„Die Religionen und der Staat“ - Vortrag im Deutschen Generalkonsulat in Istanbul

Wolfgang Huber

I.

Das Verhältnis von Religion und Staat, von Religion und Politik ist in unserer Zeit neu zum Thema geworden. Denn die Religion selbst hat sich auf der öffentlichen Bühne zurückgemeldet. Heute geschieht das allerdings so, dass wir die Pluralität von Religion wahrzunehmen haben. Nicht mehr „Religion und Staat“ oder „Kirche und Staat“, sondern eben „die Religionen und der Staat“ drängen sich heute als Thema auf. Mit jeder Religion verbindet sich ein umfassender Anspruch. Es gibt keine Religion, die ohne Konsequenzen für die Lebensführung bleibt. Jede Religion gibt bzw. entwickelt Werte. Und die Religion erwartet, dass der Mensch diesen Werten entsprechend lebt.

Insofern hat jede Religion auch eine politische Dimension. Sie betrifft nicht nur das private, sondern auch das öffentliche Leben. Und nicht nur die Lebensgestaltung in Bezug auf Gott, sondern auch auf sich selbst und die Mitmenschen.

Für jeden modernen Staat gilt, dass die Lebensgestaltung in einer Form zu geschehen hat, die mit der Pluralität in der Gesellschaft vereinbar ist. Besonders die offene Gesellschaft westlicher Prägung beruht auf einer Vielfalt von Lebensvorstellungen, Weltanschauungen und Religionen, die innerhalb der Gesellschaft berechtigterweise bestehen. Vielfalt wird grundsätzlich also als positiv bewertet. Es gibt keine Norm, der gegenüber alles andere als fremd anzusehen ist. Die Ausgrenzung oder Nichtzulassung einer Vorstellung oder Lebensweise bedarf einer tiefgreifenden Begründung.

Die Beziehungen dieser unterschiedlichen Vorstellungen und Lebensweisen zueinander müssen in einem gesellschaftlichen Prozess öffentlicher Verständigung auf der Grundlage gegenseitiger Toleranz gestaltet werden. In einem langen und durchaus schmerzhaften geschichtlichen Lernprozess haben die europäischen Gesellschaften gelernt, Toleranz als das Komplementärprinzip zur Religionsfreiheit zu begreifen. Zu diesem Prozess gehören die Konfessionskriege der frühen Neuzeit genauso wie der Übergang zu innerstaatlicher religiöser Pluralität im 18. Jahrhundert. Toleranz meint dabei nicht: alles für richtig zu halten und jedem Recht zu geben. Toleranz ist keine Gleichgültigkeit.

Religiöse Toleranz in einem ernsthaften Sinn meint das Aushalten und Austragen von Differenzen in Anerkennung der Verbindlichkeit von religiösen Überzeugungen. Eine freiheitliche Gesellschaft, in der religiöse Überzeugungen ernst genommen werden, braucht eine wache, selbstbewusste Toleranz, die den Dialog einfordert, um gemeinsam Antworten auf die für alle wichtigen Fragen zu suchen.

II.

Ich erläutere diese Grundzüge beispielhaft an der Situation in Deutschland. Die Grundlage des gesellschaftlichen Zusammenlebens in Deutschland ist die freiheitliche und demokratische Verfassung des Staates. Das Zusammenleben in ihm verlangt von allen Gliedern der Gesellschaft, dass die elementaren Grundlagen, auf denen das Ganze beruht, von jedermann akzeptiert werden. Im demokratischen Rechtsstaat gibt es das Recht auf Unterschiede, aber kein unterschiedliches Recht. Die damit verbundene Problematik ist durch das Entstehen der religiös pluralen Gesellschaft deutlich hervorgetreten. Der freiheitliche Staat ist darauf angewiesen, dass er von Bürgerinnen und Bürgern getragen wird, die sich ihrer Freiheit bewusst sind und diese Freiheit verantwortlich wahrnehmen. Die Bereitschaft dazu ist den Menschen nicht angeboren, sondern muss erlernt werden. Die Einstellung zu der den Staat bildenden Gemeinschaft wird bei aller Pluralität maßgeblich von Elternhaus, Kindergarten, Schule und den Religionsgemeinschaften geprägt, denen Eltern und Kindern angehören. All diese Sozialisationsinstanzen haben es heute weit schwerer als früher; sie konkurrieren zugleich mit „heimlichen Erziehern“, unter denen die Massenmedien eine beherrschende Rolle innehaben. Es hat keinen Sinn, vor dieser Situation zu kapitulieren, sie muss vielmehr aktiv angenommen werden.

Die Evangelische Kirche in Deutschland hat sich 1985 in der Denkschrift „Evangelische Kirche und freiheitliche Demokratie. Der Staat des Grundgesetzes als Angebot und Aufgabe“ eingehend mit dem Verhältnis der Evangelischen Kirche zum demokratischen Verfassungsstaat befasst. Sie kommt zu der zutreffenden Feststellung, dass eine demokratische Verfassung auf der Grundlage einer klaren Unterscheidung von Staat und Religion am ehesten im Stande ist, der Menschenwürde zu entsprechen. Die Kirchen träumen also nicht von einem christlichen Gottesstaat. Sie stehen auf dem Boden einer Unterscheidung von Kirche und Staat, zu der die bürgerliche Rechtsordnung hinzugehört.

