Festrede zur Eröffnung der Lutherdekade in der Schlosskirche zu Wittenberg

Wolfgang Huber

I.

„Wittenberg, ruhmreiche Stadt Gottes, Sitz und Burg der wahren katholischen Lehre, Hauptstadt des sächsischen Kurfürstentums, die berühmteste Universität in Europa und der bei weitem heiligste Ort des letzten Jahrtausends“ so lautet die Überschrift über einer Wittenberger Stadtansicht um 1560. Es ist ein kolorierter Holzschnitt Lucas Cranachs des Jüngeren und seiner Werkstatt.

Nur etwa fünfzig Jahre früher sprach man über Wittenberg noch nicht in so hohen Tönen. Man befürchtete vielmehr, es liege „in termino civilitatis“, am Rande der Zivilisation. Dennoch folgte der Erfurter Augustinermönch Martin Luther 1508 dem Ruf Friedrichs des Weisen, an der jungen Wittenberger Universität Philosophie zu lehren.

Heute trägt diese Stadt den Namen „Lutherstadt Wittenberg“. Den Namen des Mannes, der ihr zu weltweitem Ruf verholfen hat, hat sie sich zu Eigen gemacht.
Hier in der Schlosskirche fanden Martin Luther und Philipp Melanchthon ihre letzte Ruhe; das preußische Herrscherhaus ließ sie zu einer Reformationsgedächtniskirche umbauen.

An diesem Ort, in dieser Stadt eröffnen wir feierlich die Lutherdekade, die auf das Jubiläum der Reformation 2017 hinführt. Die Lutherdekade legt ein besonderes Gewicht auf den Lebensweg Martin Luthers, des Reformators. Eine Reformdekade tritt ihr zur Seite, in der wir die Konsequenzen bedenken, die sich aus dem Anstoß der Reformation heute ergeben. Die Jahre 2008 bis 2017 sollen in unserer Kirche eine Dekade der Reform sein, wie sie ein Jahrzehnt der Erinnerung an Martin Luther sind.

Die Faszinationskraft der Person Martin Luthers kann Entdeckerfreude auslösen. Dass damit weder national noch konfessionell eine Engführung gemeint ist, macht schon der heutige Tag deutlich; mein besonderer Dank gilt dem Präsidenten des Lutherischen Weltbunds, Bischof Mark Hanson, dafür, dass er das durch seine Anwesenheit unterstreicht. Die kommenden Jahre werden das wieder und wieder unter Beweis stellen.

II.

Der Erfurter Augustinermönch Martin Luther war bei seinen Freunden und Kommilitonen als Musikliebhaber und geselliger Student bekannt. Doch in seinem Innern durchgrübelte er zugleich Tag und Nacht die Frage nach dem gnädigen Gott. Ihn beschäftigte die Frage: „Wie bekomme ich einen gnädigen Gott?“
Heute heißt diese Frage: Wofür bin ich da? Was ist meine Aufgabe im Leben? Wie finde ich zu einem sinnerfüllten Leben? Wenn es denn Gott gibt – kann ich etwas tun, was bei ihm Anerkennung findet?

Luther entdeckte damals in der Bibel eine Antwort, die trägt. Er lernte durch sein Studium der Heiligen Schrift Neues über Gott. Im Römerbrief des Apostels Paulus, den er in den frühen Wittenberger Jahren unermüdlich studierte, stieß er auf die Gerechtigkeit, die vor Gott gilt – nämlich eine Gerechtigkeit, die Gott selbst schafft. Welche andere sollte denn vor Gott gelten können? Klar trat ihm vor Augen, was es bedeutet, wenn es im Römerbrief heißt: „Der Gerechte wird aus Glauben leben“ (Römer 1,16f).

