimension unseres Kircheseins ist die vielleicht wichtigste Erfahrung und das wichtigste Hoffnungszeichen einer „Kirche im Aufbruch“, für die wir manche Indizien sehen und um die wir doch zugleich Gott nur bitten können.

Noch einmal knüpfe ich an das biblische Leitwort für meine Überlegungen an: Gott hat einen hellen Schein in unsre Herzen gegeben, dass durch uns entstünde die Erleuchtung zur Erkenntnis der Herrlichkeit Gottes in dem Angesicht Jesu Christi. Um ein Ja Gottes geht es, zu dem wir unser Amen sprechen (vgl. 2. Korinther 1, 19f.), um ein Ja Gottes in Christus, das durch uns und mit uns sichtbar werden soll. Unser antwortendes Amen gilt dem, was uns als gelingendes Leben geschenkt wird, es schließt den Dank für allen Erfolg und allen Segen ein, die Gott uns zugute kommen lässt. Dieses Amen schließt aber auch ein, was uns nicht gelingt und worin wir schuldig werden. In der Vergebung der Schuld und in der Rechtfertigung des Sünders werden wir befreit zu einem Leben, das unter Gottes Ja zur Umkehr findet und in seinem Geist sich für die Erkenntnis der Wahrheit und für das Tun des Gerechten öffnet.

Wir wollen Menschen dafür gewinnen, dass sie sich in ihrem Leben in verantworteter Freiheit im Glauben an Jesus Christus und auch an seine Kirche als die Gemeinschaft der Glaubenden binden. Diese Grundaufgabe gilt für jede Gemeinde – und damit auch für jede evangelische Gemeinde im Ausland. Eine Kirche oder eine Gemeinde, die den Anspruch aufgeben zu wachsen, sind in ihrer Substanz gefährdet. Darum werden wir als EKD dieses Wachstum in Ihren Gemeinden nach dem Maß unserer Kräfte fördern. Darum arbeiten wir derzeit konkret an der Gründung einer Gemeinde in Dubai und an der Wiedererrichtung der Gemeinde in Belgrad. Dabei ist uns bewusst, was die EKD-Synode 1999 weitsichtig folgendermaßen formuliert hat: „Die Aufgabe, neue Mitglieder zu gewinnen, hat eine ökumenische Dimension. Nicht der Mitgliederzuwachs der eigenen kirchlichen Gemeinschaft hat Vorrang, sondern dass Menschen eine kirchliche Beheimatung finden. Weil wir von der einen Kirche Christi her denken, freuen wir uns auch über das Wachsen anderer christlicher Kirchen“.

Wir entwickeln eine neue Aufmerksamkeit für die vielfältigen Formen der Beteiligung am Leben unserer Gemeinden und unserer Kirche. Wir wollen auch von denen lernen, die sich nicht unmittelbar zu uns halten, wenn sie Anliegen vertreten, die für uns als Kirche von Bedeutung sind.

Viele halten den Begriff der Mission für belastet. Gleichwohl ist er im Zusammenhang der Weltmission ununterbrochen verwendet worden. Jetzt aber, wo er unser eigenes Handeln als Kirche betrifft, reagieren wir zögerlich. Doch die kritische Aufarbeitung der Missionsgeschichte, die gewiss nötig ist, kann nicht bedeuten, dass wir diesen Begriff und die mit ihm bezeichnete Dimension kirchlichen Handelns aufgeben. Mission meint die Absicht, den anderen zu überzeugen, ihn auf dem „Weg nach Emmaus“ zu begleiten in der Hoffnung, dass die Gewissheit des christlichen Glaubens seine eigene Gewissheit wird. Gewiss brauchen wir dafür eine Haltung der Demut und der Lernbereitschaft. Solche Mission, die dem Wirken Gottes das Entscheidende zutraut, ist jeder Intoleranz entgegengesetzt. Denn recht verstandene Toleranz ist nicht eine Toleranz „trotz“ Glauben, sie ist eine Toleranz aus Glauben.

