„Wissenschaft dient dem Leben“ - Festrede zur Verleihung des Körber-Preises in Hamburg

Wolfgang Huber

I.

Hätten wir ein Unsterblichkeitsenzym entdeckt und wären dazu fähig es einzusetzen, dann hätte unser zeitliches Leben keine Zukunft mehr. Wer unsterblich ist, hat teil an Gottes Ewigkeit. Sein zeitliches Leben hat sich in ewiges Leben verwandelt. Für ihn hat die Unterscheidung von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft ein Ende. Diese Unterscheidung setzt die Endlichkeit des Lebens voraus. Und sie ist angewiesen auf ein Wesen, das sich dieser Endlichkeit bewusst ist. Sie braucht nicht nur ein endliches Leben, sondern auch ein Bewusstsein endlicher Freiheit. Die Unterscheidung zwischen Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft ist nur dem Menschen möglich. Und dies nur, so lange er sich als ein Wesen versteht, dessen Leben und dessen Freiheit endlich sind.

Die Telomerase, der die bahnbrechenden Forschungen von Maria Blasco, der Trägerin des Körber-Preises 2008, gewidmet sind, wird von manchen auch als „Unsterblichkeitsenzym“ bezeichnet. In den körpereigenen Stammzellen sowie in den Ei- und Samenzellen verhindert dieses Enzym das Absterben der Zellen. Das allein gewährleistet noch nicht Leben; erst recht garantiert es nicht Unsterblichkeit. Die Telomerase hat vielmehr auch eine dunkle Seite. Auch Krebszellen hält sie am Leben. Für den Umgang mit der Telomerase gilt deshalb derselbe Grundsatz, an den man sich auch sonst halten sollte. Die lebensdienliche Funktion sollte man fördern, der lebensfeindlichen entgegen treten. Häufig liegen beide Funktionen so nahe beieinander wie bei der Telomerase; häufig ist es ebenso schwer wie bei ihr, beide Funktionen säuberlich voneinander zu trennen. Deshalb ist der Mensch das Wesen, das Fehler macht. Mit der wachsenden Reichweite seines Handelns wächst auch die mögliche Reichweite seiner Fehler.

Umso wichtiger ist es, das, was dem menschlichen Handeln zugänglich ist, nicht mit dem Titel der Unsterblichkeit zu versehen. Insbesondere ernste und ernsthafte Wissenschaft – wie sie uns heute auf so eindrucksvolle Weise entgegentritt – sollte stets deutlich von der Scharlatanerie unterschieden bleiben, die in der Unsterblichkeit ein Projekt menschlichen Handelns sieht. Ein solches Projekt hat sich beispielsweise Ray Kurzweil vorgenommen, der nicht nur ein Pionier der optischen Spracherkennung ist, sondern auch den Vorsatz entwickelt hat, to live long enough to live forever. Im Jahr 1948 geboren, rechnet Kurzweil nach einer Aussage aus dem Jahr 2008 damit, selbst noch zu erleben, wie dem menschlichen Leben mit technischen Mitteln Ewigkeit verliehen wird. Nach seiner Überzeugung werden die Mittel, die in seinen Augen schreckenerregende Macht des Todes zu brechen, rechtzeitig zur Verfügung stehen. „Auch wenn wir die nötigen Mittel noch nicht zur Hand haben, besitzen wir doch das Wissen, wie wir bis zu dem Zeitpunkt leben können, an dem sie zur Verfügung stehen werden. Mit dem heutigen Wissen können selbst Angehörige meiner Generation in fünfzehn Jahren noch bei guter Verfassung sein. Dann wird es möglich sein, unser biologisches Programm durch Biotechnologie zu modifizieren, was uns lange genug leben lassen wird, bis uns die Nanotechnologie befähigt, ewig zu leben.“