 Die existentielle Kraft, die nach Luthers eigenem Zeugnis dieser Glaubenseinsicht zukam, lässt sich auch heute erschließen. Niemand muss sich einen gnädigen und barmherzigen Gott verdienen, weil Gott immer schon gnädig und barmherzig ist. Niemand muss sich einen Lebenssinn erarbeiten, es gilt, ihn im Glauben zu finden. Kein Mensch muss Gott gütig stimmen, sondern Gott bestimmt uns durch seine Güte. Gott erweist sich als gnädig, deshalb brauchen wir ihm nichts zu beweisen. Wer das glaubt, der ist gerettet. „Der Gerechte wird aus Glauben leben.“

Diese Erkenntnis brachte einen Wind der Freiheit in die fest gefügte mittelalterliche Welt. Die Angst vor einem richtenden, strafenden Gott, die Sorge um das zukünftige Seelenheil, der Zweifel im Blick auf die eigene Würdigkeit und Rechtschaffenheit – die Sorgen einer ganzen Weltsicht fielen in sich zusammen. Die Entdeckung der Gnade Gottes weckte eine neue Lust an der Freiheit. Frei von den Alpträumen der Sorge. Frei für die Liebe zu Gott. Frei für den Dienst am Nächsten. Eine solche Erfahrung änderte alles, sogar den Namen: Aus Martin Luder wird Martin Luther, damit das griechische Wort für Freiheit, eleutheria, im Namen des Reformators anklingt.

III.

Dieser Schritt ins Freie bestimmt das Gedenken an Luther bis auf den heutigen Tag. Er soll die Lutherdekade zu einer Dekade der Freiheit machen.
Damit ist ihr ein Thema vorgegeben, das heute von einer unüberbietbaren Aktualität ist. In unserem Leben als einzelne wie in der Gemeinschaft mit anderen nehmen wir wahr, dass unsere Seele, wie Luther sagte, eine „Harrerin“ ist; sie streckt sich aus nach einem Anker, ohne den Freiheit nicht gelingt. Zugleich zeigt sich aufs Neue, wie sehr Menschen in aller Welt sich nach der Freiheit von Not wie von Furcht sehnen. In einer Zeit, in der eine globale wirtschaftliche Dynamik die Verarmung großer Bevölkerungsschichten nicht etwa aufhält, sondern beschleunigt, bekommt die Frage nach der Freiheit von Armut und Not erneute Dringlichkeit. In einer Zeit, in der ein weltweit agierender Terrorismus Furcht auslöst und Kriege in neuer Gestalt um sich greifen, wird die Freiheit von Furcht zu einem Alltagsthema.

Zugleich fragen sich Menschen, wozu sie frei sein wollen. Sie spüren, dass materielle Sicherungen allein weder Frieden noch wirklichen Wohlstand bringen.

 Viele allzu glatte Hinweise auf solches Suchen sind heute zu hören. Die Wiederkehr des Interesses an Religion führt nicht allein zu einer neuen Aufmerksamkeit für die Botschaft des Evangeliums. Sie beschert uns auch viele Varianten einer eingängigen, ja marktgängigen Religiosität. Ein Gott, der alle Probleme löst, ist bequemer als der Gott, um den Martin Luther gerungen hat. Mit einfachen, fundamentalen Antworten soll der Sinn des menschlichen Lebens beschrieben und die Furcht bewältigt werden. Aber Schwarz-Weiß-Bilder werden dem Leben nicht gerecht.

Zu den Besonderheiten der Theologie Martin Luthers gehört es, dass er sich nicht über die Rätsel und die Ausweglosigkeiten des Lebens hinwegsetzte. Zu der Freiheit, die er lehrte, gehörte auch die Bereitschaft, der Anfechtung standzuhalten, und die Verborgenheit Gottes nicht zu übertünchen oder zu übertönen. Dass alle gute christliche Theologie eine Theologie des Kreuzes sei, war eine seiner tiefsten und bleibenden Erkenntnisse.

