Impulsreferat „Der Schutz der Privatsphäre aus der Sicht der Kirche“

Wolfgang Huber

Impulsreferat bei der Veranstaltung des Deutschen Anwaltsvereins in Kooperation mit dem Deutschen Journalistenverband und dem Hartmannbund zur „Gefährdung der Privatsphäre – Schutz der Vertraulichkeit im Gespräch mit Anwälten, Ärzten, Geistlichen und Journalisten im freiheitlich-demokratischen Rechtsstaat“

I.

Kirchliches Handeln gehört zu den zentralen Bereichen, in denen der Schutz der „Privatsphäre“ auf dem Spiel steht. Denn Seelsorge ist ein zentraler Bereich kirchlichen Handelns. In ihr geht es darum, dass Menschen Vorgänge und Fragen ihres persönlichen Lebens einem andern gegenüber zur Sprache bringen, weil sie sich von ihm Halt und Trost, Vergebung und Neubeginn, Vergewisserung und Orientierung erhoffen. Innerhalb der christlichen Seelsorge kommen dem Bekenntnis der Schuld und der Zusage der Vergebung, also Beichte und Absolution eine zentrale Stellung zu. Aber die Seelsorge ist nicht auf den Beichtstuhl beschränkt; Seelsorge findet in den verschiedenen christlichen Kirchen in vielfältigen Formen statt. Dass ihre Vertraulichkeit sowohl kirchlich als auch staatlich geschützt ist, hat für die Vertrauenswürdigkeit kirchlichen Handelns zentrale Bedeutung.

Kirchlicherseits hat dieser Schutz seinen Kern in der Pflicht zur seelsorgerlichen Verschwiegenheit. Sie ist durch kirchliches Recht gesichert und im Fall des geistlichen Berufs – also dem Beruf des Priesters oder des Pfarrers – unmittelbar mit den beruflichen Pflichten verbunden. Im katholischen Verständnis wird das durch den sakramentalen Zusammenhang unterstrichen, in den die Beichte als ein Teil des Bußsakraments gehört. Aber in der Unbedingtheit der Verschwiegenheitspflicht gibt es zwischen evangelischer und katholischer Kirche keinen Unterschied. In der evangelischen Kirche wird diese Pflicht bei jeder Ordination für den Pfarrdienst im Ordinationsvorhalt ausdrücklich angesprochen und mit der Ordinationsverpflichtung vom einzelnen Pfarrer oder der einzelnen Pfarrerin übernommen. Die Belehrung über die seelsorgerliche Schweigepflicht mitsamt ihrer eigenständigen Bedeutung gegenüber der Pflicht zur dienstlichen Verschwiegenheit ist Thema bei jeder Vorbereitung auf die Ordination.

Staatlicherseits findet die Achtung vor diesen kirchlichen Handlungszusammenhängen ihren Audruck darin, dass Trägern des Seelsorgegeheimnisses sowohl im Zivilprozess als auch im Strafprozess ein Zeugnisverweigerungsrecht eingeräumt wird. Dieses Zeugnisverweigerungsrecht gilt unbedingt; es kann also auch nicht mit Gründen der Gefahrenabwehr aufgeweicht werden.

Das Vertrauensverhältnis, das für kirchliches Handeln in diesem Bereich konstitutiv ist, kann allerdings nur dann gewahrt werden, wenn die Vertraulichkeit auch nicht von außen gestört wird, sei es durch unbefugte Dritte, sei es durch die staatliche Gewalt. Dadurch hat das kirchliche Handeln unmittelbar an den Fragen Anteil, die mit dem Schutz der Privatsphäre beziehungsweise mit der Gefährdung der Privatsphäre verbunden sind. Die Kirchen haben nicht nur ein unmittelbares Interesse daran, dass solche Gefährdungen abgewehrt und der Schutz der Privatsphäre gesichert wird. Sie haben vielmehr eine unmittelbare, aus ihrem seelsorgerlichen Auftrag abgeleitete Pflicht dazu. Sie haben in dieser Frage in keinem Sinn einen Abwägungsspielraum.

II.