Kühn sind solche Aussagen nicht nur wegen des Zutrauens zur Entwicklung von Wissenschaft und Technik, die aus ihnen spricht. Kühn sind sie auch, weil sie die Möglichkeit eines Todesgeschicks, dem technisch nicht vorzubeugen ist, gar nicht ins Auge fassen. Kühn sind sie aber vor allem durch die Vorstellung, dass die Selbstverewigung des Menschen mit seiner Individualität vereinbar sei. Denn obwohl Ray Kurzweil den Zeitpunkt, zu dem die künstliche Intelligenz die menschliche überholen wird, als „Singularität“ bezeichnet, kann doch kein Zweifel daran bestehen: Wenn der Mensch sich in seinem Selbstbewusstsein von der künstlichen Intelligenz abhängig machen und den Versuch unternehmen wird, seine Sterblichkeit durch die Vernetzung seines Gehirns mit künstlicher Intelligenz zu überlisten, dann wird vielleicht die Todesgrenze undeutlich; eindeutig aber wird sein, dass in einem solchen Fall von einem menschlichen Individuum oder von einem individuellen Menschen nicht mehr die Rede sein kann. Das Datum, zu dem all das nach der Auffassung von Ray Kurzweil eintreten wird, ist übrigens das Jahr 2045.

Ich schildere solche Träume einer „Immortalitäts-Technosophie“ gerade und nur deshalb, weil ich von ihnen das Bemühen unterscheiden will, unter den Bedingungen des endlichen Lebens vorzeitigen Tod und unnötiges Leiden zu vermeiden und Menschen dabei zu helfen, dass sie die ihnen zugemessene Lebenszeit in Würde verbringen können. Zu wachsen statt zu wuchern, die Telomerase einzusetzen, um Leben zu erhalten, statt dass es zerstört wird – das sind Bemühungen innerhalb der Grenzen des endlichen Lebens; es handelt sich dagegen nicht um die Verfügbarkeit eines „Unsterblichkeitsenzyms“. Die Erkenntnisfortschritte der modernen Lebenswissenschaften ändern nichts daran, dass wir ewiges Leben von Gott und bei Gott erwarten. Wir hoffen also darauf, dass unsere Individualität in der Ewigkeit Gottes aufgehoben, ja: gut aufgehoben ist. Im Licht dieser Hoffnung versuchen wir, unser endliches Leben verantwortlich zu gestalten – zum Beispiel durch gute, faszinierende, begeisternde Wissenschaft.

II.

Gleichwohl gibt es keinen Grund, die revolutionäre Veränderung gering zu schätzen, die mit den Evolutionsschritten der modernen Lebenswissenschaften verbunden ist. Nicht darin besteht das Neue, dass der Mensch das eigene Leben zum Gegenstand seiner Bemühungen macht. Dieser selbstreflexive Charakter ist vielmehr mit dem menschlichen Leben mitgegeben. Auch Tiere können sich den eigenen Körper und mit ihm auch das eigene Leben zum Gegenstand machen. Tiere suchen nicht nur nach Nahrung, sondern putzen sich auch das Fell. Der Mensch aber macht seit vorgeschichtlicher Zeit sich selbst zum Gegenstand technischer Manipulation. Durch eine Unmenge von Halsbändern verlängert er sich den Hals; durch entsprechende Hilfsmittel – Krücken oder Hörrohre zum Beispiel – ersetzt er fehlende oder defekte Körperteile. Aber das geschah über lange Zeit ohne unmittelbare Eingriffe in die biologische Konstitution.

Das hat sich mit den modernen Lebenswissenschaften grundsätzlich verändert. Zunächst konstruierte man den menschlichen Körper nach. Nicht nur Prothesen – also ersatzweise bereitgestellte Körperteile – , sondern auch Transplantate – also im Original übertragene Körperteile –  halfen den Menschen über die abnehmende Leistungsfähigkeit ihrer Organe hinweg. Doch inzwischen wird der Bauplan des menschlichen Lebens insgesamt rekonstruiert. Das Genom wird entziffert. Wenn das vollständig gelungen ist, wird es nicht lange dauern, bis unser Genom auf einem Datenträger abgespeichert ist, den wir mit uns herumtragen können wie den Personalausweis, die Kreditkarte oder den Krankenkassenausweis. Wenn wir beim Arzt zur Sprechstunde kommen, wird eines nicht zu fernen Tages gleich das ganze Genom auf dem Bildschirm aufgerufen; bei einer neuen Erkrankung sagt er dann nur noch: „Das habe ich schon lange kommen sehen.“ Denn die ungefähr 100 Billionen Zellen unseres Körpers sind dann auf eine Informationsbasis zurückgeführt, die vollkommene Transparenz verspricht.