Gegenüber dem Fortschrittsoptimismus der Moderne liegt darin ein wichtiges Gegengewicht. Die Siegeszüge neuzeitlicher Weltbeherrschung haben das nüchterne Bild vom Menschen nicht außer Kraft gesetzt, für das Luther eintrat. Er pries die im Glauben geschenkte Freiheit deshalb so hoch, weil er davon überzeugt war, dass der Mensch von sich aus unfrei ist, ein Gefangner der Sünde, auf sich selbst fixiert, ein in sich verkrümmtes Wesen. Zum aufrechten Gang rief er deshalb auf, weil er wusste, dass die Freiheit sich nicht von selbst versteht.

Genau aus diesem Grund ist die Stimme reformatorischer Kirchen in unserer Zeit unentbehrlich. Sie versteht die Freiheit eines Christenmenschen zu allererst als Abschied von den Verkehrungen der menschlichen Existenz, als Rettung aus den Desorientierungen des menschlichen Daseins, als Befreiung aus den Ketten der Sünde und des Todes.

„Wir sind Bettler, das ist wahr.“ So heißen die Worte, die Luther auf seinem Sterbebett zurückließ. Auch sich selbst gegenüber war er von äußerster Nüchternheit.

  Deshalb ist die Lutherdekade kein Jubeljahrzehnt. Gerade, wer den reformatorischen Aufbruch als einen Aufbruch zur Freiheit versteht, wird Schatten und Grenzen der Person Martin Luthers wie der Reformation insgesamt nicht aussparen. Wie tief Luthers Empfindungen mit der mittelalterlichen Welt verbunden blieben, braucht nicht verschwiegen zu werden. Dass es Phasen in seinem Leben gab, in denen er hinter jedem Busch einen Teufel witterte, wirkt auf uns Heutige befremdlich – auch wenn unser manchmal reichlich harmloses und oft genug nur vermeintlich aufgeklärtes Weltbild zu Rückfragen Anlass gibt.

Luthers mitunter polemischer Charakter, seine ambivalente Rolle in den Bauernkriegen, seine beschämenden Aussagen zu den Juden und sein Kommentar zu den Expansionsbestrebungen des Osmanischen Reichs – all dies gehört in das Bild seiner Person hinein. Gesundheitliche Belastungen trugen zu seinem manchmal aufbrausenden Wesen bei. Wir reden von einem Menschen mit seinem Widerspruch.  Vergangene Jubiläumsfeiern für Martin Luther wie für die Reformation haben diese Ambivalenz mitunter verdrängt.

Zurückliegende Jubiläen können auch als Lehrstunden dafür dienen, wie Luther für das „nationale Erbe“ vereinnahmt wurde. So sehr wir Luthers Beitrag zur deutschen Kultur, insbesondere die Prägekraft, mit der er die deutsche Sprache gestaltete, würdigen, so wenig Anlass haben wir, die Überlegenheitsgesten zu wiederholen, mit denen Martin Luther und ein vermeintliches „deutsches Wesen“ zusammengebracht wurden. Deutsche im Inland wie auch im Ausland wurden unter Berufung auf Luther lange Zeit dazu verführt, Patriotismus und Nationalismus miteinander zu verwechseln.

 All das wird im Blick sein, wenn in den vor uns liegenden Jahren intensive wissenschaftliche Studien zu Leben und Theologie Martin Luthers wie zur Reformation und ihrer Wirkungsgeschichte erarbeitet werden. Konferenzen, Ausstellungen und herausragende Ereignisse werden vielfältige Zugänge zur Person Luthers und zur Reformation eröffnen. Vor allem aber wird es darum gehen, die Bedeutung zu entfalten, die der reformatorischen Entdeckung der Freiheit für Gegenwart und Zukunft zukommt.

IV.