Aus den geschilderten Gründen berührt sich die kirchliche Betrachtungsweise mit einer staatsrechtlichen Perspektive. In der Verpflichtung zum Schutz der Privatsphäre konkretisiert sich der Schutz der Menschenwürde. Ein Mittel dieses Schutzes ist die Privatwohnung, die zwar nicht als Raum absolut geschützt werden kann, innerhalb derer aber ein Verhalten absoluten Schutz genießt, das sich als individuelle Entfaltung im Kernbereich privater Lebensgestaltung darstellt. Zu diesem unantastbaren Kernbereich privater Lebensgestaltung gehört nach den Aussagen des Bundesverfassungsgerichts (BVerfGE 109, 279 ff.) die Möglichkeit, innere Vorgänge wie Empfindungen und Gefühle sowie Überlegungen, Ansichten und Erlebnisse höchstpersönlicher Art zum Ausdruck zu bringen, und zwar ohne Angst, dass staatliche Stellen dies überwachen. In diesen Kernbereich der Lebensgestaltung sind Eingriffe selbst bei überwiegenden Interessen der Allgemeinheit nicht zu rechtfertigen.

Die Betonung des Eigenwerts der Privatsphäre gegenüber der Öffentlichkeit, die in der freiheitlich demokratischen Grundordnung in dieser Weise verankert ist, fußt auf der Durchsetzung individueller Persönlichkeits- und Freiheitsrechte spätestens seit der Aufklärung. Die aus dem Gebot der Achtung der Menschenwürde fließende Verpflichtung des Staates, die Privatsphäre zu schützen, ist ein Grundelement des freiheitlich demokratischen Staates. Zugleich aber hat die so umfassend geschützte Privatsphäre wiederum einen kommunikativen Aspekt. Vielfach kann sie sich nur im Rahmen von Kommunikation entfalten und ist auch in diesem Zusammenhang besonders geschützt. Wichtigstes Beispiel für die „kommunikative Privatsphäre“ ist die Lebensgestaltung innerhalb von Ehe und Familie. Ein zentrales Element der kommunikativen Privatsphäre ist aber ebenso alles, was einem andern, insbesondere einem kirchlichen Amtsträger, im Rahmen von Beichte und Seelsorge anvertraut wird.

Kirchliche und staatliche Betrachtungsweise befinden sich hier deshalb in großer Nähe zueinander, weil sich jeweiliges Verständnis der Menschenwürde unmittelbar berührt. Auch wenn das staatliche Recht die Menschenwürdegarantie nicht unmittelbar aus der Gottebenbildlichkeit des Menschen begründet, gibt es doch der Menschenwürde dadurch, dass es sie als unantastbar bezeichnet, einen absoluten Rang, der eine Abwägung mit anderen Rechtsgütern ausschließt. Zu den Konkretisierungen der Menschenwürdegarantie gehört ebenso wie die freie Entfaltung der Persönlichkeit und dem Lebensschutz die Freiheit des Gewissens sowie die Glaubens- und Religionsfreiheit. Zur Freiheit des Gewissens aber gehört es, aus eigenen Gründen zwischen dem zu unterscheiden, was man anderen mitteilen und was man anderen nicht mitteilen möchte. In diesem präzisen Sinn gehört die Unterscheidung zwischen Privatem und Öffentlichem in den Bereich der Menschenwürdegarantie.

III.

Was somit aus zwei Perspektiven grundsätzlich erörtert ist, gerät gegenwärtig auch aus zwei Perspektiven erneut in die Diskussion. Zum einen vermehren sich die Eingriffsmöglichkeiten und die Eingriffsinteressen des Staates in die Privatsphäre; zum andern wandeln sich der Charakter und die Reichweite kirchlicher Seelsorge.