Doch darüber, wie wir von unserer Freiheit Gebrauch machen, wird auch auf Grund dieser Information keine Voraussage möglich sein. „Hier stehe ich, ich kann nicht anders“ – dieser Satz wird auch dann noch möglich sein, wenn unsere genetische Ausstattung vollständig auf dem Bildschirm des Arztes abbildbar ist. Dann wird das Verständnis von Wissenschaft als Lebenswissenschaft erst recht eine Bewährungsprobe zu bestehen haben. Dann wird sich erweisen, was es bedeutet, dass Wissenschaft nicht über das Leben herrscht, sondern dem Leben dient. Es wird sich zeigen, in welchem Sinn das Leben auch dann ein Geheimnis bleibt, wenn das Geheimnis der DNS entschlüsselt ist. Dieses Geheimnis hat damit zu tun, dass der Mensch nicht nur lebt, sondern sich zu seinem Leben verhält, dass er mit seinem Leben nicht nur umgeht, sondern seines Lebens als Gabe und Geschenk inne wird, dass er beim Nachdenken über sich selbst nicht nur auf sich selbst stößt, sondern über sich hinausgeht und nach Gott fragt.

Je weiter menschliche Erkenntnis ausgreift und menschliche Verfügungsmacht reicht, desto offener ist die Frage, so hat Jens Reich dies einmal formuliert, ob eine solche Entwicklung „uns Menschen bekömmlich sein wird oder nicht“. Für diese Bekömmlichkeit kennen wir kein anderes Kriterium als dies, ob der Mensch in solchen Veränderungen als Person geachtet, also in seiner Würde und Freiheit respektiert wird, und ob sein Leben in seiner Endlichkeit angenommen wird. Oder anders: Die Frage nach der Bekömmlichkeit neuer Entwicklungen für den Menschen scheint mit der Frage zusammen zu hängen, ob der Mensch die Fähigkeit behält, zwischen sich selbst und Gott zu unterscheiden.

Moderne Wissenschaft macht für diese Unterscheidung keineswegs blind; sie kann für sie sogar die Augen öffnen. Freilich hängt das an der Voraussetzung, dass auch in moderner Wissenschaft die Bereitschaft zu epistemischer Demut aufbewahrt bleibt. Auch wenn wir die Grenzen des Wissens in staunenswerter Weise hinausschieben, werden wir niemals alles wissen. Epistemische Demut meint die Erkenntnis, dass unser Wissen immer Stückwerk bleibt. In der Sprache des Glaubens bleibt es Gott vorbehalten, dem fragmentarischen Charakter menschlichen Wissens ein Ende zu machen: „Wir sehen jetzt durch einen Spiegel ein dunkles Bild; dann aber von Angesicht zu Angesicht. Jetzt erkenne ich stückweise; dann aber werde ich erkennen, wie ich erkannt bin“ (1. Korinther 13, 12).

So endlich wie die Freiheit des Menschen ist auch seine Vernunft, die zwar in den Dienst der Erkenntnis gestellt werden kann, aber niemals aus eigener Kraft zu vollkommener, unbegrenzter Erkenntnis durchzudringen vermag. Man kann die Vorbereitung eines solchen geschichtlichen Verständnisses der menschlichen Vernunft zu den besonderen Beiträgen des christlichen Glaubens zu unserer Kultur, auch zu unserer Wissenschaftskultur, zählen. Denn gerade durch die Einsicht in die Endlichkeit und Geschichtlichkeit der Vernunft hat diese Kultur den Siegeszug der neuzeitlichen Wissenschaft heraufgeführt. Dass Wissenschaft dem Leben dient und nicht über das Leben herrscht, ist eine der Bewährungsproben für diese kulturelle Errungenschaft. Zwischen dem zeitlichen und dem ewigen Leben zu unterscheiden und deshalb auch die Unterscheidung zwischen dem Menschen und Gott im Sinn zu behalten, ist deshalb für unsere Kultur, auch für unsere Wissenschaftskultur, von größter Bedeutung.

III.