Wir machen unseren Glauben sichtbar in einer tiefgreifend veränderten und vielfältig differenzierten religiösen Landschaft. In den Auslandsgemeinden wird die faktische Lage eines religiösen Wettbewerbs oftmals schneller deutlich als hier in Deutschland. Auch hier machen Sie Erfahrungen, die für uns alle wichtig sind. Sie erkunden neue Wege und sind zu Experimenten herausgefordert, aus denen wir alle lernen können.

Es gilt heute, im Glauben sprachfähig zu werden. Im Kontext anderer Kulturen wird die Vergewisserung des Eigenen aufs Neue wichtig. Das geschieht nicht aus einem Geist der Abgrenzung oder der Dominanz. Die zu Grunde liegende Erfahrung ist eine andere. Wer aus dem Eigenen heraus zum Dialog fähig werden will, braucht beides: eine formulierbare Identität und die Bereitschaft zum Verstehen des anderen. Nur dann kann wirklich voneinander gelernt werden. Nur dann lassen sich Gemeinsamkeiten erkennen; nur so wächst die Fähigkeit, auch bei fundamentalen Differenzen respektvoll miteinander umzugehen. Die missionarische Aufgabe enthält einen Bildungsauftrag in sich, dem wir uns stellen müssen und stellen wollen.

Gerade im Blick auf diese Aufgabe lässt sich die Anknüpfung an die Barmer Theologische Erklärung weiterführen, deren sechste und letzte These sagt: Der Auftrag der Kirche, in welchem ihre Freiheit gründet, besteht darin, an Christi Statt und also im Dienst seines eigenen Wortes und Werkes durch Predigt und Sakrament die Botschaft von der freien Gnade Gottes auszurichten an alles Volk.

IV.

In einem nächsten Schritt will ich die Aufmerksamkeit auf die ökumenische Dimension unserer Auslandsarbeit lenken.

In dem gerade zitierten Satz aus der Barmer Theologischen Erklärung kommt die in Christus geschenkte Einheit seiner Kirche zur Sprache, die jeder sichtbaren Gestalt der Kirche vorausgeht und ihr zu Grunde liegt. Wir tragen in allen Kirchen Verantwortung dafür, dass sich die Bindung der Menschen an Jesus Christus, der das Licht in ihren Herzen ist und sein will, nicht lockert, sondern festigt. Gemeinsam stehen wir vor der Aufgabe, dass ihnen ihre kirchliche Heimat und ihr Glaube nicht fremd werden. In der religiös pluralen Welt ist unsere kirchliche Existenz in unserem jeweils besonderen Profil wie in der ökumenischen Gemeinschaft nicht nur ein vom Evangelium her gefordertes Zeugnis, sondern auch ein elementarer Teil des gemeinsamen Auftrags, Rechenschaft zu geben über die Hoffnung, die in uns ist (1. Petrus 3, 15). Die Art, in der wir mit unseren Differenzen umgehen, und die Kraft unserer ökumenischen Gemeinschaft sind von großer Bedeutung dafür, ob unsere Verkündigung Vertrauen findet. Dafür ist es eine entscheidende Bewährungsprobe, ob es uns gelingt, die gemeinsamen Bemühungen theologischen Verstehens, aber ebenso auch die Gemeinschaft in Spiritualität und Gottesdienst sowie die gemeinsame Wahrnehmung gesellschaftlicher Verantwortung weiterzuentwickeln. Auch hierfür sind unsere Auslandsgemeinden ein ganz besonderes Beispiel.