Ebenso wichtig wie die Frage, wovon der christliche Glaube befreit, ist auch die andere Frage, wozu er in die Freiheit ruft. Denn die Zusage der Freiheit setzt Menschen in Bewegung und bewahrt sie davor, in egoistischer Verkrümmung zu verharren. Reformatorischer Glaube zielt auf den rechten Gebrauch der Freiheit. Ohne Umschweife sage ich: Wohlverstandene Freiheit braucht den Bezug zu Gott. Die darin gründende Einheit zwischen einer „Freiheit von“ und einer „Freiheit für“ fasst Luther in der berühmten Doppelthese zusammen: „Ein Christenmensch ist ein freier Herr über alle Dinge und niemandem untertan. Ein Christenmensch ist ein dienstbarer Knecht aller Dinge und jedermann untertan.“

Wer die Unfreiheit in sich selbst zurücklassen kann, wird frei zum Lob Gottes wie zum Einsatz für den Nächsten. Dass Christen allen Dingen frei gegenüber treten können, bewährt sich gerade darin, dass sie aus freien Stücken Diener sein können. Gerade weil Gott jedem Menschen den aufrechten Gang schenkt, kann jeder Mensch die Knie beugen: zum Gebet zu Gott wie zum Einsatz für den Nächsten. Darin finden wir bis heute die reformatorische Grundlegung für eine Verantwortung aus Freiheit und für die Freiheit. Sie schließt das Bemühen um die Bewahrung und Entfaltung der Freiheit ein – und zwar der eigenen ebenso wie der fremden Freiheit.

Luther benutzte dafür ein schlichtes Bild. Er verglich das christliche Leben mit einem guten Baum, der gute Früchte bringt. Dieser Baum kann gar nicht ohne gute Früchte sein; aber die guten Früchte bewirken nicht, dass der Baum gut ist. In diesem Sinn gehören die guten Werke – Luther scheute vor diesem Ausdruck keineswegs zurück – unlöslich zum christlichen Leben. Drastisch heißt es bei ihm: „Folgt die Liebe nicht, so ist der Glaube gewisslich nicht da.“

Damit verbindet sich ein weiterer Gedanke. Wenn es allein Gott ist, der jedem Menschen durch den Glauben an Christus Freiheit und Würde zuspricht, dann ist jeder Mensch gleich unmittelbar zu Gott. Jeder soll deshalb auch einen eigenen Zugang zu dem haben, was Gott ihm schenkt. Dieses Geschenk begegnet ihm zuallererst in der Bibel. „Denn – so Luther – Gott hat uns keine andere Treppe gegeben noch einen anderen Weg gewiesen, darauf wir in den Himmel gehen können, denn sein liebes Wort.“

Um diesem lebendigen Wort zu begegnen, muss man sich in die Heilige Schrift vertiefen. Deshalb hat die Reformation die Bibel in der Muttersprache zugänglich gemacht und so viel Wert darauf gelegt, dass alle Menschen Lesen und Schreiben lernen. In der reformatorischen Tradition ist Bildung eine der Folgen der christlichen Freiheit. Philipp Melanchthon gab für diese Bildung eine klare Parole aus: „Wähle dir vom Besten das Beste aus, und zwar, was zur Kenntnis der Natur und zur Bildung des Charakters beiträgt. Vor allem ist hierbei die griechische Bildung vonnöten, die die gesamte Naturwissenschaft umfasst, um über die Ethik sachkundig und gewandt sprechen zu können.“

Ich zitiere diese Worte, weil sie zeigen, wie sich die Reformation in die europäische Bildungsgeschichte eingezeichnet hat. Europa in seiner durch Antike und Christentum geprägten Gestalt und eine Bildung, die diese Gestalt  erschließt, gehören zusammen. „Beste Bildung für alle“ ist der Impuls der Reformation. „Beste Bildung für alle“, ob Migranten- oder Einzelkind, ob mit Behinderungen oder hochbegabt – das ist die Herausforderung unserer Zeit. Mündige Christen treten für die Bildung mündiger Bürger ein. Bildungschancen können deshalb nicht nach der sozialen Herkunft verteilt werden; überkommene Strukturen dürfen den freien Zugang zur „besten Bildung für alle“ nicht behindern. Hier in Wittenberg wurde eine Vorstellung von Bildung entwickelt, die über spätere Verengungen des Bildungsbegriffs weit hinausreicht.