Nirgendwo werden die Begriffe „Wissenschaft“ und „Leben“ enger miteinander verknüpft als im Begriff der „Lebenswissenschaft“, der „life science“. Im Deutschen wurde, wie der Theologe Christoph Markschies, Präsident der Humboldt-Universität zu Berlin, gezeigt hat, der Begriff der Lebenswissenschaft zuerst auf die Ethik angewandt. Der Göttinger Popularphilosoph Christoph Meiners erläuterte im Jahr 1801 sein Verständnis der Ethik dadurch, dass er sie als „Lebenswissenschaft“ bezeichnete. Auf die Naturwissenschaften dagegen wurde das Wort erst mehr als einhundert Jahre später angewandt. Es war der große Wiener Biologe Ludwig von Bertalanffy, der 1930 die Biologie als „Lebenswissenschaft“ bezeichnete und von der Biologie aus eine Systemtheorie entwickelte, die darauf zielt, die Trennung von Natur- und Geisteswissenschaften zu überwinden. Darin ist schon eine Tendenz dazu angelegt, den Begriff der Lebenswissenschaften in einem entgrenzenden Sinn zu verwenden; denn folgerichtigerweise gibt es eigentlich nichts mehr, was nicht auch als Lebenswissenschaft zu bezeichnen wäre: nicht nur Biologie und Medizin, sondern nach Auffassung der Deutschen Forschungsgemeinschaft auch Agrar- und Forstwissenschaften, aber alsbald dann auch Literaturwissenschaft, Geschichte, Theologie und sofort. Spätestens seit dem „Jahr der Lebenswissenschaften“ 2001 taugt die Berufung darauf, eine Lebenswissenschaft zu betreiben, aber auch als Anspruchstitel für besondere Förderung; insofern ist der Begriff schon längst in das Wettbewerbssystem der wissenschaftlichen Institutionen eingezeichnet.

 Mir geht es jedoch nicht darum, durch die Auszeichnung bestimmter Wissenschaften als Lebenswissenschaften diesen einen Vorrang im System der Wissenschaften einzuräumen. Erst recht geht es mir nicht darum, die Grenzen zwischen den Wissenschaften durch einen beliebig dehnbaren Begriff der Lebenswissenschaft zu verwischen. Es geht mir vielmehr um die elementare wissenschaftsethische Einsicht, dass Wissenschaft dem Leben dient – und nicht etwa über das Leben herrscht.

Das ist freilich nicht so selbstverständlich, wie es klingt. Denn ursprünglich ist der Wissenschaft nicht der Bezug zum Leben, sondern zur Wahrheit eingestiftet. Wissenschaft steht im Dienst der Wahrheit; sie ist auf Wahrheitserkenntnis ausgerichtet. Soweit sie mit dem Leben zu tun hat, geschieht dies auf die doppelte, jeweils präzise Weise, dass sie einerseits naturwissenschaftlich das „biologische“ Leben zu verstehen versucht und andererseits ethisch zum guten Leben anleitet, das die Tradition des Aristoteles sogar unbefangen ein glückliches Leben nennt. Lebenswissenschaft in diesem Verständnis sucht nach Wahrheit im Blick auf die Gesetze, denen das natürliche Leben folgt, wie im Blick auf die Gesetze, denen ein moralisches Leben folgen soll.

Wir sind indessen schon längst in einer Epoche angekommen, in der Wissenschaft nicht mehr nur um der Wahrheit willen betrieben, sondern auf ihre Wirkungen hin betrachtet wird. Wissenschaft hat den Charakter eines Projekts angenommen und wird bestimmten Zielen untergeordnet. Die globalisierte Wissenschaft ist zu einem Sonderfall der globalisierten Wirtschaft geworden. Mit der Projektförmigkeit der Wissenschaft tritt auch die wissenschaftsethische Debatte in eine neue Phase ein. Die in unserem Land grundrechtlich gewährleistete Freiheit von Forschung und Lehre steht nicht mehr nur in einer unauflöslichen Beziehung zur Wahrheitsverpflichtung der Wissenschaft; sie wird vielmehr auch in Anspruch genommen, um die Wissenschaft im deutschen oder europäischen Kontext angesichts eines weltweiten Wettbewerbs konkurrenzfähig zu halten. Grenzen, die der Wissenschaftsfreiheit ansonsten im Blick auf hochrangige Güter – den Schutz des Lebens beispielsweise – gezogen sind, werden tendenziell hinausgeschoben, um diese Konkurrenzfähigkeit zu sichern. In einer Welt, die keine homogenen moralischen Maßstäbe kennt – oder sich noch nicht auf sie verständigt hat –, besteht die evidente Gefahr, dass der kleinste gemeinsame Nenner die Richtung für alle bestimmt. Dem vorzubeugen, dient mein Vorschlag, sich so weit wie irgend möglich an dem schlichten Satz zu orientieren: Die Wissenschaft dient dem Leben.