Das Ringen um eine Einheit in der Wahrheit, die Suche und die Sehnsucht nach ihr bestimmen die Geschichte der Christenheit von Anfang an. Diese Orientierung an der Einheit in Wahrheit bleibt auch dort bestimmend, wo der Streit um die Wahrheit Spaltungen nach sich gezogen hat. Dem Grundgeschehen von Kirche bleiben wir nur treu, wenn wir beides ernst nehmen: den Auftrag zur Einheit wie das Ringen um Wahrheit. Weil es sich so verhält, müssen wir bei unseren ökumenischen Bemühungen beidem gerecht werden: der Einheit, die in Christus gründet, und den unterschiedlichen Zugängen zu der einen Wahrheit, die Christus selbst ist. Daraus erklären sich die unterschiedlichen Wege unserer Kirchen; daraus erklärt sich zugleich, dass wir auch in unseren Unterschieden aneinander gebunden bleiben. Insofern sind die Begriffe „Ökumene“ und „Profil“ keine Gegensätze. Sie sind in „versöhnter Verschiedenheit“ gerade produktiv aufeinander bezogen. Es bleibt unsere Aufgabe, der Einheit nachzustreben und sie zu fördern, die in Christus schon Realität ist. Darin, wie wir jeweils im Ringen um die eine Wahrheit Christus als dem Herrn der Kirche, ihrem Grund und Ziel, treu zu sein versuchen, haben wir uns wechselseitig zu achten. Das geschieht in dem Bewusstsein, dass keine kirchliche Gemeinschaft über ihr Kirchesein verfügt. Jede Kirche ist durch beides geprägt: durch Licht und Schatten, Gerechtigkeit und Sünde, Treue und Verrat, Glauben und Unglauben. Herr, ich glaube, hilf meinem Unglauben (Markus 9, 24) – dieser Ruf um Hilfe kann, ja muss auch immer wieder der gemeinsame Ruf der Kirchen sein.

Für die evangelischen Kirchen ist deshalb die Achtung des Kircheseins derer, die um die Einheit und die Wahrheit Christi ringen, eine wichtige ökumenische Grundregel. Für uns ist nicht zu erkennen, dass der Weg zur Einheit in Vielfalt oder zu versöhnter Verschiedenheit auf andere Weise gefunden werden kann. Dabei verkennen wir die Schwierigkeiten nicht. Wir müssen Ökumene heute unter der Voraussetzung gestalten, dass die beteiligten Kirchen nicht nur unterschiedliche Kirchenverständnisse sowie unterschiedliche Vorstellungen von Amt und Ordination, vom Verhältnis zwischen Schrift und Tradition oder von Frauen im geistlichen Amt haben, sondern dass sie unterschiedliche Vorstellungen von dem haben, was sichtbare Einheit bedeutet. Es wäre ja auch zu verwunderlich, wenn die verschiedenen theologischen Ansätze und die verschiedenen geschichtlichen Erfahrungen sich nicht auch in unterschiedlichen Auffassungen von der Einheit der Kirche spiegelten.

Für die Auslandsgemeinden ergibt sich aus dieser Beschreibung der ökumenischen Aufgabe, dass wir unsere Arbeit gar nicht anders als evangelisch profiliert und zugleich in enger ökumenischer Verbundenheit mit den christlichen Gemeinden und Kirchen tun können, unter denen und mit denen wir leben. So wichtig und bedeutungsvoll die Tatsache ist, dass unsere Auslandsgemeinden um der Sprache und der Kultur willen ein Zuhause in der Fremde für Menschen aus Deutschland sind, die dort auf Dauer oder vorübergehend leben, so kann dies ein zwar wesentliches, aber niemals das allein bestimmende Kriterium ihrer Arbeit sein. So sehr der Glaube sich in der eigenen Muttersprache Ausdruck verschaffen will, so sehr bleibt es bestimmend, dass im pfingstlichen Ereignis unsere eigene Sprache und unser eigener Glaube in ein größeres und gemeinsames Zeugnis überführt werden. Das soll auch in der sichtbaren Gestalt und Struktur unserer Zusammenarbeit erkennbar werden.

Darum ist es eine gute und notwendige Entwicklung, dass unsere deutschsprachigen Gemeinden in Ländern, in denen das möglich ist, Teil der dortigen evangelischen Kirche werden. Das ist in einer vorbildlichen Weise in Chile, Brasilien und Argentinien geschehen; es gilt auch für die skandinavischen Länder. Andere Gemeinden sind zu eigenständigen Kirchen geworden, wie die Evangelisch-lutherische Kirche in Italien. Die Gemeinschaft der reformatorischen Kirchenfamilie, insbesondere auf der Grundlage der Leuenberger Konkordie, die nicht nur in Europa, sondern auch in Lateinamerika an Bedeutung gewonnen hat, bildet die Grundlage und die Richtschnur für solche Prozesses.