Wenn alle Menschen gleich unmittelbar zu Gott sind und einander aus der Freiheit eines Christenmenschen zu Dienern werden, dann steht zwischen ihnen selbst genauso wie zwischen dem einzelnen Menschen und Gott keine Institution, keine Hierarchie, keine Zwischeninstanz. Hier wird die Radikalität wieder spürbar, mit der zuerst der Apostel Paulus den christlichen Glauben verstanden hat: „Hier ist nicht Jude noch Grieche, hier ist nicht Sklave noch Freier, hier ist nicht Mann noch Frau; denn ihr seid allesamt einer in Christus Jesus“ (Galater 3, 28). Es ist kein Wunder, dass sich aus dieser Gleichheit vor Gott ein „Priestertum aller Glaubenden“ ableitete. Das Bild einer christlichen Gemeinschaft wurde entworfen, die sich ohne geistliche Standesunterschiede Gott zuwenden und priesterlich füreinander eintreten wollten, weil jeder Getaufte zum Glaubenszeugnis in Wort und Tat berufen ist. Keine derartige Berufung zeichnet sich vor der anderen durch eine besondere Weihe oder ein besonderes Gelübde aus; deshalb ist die Übernahme jeder ethisch zu verantwortenden weltlichen Aufgabe zugleich eine „Berufung“ im geistlichen Sinn.

Hier liegt der Ursprung der neuzeitlichen Vorstellung vom Beruf. Auch die Prägung dieses Worts geht auf Luther zurück. Mit ihm vollzieht sich eine unerhörte Aufwertung des Diesseits; denn der weltliche Beruf gilt nun als der vornehmste Bewährungsraum des Glaubens. Diese Auffassung vom Beruf hat die moderne Welt, gerade auch das Feld wirtschaftlicher Verantwortung geprägt. Nicht nur auf Calvin, sondern auch auf Luther muss man achten, wenn man den reformatorischen Wurzeln der modernen kapitalistischen Wirtschaftsweise nachgehen will.

Von dem Verständnis der Kirche als einer Gemeinschaft der Gleichen gehen auch gesellschaftspolitische Impulse aus. Doch der verschlungenen Vorgeschichte der modernen Demokratie will ich an dieser Stelle nicht nachspüren. Der Beitrag der Reformatoren zu ihrer Entwicklung wurde für viele dadurch verdunkelt, dass sie den Auswüchsen eines schwärmerischen Freiheitsbewusstseins so energisch entgegentraten. Dennoch bleibt wahr: Der Gedanke der geistlichen Gleichheit vor Gott wurde zu einer entscheidenden Triebkraft auf dem Weg zur Demokratie, die sich in protestantisch geprägten Staaten wie den Niederlanden und der Schweiz, aber auch in Großbritannien und den USA die Bahn brach.

Die kulturellen Wirkungen der Reformation, des Aufbruchs zur Freiheit, reichen tief hinein in die politische Kultur unserer Zeit. Es ist deshalb eine wichtige Aufgabe der Lutherdekade, das kulturelle Gedächtnis zu stärken und unserem kulturellen Bewusstsein das nötige Maß an historischer Tiefenschärfe zu verleihen.

V.