Mit diesem elementaren Satz verbindet sich die Einsicht, dass es ein selbstwidersprüchlicher Weg ist, wenn man Leben opfert, um Leben zu schützen oder zu fördern. Wir alle wissen von den großen Ausnahmesituationen des Lebens – der Notwehr oder der Nothilfe vor allem – , in denen das Opfer des einen Lebens um der Rettung eines anderen Lebens als unvermeidlich erscheint. Aber uns allen ist auch bewusst, dass es nur zu moralischer Verrohung führen kann, wenn man diese Ausnahme zur Regel erklärt.

Kann die Wissenschaft überhaupt vor die Frage geraten, Leben zu opfern, um Leben zu  fördern? Früher stellte sich diese Frage am ehesten im Blick auf Tierversuche. Dann stellte sich die Frage, ob die Organtransplantation in diesen Grenzbereich führt; mit der Hirntoddefinition versuchte man dem Dilemma zu entgehen, das sich hier zeigte. Inzwischen hat sich mit der künstlichen Reproduktion menschlichen Lebens ein vergleichbares Dilemma aufgetan. Denn damit hat die Wissenschaft eine Zugriffsmöglichkeit auf die frühesten Stufen des menschlichen Lebens gewonnen, die zuvor nicht gegeben war. Welche Grenzen müssen diesem Zugriff gesetzt werden?

Dürfen menschliche Embryonen zu anderen Zwecken als denen der Entstehung menschlichen Lebens hergestellt werden? Auch wenn diese Frage, wie in Deutschland, mit einem klaren Nein beantwortet wird, entstehen gleichwohl Embryonen, deren Implantation in den Uterus einer Mutter nicht möglich ist. Dürfen aus ihnen Stammzelllinien entwickelt werden, die dann der Forschung zur Verfügung stehen – mit möglicherweise lebensdienlichen und lebensförderlichen Folgen? Wir haben in den vergangenen Jahren in Deutschland um diese Frage erneut gerungen; der Gesetzgeber hat sich noch einmal zu einem Kompromiss bereit gefunden, der den Stichtag für solche Stammzelllinien einmalig auf ein neues, abermals zurückliegendes Datum verschob. Die Debatte hat gezeigt, wie dringend wissenschaftliche Fortschritte zu wünschen sind, die, beispielsweise durch induzierte pluripotente Stammzellen oder durch die Reprogrammierung adulter Stammzellen, den Rückgriff auf embryonale Stammzellen entbehrlich macht. Auch diese Hoffnung ist von dem Wunsch geleitet, die Wissenschaft möge sich in ihrem Handeln möglichst klar und unzweideutig an dem Grundsatz orientieren: Wissenschaft dient dem Leben.

IV.