Zugleich gilt natürlich, dass die Arbeit der Auslandsgemeinden in einem ökumenischen Bezug zu den Gemeinden unserer römisch-katholischen, anglikanischen und orthodoxen Schwesterkirchen steht.

Auch hier will ich verweisen auf die verdichtete Orientierung, wie sie uns in der dritten These der Barmer Theologischen Erklärung entgegentritt: Die christliche Kirche ist die Gemeinde von Brüdern (und Schwestern), in der Jesus Christus in Wort und Sakrament durch den Heiligen Geist als der Herr gegenwärtig handelt. Sie hat mit ihrem Glauben wie mit ihrem Gehorsam, mit ihrer Botschaft wie mit ihrer Ordnung mitten in der Welt der Sünde als die Kirche der begnadigten Sünder zu bezeugen, dass sie allein sein Eigentum ist, allein von seinem Trost und von seiner Weisung in Erwartung seiner Erscheinung lebt und leben möchte. Das ist eine bündige Formulierung ja nicht nur eines evangelischen, sondern recht verstanden eines ökumenisch verpflichtenden Verständnisses der Kirche Jesu Christi.

V.

Mit einem letzten Gedankengang greife ich noch einmal auf, dass sich aus dem Grundgeschehen von Kirche, von dem wir ausgingen, die gesellschaftliche und politische Verantwortung für unsere Welt unmittelbar ergibt. Es handelt sich keineswegs um zweitrangige Aufgaben, wenn wir uns dieser Dimension kirchlichen Handelns zuwenden.

Ich denke an meinen Besuch im Oktober 2006 in unserer Gemeinde in Beirut mitten in der Not und Gefahr in einem von Krieg gebeutelten Land. Mit großer Bewunderung nahm ich damals wahr, was in der Gemeinde für entwurzelte oder auf der Flucht befindliche Menschen geleistet wurde.

Ich denke an die komplexe Lage im Heiligen Land, die ich seit langem aufmerksam begleite und die uns bei der Ratsreise im April vor einem Jahr eindrücklich nahe gekommen ist. Christen in Israel und Palästina – und auch unsere Arbeit unter dem Stichwort „Evangelisch in Jerusalem“ – tragen zu Frieden und Versöhnung in dieser scheinbar so ausweglosen Lage bei.

Ich denke aber ebenso an die Themen und Herausforderungen, mit denen wir uns in den vergangenen Tagen in Sapporo beschäftigt haben, als eine Zusammenkunft von Religionsführern aus sechs Religionen und zwanzig Ländern eine gemeinsame Stellungnahme zu dem bevorstehenden G8-Gipfel erarbeitete und dem „Ruf aus Köln“ 2007 einen „Ruf aus Sapporo“ folgen ließ. Die elementaren Herausforderungen durch globale Armut, durch den Klimawandel, durch militärische Konflikte und Terrorismus sowie durch die andauernde Präsenz nuklearer, aber auch biologischer und chemischer Massenvernichtungswaffen bestimmten unser Nachdenken. Eine Grundhaltung, die durch die Ehrfurcht vor dem Heiligen, den Einsatz für die Integrität der Natur sowie den Respekt vor der gleichen Würde jedes Menschen bestimmt ist, versuchten wir als gemeinsame Orientierung der Religionen in die internationale Debatte über diese Fragen einzubringen.

Ich denke an Gemeinden und Kirchen, ob nun in Addis Abeba, Bangkok oder Sao Paulo, die gemeinsam mit unseren Entwicklungswerken Kindern und Jugendlichen eine Zukunft geben, Familien darin unterstützen, für ihren Lebensunterhalt eigenständig zu sorgen, Initiativen gründen, damit Menschen ihrer Rechte teilhaftig werden, Kampagnen starten, damit die ökonomischen und kulturellen Auswirkungen der Globalisierung zu Gunsten der Menschen gesteuert werden, und in allem sich darum bemühen, gerechte Teilhabe zu sichern.