Ein Letztes: Es war nicht Luthers Absicht, eine neue Kirche zu gründen. Vielmehr ging es ihm darum, die Kirche, in der er lebte und der er dienen wollte, aus ihrer „babylonischen Gefangenschaft“ zu befreien. Er sah in der einen Kirche Jesu Christi eine Kirche der Freiheit. Luther wollte eine Reform seiner katholischen Kirche an Haupt und Gliedern, keine neue Kirche. Zur Trennung der Konfessionen haben mehrere, darunter auch ganz weltliche Faktoren beigetragen. Sie ist aus dem Handeln und Unterlassen aller Beteiligten entstanden. Ob wir von den Ursachen und Wirkungen der Reformation heute ein gemeinsames Bild haben und dieses Bild auch gemeinsam formulieren können, ist deshalb ein wichtiger Prüfstein dafür, wie weit wir mit der ökumenischen Gemeinschaft der Kirchen gekommen sind. Der Versuch, ein gemeinsames Verständnis der Rechtfertigungslehre zu formulieren, war – mitsamt den Begrenztheiten dieses Versuchs – ein Schritt in dieser Richtung, dem weitere folgen müssen. Dann besteht die Aussicht, dass das Reformationsjubiläum 2017 wirklich zu einem ökumenischen Ereignis wird. Wir wollen diesen Weg ebenso mit der römisch-katholischen Kirche wie mit anderen christlichen Kirchen gemeinsam gehen. Dabei sind die aus der Reformation hervorgegangen Kirchen, mit denen wir in kirchlicher Gemeinschaft stehen, ebenso von Bedeutung wie die weltweite Gemeinschaft lutherischer Kirchen.

Luther ist eine europäische, ja eine weltgeschichtliche Figur. Die Reformation hat nicht nur Wittenberg und Torgau verändert, auch nicht nur Speyer oder Heidelberg. Für zahlreiche Städte in Europa und in der ganzen Welt gilt, dass sich ihre Geschichte nicht ohne den Bezug auf die Reformation erzählen lässt. Luther gehört nicht allein den Deutschen. Die Lutherdekade wird international ausgerichtet sein; viele Besucher aus aller Welt werden das an den Ursprungsorten der Reformation deutlich machen.

Die aus der Reformation hervorgegangenen Kirchen sehen sich in Kontinuität mit der alten Kirche. Grundlegend sind für sie alle zusammen mit der Heiligen Schrift die Glaubensbekenntnisse der Alten Kirche. Miteinander sind sie durch eine zweitausendjährige Geschichte geprägt, zu der Augustin ebenso gehört wie Martin Luther, Wilhelm von Ockham ebenso wie John Wesley, Thomas von Aquin ebenso wie Friedrich Schleiermacher. Aber nicht nur an die Autoren großer und großartiger Theologie sollten wir denken, sondern ebenso an die Beispiele besungener und gelebter Frömmigkeit.

Der Name Martin Luthers steht auch dafür, dass der christliche Glaube besungen, dass in der christlichen Gemeinde gesungen und musiziert wird. Als Autor von Texten und Melodien hat Luther in unserem Evangelischen Gesangbuch zusammen mit dem nahe bei Wittenberg, nämlich in Gräfenhainichen geborenen Paul Gerhardt eine Spitzenstellung inne. Und ebenso steht Martin Luthers Name dafür, dass jede christliche Gemeinde sich in der gemeinsam wahrgenommenen Nächstenliebe bewährt. Seine „Ordnung des gemeinen Kastens“ schlägt die Brücke zu den Impulsen, die sich mit dem Namen von Johann Hinrich Wichern verbinden, der das Programm der Inneren Mission 1848 an keinem anderen Ort verkündete als in Wittenberg. Deshalb hängt sein Bild in dieser Kirche.

Die Lutherdekade steht am Anfang. Die Erinnerung an die Ankunft Martin Luthers in Wittenberg im September 1508 bringt uns auf seine Spur. Nun gilt es, aus diesen Wurzeln Kraft und Ideen zu schöpfen für  eine Kirche, die auch heute und morgen, Luther folgend, von dem Gott der Freiheit und der Gnade begeistert und einladend erzählt, und für eine Gesellschaft, die solchen Impulsen Raum gibt und sie aufnimmt.

Auch für die Lutherdekade wird dabei gelten, was Luther vom christlichen Leben sagte: Es „ist nicht ein Frommsein, sondern ein Frommwerden, nicht ein Gesundsein, sondern ein Gesundwerden, nicht ein Sein, sondern ein Werden, nicht eine Ruhe, sondern eine Übung. Wir sind’s noch nicht, wir werden’s aber. Es ist noch nicht getan und geschehen, es ist aber in Gang und im Schwung. Es ist nicht das Ende, es ist aber der Weg.“