Im Zuge der sich entwickelnden staatlichen Gesetzgebung zur Gefahrenabwehr wird immer wieder die Absicht laut, mit den Methoden verdeckter Informationsbeschaffung Kenntnisse zu erlangen, ohne dass Betroffene wissen, dass sie abgehört werden und dass ihre Privatsphäre beeinträchtigt wird. Es ist unschwer vorstellbar, dass auf diese Weise auch das Seelsorgegeheimnis beeinträchtigt wird und dass die Beteiligten das nicht einmal erfahren. Die Kirchen treten sowohl aus Gründen des Menschenwürdeschutzes als auch Gründen des Seelsorgegeheimnisses uneingeschränkt für einen restriktiven Umgang mit solchen Möglichkeiten sowie für deren Bindung an das Legalitätsprinzip ein. Es muss ihnen in solchen Zusammenhängen darum gehen, dass der Schutz des Beicht- und Seelsorgegeheimnisses in verfassungsgemäßer Weise gewährleistet bleibt. Auch aus Gründen der vorbeugenden Terrorismusabwehr kann es für uns keine Ausnahmen von dieser Regel geben.

Angesichts des Wandels in der Praxis der Seelsorge stellt sich zugleich die Frage nach der Definition der "Seelsorge" bzw. der Seelsorgereigenschaft neu. Was sind die Voraussetzungen dafür, dass etwas, was einer anderen Person anvertraut wird, unter den Begriff der Seelsorge fällt? Den Wandel, der sich in diesem Bereich vollzogen hat, kann man sich an vier Beispielen verdeutlichen.

Das erste Beispiel ist die Spezialseelsorge, beispielsweise in Haftanstalten und Krankenhäusern, in der Polizei und in der Bundeswehr. Seelsorgerinnen und Seelsorger haben es besonders häufig mit menschlichen Grenzsituationen zu tun. Sie bewegen sich zugleich unter Bedingungen, die man unter den Begriff der „besonderen Gewaltverhältnisse“ fasst. Staatliches Eingreifen liegt hier besonders nahe und ist besonders leicht möglich. Umso wichtiger ist es, dass die äußeren Bedingungen für diese Seelsorge ungeschmälert gesichert werden, die Vertraulichkeit der Seelsorge eingeschlossen.

Seelsorge – das ist das zweite Beispiel – vollzieht sich heute häufig in besonderen Beratungsstellen, beispielsweise für Ehe- und Familienberatung. Fachlich geschulte Beraterinnen und Berater nehmen sich der Nöte der Ratsuchenden an. Sie müssen auf Verschwiegenheit verpflichtet und in ihrem Seelsorgegeheimnis geschützt werden. Das ist ein besonders deutliches Beispiel für die Notwendigkeit, den geschützten Personenkreis über die Geistlichen hinaus auszuweiten.

Das dritte Beispiel ist die Telefonseelsorge, also eine Seelsorgeform, in der die Anonymität des Ratsuchenden gewährleistet wird und an der ein großer Zahl von geschulten Seelsorgerinnen und Seelsorgern  beteiligt ist, die in aller Regel nicht Geistliche sind. Die Gefährdung dieser Seelsorge durch das Abhören von Telefongesprächen ist mit Händen zu greifen; umso wichtiger ist die Klärung der Frage, ob diese Seelsorgeform durch das Seelsorgegeheimnis geschützt ist.

Das vierte Beispiel ist schließlich die Notfallseelsorge, in welcher Seelsorgerinnen und Seelsorger sich unmittelbare an die Orte von Krisen, Unfällen oder Katastrophen begeben und deren Opfern, den Angehörigen sowie den Einsatzkräften beistehen. Es verdient hervorgehoben zu werden, dass die Entwicklung dieser Notfallseelsorge von Polizei und Feuerwehr besonders gewünscht wurde und unterstützt wird. Umso wichtiger ist es, dass die Achtung vor der Aufgabe von Seelsorgerinnen und Seelsorgern in der Notfallseelsorge nicht durch moderne technische Überwachungsmethoden beeinträchtigt wird.

Die vier Beispiele zeigen, dass die Definition von Seelsorge sich heute nicht mehr auf die Beichte im Beichtstuhl oder das Seelsorgegespräch im Amtszimmer der Pfarrerin oder des Pfarrers beschränken kann. Eine weitere Definition ist notwendig. Diese Definition kann nicht der Staat vornehmen. Denn solche Definitionen sind Gegenstand des kirchlichen Selbstbestimmungsrechts.