Unsere Ökumene- und Auslandsarbeit stellt Sie als Pfarrerinnen und Pfarrer mit Ihren Gemeinden in einen umfassenderen ökumenischen Verbund, in dem jeweils spezifische Aspekte unserer Weltverantwortung als Christen wahrgenommen werden. Ihre Arbeit steht in einem unauflöslichen Zusammenhang mit dem, was wir seit Beginn der achtziger Jahre als „Konziliaren Prozess für Gerechtigkeit, Frieden und Bewahrung der Schöpfung“ bezeichnen. Zugleich haben wir gelernt, in diesem Prozess die Aspekte von Menschenwürde und Menschenrechten, von Religionsfreiheit und anderen individuellen Freiheiten deutlicher zu akzentuieren, als dies in manchen Phasen des Konziliaren Prozesses geschehen ist. In einem Prozess, der geistliche und politische Aspekte miteinander verbindet, werden wichtige Lebensfragen unserer Zeit als Herausforderungen für das christliche Zeugnis wahrgenommen.

Für Europa hat dieser Klärungsprozess in der Charta Oecumenica seinen besonderen Ausdruck gefunden. So wichtig in diesem Zusammenhang die Dritte Europäische Versammlung in Hermannstadt war, so sehr hätte man sich gewünscht, dass ihr Verlauf eine stärker partizipative Struktur und ihr Ergebnis ein deutlicheres inhaltliches Profil aufgewiesen hätte. Ähnliches lässt sich im Blick auf die Situation des Ökumenischen Rats der Kirchen feststellen. Dennoch bleiben Eckpunkte wie die Charta Oecumenica oder die Dekade des ÖRK zur Überwindung von Gewalt mit ihrer für das Jahr 2011 in Kingston/Jamaica geplanten Friedenskonvokation wichtige Orientierungspunkte für das, was wir als Kirchen in politisch-gesellschaftlicher Verantwortung tun.

Es ist mir wichtig, dass wir auch in schwieriger Zeit an dieser Seite unserers ökumenischen Engagements festhalten und ihm auch in der Arbeit unserer Auslandsgemeinden konkrete Gestalt geben. Die Verknüpfung Ihrer Arbeit mit den ökumenischen Dialogen, mit unserer Entwicklungszusammenarbeit (vor der eine neue Stufe der Integration und der inhaltlich-diakonischen Ausrichtung liegt) sowie mit dem vieldimensionalen Nutz kultureller und interreligiösen Begegnungen ist von großer Bedeutung.

In vielen Hinsichten ist Ihre Arbeit ein Vorposten, ein Erprobungs- und Erfahrungsfeld für das, was wir auch in Deutschland unter den Bedingungen einer immer breiter und unübersichtlicher werdenden Pluralität zu gestalten haben.

Wir wissen uns in der Weltverantwortung unserer Kirche an das Ganze der Schöpfung gewiesen: Denn wir wissen, dass die ganze Schöpfung bis zu diesem Augenblick mit uns seufzt und sich ängstet. Nicht allein aber sie, sondern auch wir selbst, die wir den Geist als Erstlingsgabe haben, seufzen in uns selbst und sehnen uns nach der Kindschaft, der Erlösung unseres Leibes. (Römer 8, 22 und 23)

Dies höre ich als Beschreibung des umfassenden Horizonts, in dem der Auftrag der zweiten These der Barmer Theologischen Erklärung zu verstehen ist – und mit ihm will ich schließen: Wie Jesus Christus Gottes Zuspruch der Vergebung aller unserer Sünden ist, so und mit gleichem Ernst ist er auch Gottes kräftiger Anspruch auf unser ganzes Leben; durch ihn widerfährt uns frohe Befreiung aus den gottlosen Bindungen dieser Welt zu freiem, dankbarem Dienst an seinen Geschöpfen.