Dieser Grundsatz beruht auf einer Voraussetzung, von der abschließend die Rede sein soll. Er beruht auf der Voraussetzung, dass das Verhältnis menschlichen Handeln zum Leben und zum Tod nicht symmetrisch ist. Zwar kann man gegenwärtig auf Deutungen der menschlichen Selbstbestimmung stoßen, nach denen diese Selbstbestimmung in gleicher Weise auf den Tod wie auf das Leben gerichtet ist. Niemand könne daran gehindert werden, so wird dann gesagt, aus freier Selbstbestimmung für sich den Tod und nicht das Leben zu wählen. Doch auch wenn aus Respekt vor der Selbstbestimmung des Menschen die Strafbarkeit des Suizids aus unserer Rechtsordnung verbannt wurde, folgt daraus keine Gleichwertigkeit der Entscheidung für das Leben und für den Tod. Aber, so mag man einwenden, gehört zur Lebenskunst nicht auch die Bereitschaft, das Sterben anzunehmen, wenn seine Zeit gekommen ist? Gewiss – doch diese Bereitschaft gründet nicht darin, dass der Freiheit für das Leben eine gleichrangige Freiheit für den Tod zur Seite träte. Es ist nicht die Freiheit für den Tod, sondern die Freiheit vom Tod, die uns Menschen ermöglicht, Sterben und Tod anzunehmen, wenn ihre Zeit gekommen ist. Diese Freiheit wurzelt in der Gewissheit, dass Leiden, Krankheit und Tod nicht das letzte Wort über unser Leben sind; denn diesem Leben ist eine über all das hinausweisende Gültigkeit zugesprochen, die wir als ewiges Leben bezeichnen.

Religiös und ethisch gibt es keine Gleichwertigkeit zwischen der Option für das Leben und der Option für den Tod. Besteht rechtlich eine solche Gleichwertigkeit? Das Bundesverfassungsgericht hat formuliert, die Freiheit des Einzelnen bestehe in der „Selbstbestimmung über den eigenen Lebensentwurf und seinen Vollzug“. Für die individuelle Lebensführung, so hat der Verfassungsrechtler Horst Dreier unlängst in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung (30. August 2008) erläutert, kann das auch Entscheidungen einschließen, die unvernünftig, medizinisch unvertretbar, ja selbstzerstörerisch sind. Doch selbst wenn das Grundrecht auf Selbstbestimmung solche Entscheidungen einschließt, ergibt sich daraus kein Verzicht auf den Versuch, einen Menschen dazu zu bewegen, dass er nicht zu unvernünftigen, medizinisch unvertretbaren und selbstzerstörerischen Handlungsweisen greift. Gerade auf solche Situationen bezieht sich unsere Pflicht zur Fürsorge und zur Verantwortung für fremdes Leben. Dem Mitmenschen auch in solchen Situationen zu raten, beizustehen und zum Leben zu helfen, ist unsere vorrangige Aufgabe. Seine Entscheidung ist zu respektieren; die Einsamkeit, die ihn vielleicht zu dieser Entscheidung führt, ist dagegen nicht hinzunehmen. Alle Anstrengung ist darauf zu richten, dass er nicht unberaten und unbegleitet zu einer solchen Entscheidung kommt. Mir wäre lieb, man würde öffentlich mehr über diese Aufgabe diskutieren als über die Konstruktion von Maschinen, die einem Menschen die Selbsttötung erleichtern sollen.

Aber wir lieben eingeengte und zugespitzte Diskussionen. Auch die Diskussion über die Patientenverfügung folgt diesem Muster. Was kann geschehen, wenn ein Mensch nicht mehr hör- und äußerungsfähig ist? Für eine solche Situation ist eine Patientenverfügung ein wichtiges Instrument, aber im Blick auf das Fehlen einer Möglichkeit zur direkten Kommunikation eben doch nur ein Notbehelf. Sie ist als Ausdruck der Selbstbestimmung des Menschen zu achten; aber sie ist alles andere als ein „Königsweg“. Wichtiger könnte es sein, einen Menschen des persönlichen Vertrauens zu finden, dem man für einen solchen Fall eine vorsorgende Vollmacht erteilt. Doch darüber wird nicht so viel diskutiert; denn es ist weniger spektakulär. Es setzt voraus, dass Menschen sich aufeinander verlassen und füreinander einstehen. Das erscheint als so normal, dass man darüber gar nicht reden mag. Doch je riskanter unser Leben wird, desto wichtiger werden die elementaren Lebensgewissheiten – insbesondere Vertrauen und Zuversicht.

Auch für die Wissenschaft sind solche elementaren Lebensgewissheiten von großer Bedeutung. Daran wollte ich erinnern. Mich fasziniert das Eindringen in die Geheimnisse des Lebens, das uns heute in einem fesselnden Beispiel entgegentritt. An einem solchen Beispiel lässt sich lernen, was es bedeuten kann, wenn Wissenschaft dem Leben dient.