Dabei liegt es im kirchlichen Interesse, das unverbrüchliche Beichtgeheimnis zu sichern und die Situationen möglichst vollständig zu erfassen, in denen Seelsorge ausgeübt wird, die der Beschränkung durch Lauschangriffe oder durch Begrenzung des Zeugnisverweigerungsrechts ausgesetzt sein könnte.

IV.

In der Evangelischen Kirche in Deutschland haben wir hierzu einen Gesetzgebungsprozess in Gang gebracht, der auf folgenden Grundgedanken beruht: Seelsorge im Sinne des geplanten Gesetzes ist aus dem christlichen Glauben motivierte und im Bewusstsein der Gegenwart Gottes vollzogene Zuwendung. Sie gilt einzelnen Menschen, die um Rat, Beistand und Trost in Lebens- und Glaubensfragen nachsuchen, unabhängig von deren Religions- bzw. Konfessionszugehörigkeit. Das Seelsorgegeheimnis steht unter dem besonderen Schutz der Kirche. Jede Person, die sich in einem Seelsorgegespräch einer Seelsorgerin oder einem Seelsorger anvertraut, muss darauf vertrauen können, dass daraus unter keinen Umständen Inhalte einem Dritten bekannt werden. Als Seelsorgerinnen oder Seelsorger werden Personen anerkannt, die dazu eine besondere kirchliche Ausbildung erhalten haben, deren Ausbildung entsprechend bestätigt ist und die über einen ausdrücklichen kirchlichen Auftrag zur Seelsorge verfügen.

Diese Seelsorge wollen wir in ihrem gesamten Umfang sichern. Wir wollen von ihr insgesamt Lauschangriffe fernhalten und das Zeugnisverweigerungsrecht für alle Personen sichern, die in dem beschriebenen Sinn am Seelsorgeauftrag der Kirche beteiligt sind. Das halten wir für notwendig, damit das Vertrauen gewahrt und gefestigt wird, das in die Seelsorge der Kirche und damit in kirchliches Handeln insgesamt gesetzt wird.

Der Schutz der Privatsphäre hat aus Sicht der Kirche wesentlich damit zu tun, dass solche Vertrauensverbindungen intakt bleiben und dass zugleich kirchliche Vertrauensberufe, in denen der kirchliche Beitrag zum Schutz der Privatsphäre geleistet wird, in ihrer Tätigkeit nicht beeinträchtigt werden. Staatliche Eingriffe in diesen Bereich müssen unterbleiben.

Vertrauen gilt nicht als juristischer Begriff. Aber das Vorhandensein wie das Fehlen von Vertrauen kann eine erhebliche rechtliche Relevanz entwickeln; ein dramatisches Beispiel führt uns derzeit die Finanzmarktkrise vor Augen. In den Zusammenhängen, die ein Theologe zu bedenken hat, ist Vertrauen gewiss zuallererst und in seinem Kern Gottvertrauen. Christen wollen zum Vertrauen in der Gesellschaft dadurch beitragen, dass sie an ihrem jeweiligen Ort das Gottvertrauen als den Grund allen Vertrauens zwischen Menschen und als den entscheidenden Maßstab auch für alles Selbstvertrauen leben und predigen. Aber zugleich kann kein Zweifel daran bestehen, dass Vertrauen eine unverzichtbare Grundbedingung der demokratischen und rechtsstaatlichen Grundordnung ist.

Vertrauen ist mit den Mitteln des Rechts nicht erzwingbar. Aber es kann nur wachsen, wenn die Rechtsordnung diejenigen Räume schützt, in denen Vertrauen sich bilden kann. Welche Möglichkeiten die Rechtsordnung dazu hat, kann man am Schutz der Privatsphäre exemplarisch studieren. Der Schutz des Seelsorgegeheimnisses ist dafür ein praktisches Beispiel. Es macht anschaulich, was mit der These gemeint ist, dass der Staat von Voraussetzungen lebt, über die er selbst nicht verfügt. Sehr wohl verfügt er aber über Instrumente, die Räume zu beschädigen oder zu achten, in denen solche Voraussetzungen sich erneuern. Weil er diese Räume nicht nur achten kann, sondern weil er dies auch soll, sprechen wir vom Rechtsstaat und setzen uns dafür ein, dass seine Maßstäbe bewahrt werden.