Auch nach kirchlicher Auffassung kann also nur der religiös neutrale Staat die volle Religionsfreiheit verfassungsrechtlich sichern. Ein religiös gebundener Staat, der sich einer Religion gegenüber in besonderer Weise verpflichtet weiß, läuft dagegen Gefahr, diese gegenüber anderen Religionen in seinem Staatsgebiet zu privilegieren. Die Unterdrückung von Menschen wegen ihrer religiösen Überzeugung gehört auch heute in vielen Ländern zur politischen Realität. Es sind in unserer heutigen Welt vor allem Christen, die von Beeinträchtigungen der Religionsfreiheit betroffen sind. Der Staat, der anerkennt, dass der Mensch frei und mit unantastbaren Rechten ausgestattet ist, kann ihn nicht von Staats wegen einer vorgegebenen Religion zuweisen. Er kann die Religion aber auch nicht ins Private abdrängen.

Der moderne, freiheitliche und demokratische Staat legitimiert sich nicht von Gott her, sondern von den Menschen her, die in dieser Gemeinschaft miteinander verbunden sind. Damit verträgt sich durchaus der Hinweis auf diejenigen Grundlagen, die diese Gemeinschaft nicht selbst hervorbringen kann, von denen sie aber gleichwohl abhängig ist. Die Präambel des deutschen Grundgesetzes hat diesen Hinweis in der Formel von der „Verantwortung vor Gott und den Menschen“ gegeben. Eine solche Formel enthält keineswegs den Anspruch oder gar eine Rechtfertigung dafür in sich, dass der Staat von sich aus eine bestimmte Religion zur verbindlichen Grundlage des Zusammenlebens seiner Bürger erklärt. Religiöse Neutralität setzt eine klare institutionelle Trennung von Staat und Religionsgemeinschaften voraus. Aber es wäre ein Missverständnis von staatlicher Religionsneutralität, daraus eine Gleichgültigkeit des Staates gegenüber dem Wirken der Religionsgemeinschaften abzuleiten. Vielmehr gibt es eine Pflicht des Staates, die Religion als Bestimmungskraft für das Leben vieler seiner Bürgerinnen und Bürger wahrzunehmen und sie ohne falsche Parteinahme zu fördern.

Mit dem Begriff der „fördernden Neutralität“ hat das deutsche Bundesverfassungsgericht dies – wie ich meine – sehr zutreffend zum Ausdruck gebracht Diese fördernde Neutralität richtet sich darauf, dass die Kirchen oder auch andere Religionsgemeinschaften ihren Beitrag zum Zusammenleben in der Gesellschaft leisten können. Sie bringen ihre spezifischen Glaubensüberzeugungen in den Prozess gesellschaftlicher Orientierung und Wertbildung ein. Dadurch tragen sie zur Erneuerung und Fortbildung von Grundhaltungen bei, ohne die keine politische Gemeinschaft, aber insbesondere kein demokratisches Gemeinwesen existieren kann. Dies geschieht z.B. in kirchlich getragenen Kindergärten und Schulen und in den diversen Sozialeinrichtungen in kirchlicher Trägerschaft. Aber auch die Mitgestaltung von Medien durch die Kirchen wirkt bei der Bildung und Vermittlung von Werten mit.

Die wechselseitige Unabhängigkeit von Staat und Kirche in der deutschen Verfassungsordnung hat keineswegs zwangsläufig zur Folge, dass das Religiöse aus dem öffentlichen Bereich verbannt wird. Vielmehr erkennt der freiheitliche demokratische Staat die große Bedeutung der Religion für die Bildung von Werten und Überzeugungen an. Der Staat ist nicht religiös bestimmt und hat doch trotz seiner religiösen Neutralität ein sozialethisches Fundament. Jede Gesellschaft verfügt nur dann über eine innere Stabilität, wenn sie eine Wertordnung hat, der gegenüber sich die einzelnen Bürgerinnen und Bürger verpflichtet wissen. Die Verfassungsordnung erwartet von den Religionsgemeinschaften, dass sie sich in den notwendigen gesellschaftlichen Diskurs einbringen. Die freiheitliche demokratische Grundordnung ist auf den offenen Meinungsaustausch angewiesen. Dazu gehört auch die Stimme der Kirchen, aber auch die der anderen Religionen. Für die Bundesrepublik Deutschland ist es heute vordringlich, die Religionsgemeinschaften in ihrer Vielfalt wahrzunehmen. Der Erhalt der fördernden Neutralität gegenüber allen Religionen bleibt gerade deshalb eine Herausforderung, weil sich die Vielfalt der Religionen auch in Deutschland weiterentwickelt.

III.

Für Christen hat die Bejahung der am deutschen Beispiel geschilderten Ordnung starke Gründe in ihrem Glauben selbst. Denn in ihr kommt ein Zug der christlichen Staatsvorstellung zum Zuge, der sich an das Wort Jesu knüpft: „Gebt dem Kaiser, was des Kaisers ist, und Gott, was Gottes ist“ (Matthäus 22,21). Die Eigenständigkeit der staatlichen Ordnung wird darin genauso gewürdigt wie ihre Grenze. Eine solche Ordnung achtet die Würde des Menschen auch darin, dass sie die Freiheit des Menschen nicht von staatlicher Gewährung abhängig macht. Darin, dass er die Freiheit des Menschen in ihrem staatsunabhängigen Charakter achtet, entspricht der Staat seinem Auftrag, die Menschenwürde zu schützen. Diese Betrachtungsweise hat sich insbesondere in den europäischen Rechtsordnungen seit der Aufklärung durchgesetzt. Sie ist nicht zuletzt der Religionsfreiheit selbst zu Gute gekommen – ein Aspekt, der heute von manchen christlichen Kritikern der Aufklärung, auch in allerhöchsten Rängen, sehr vernachlässigt wird. Mit dem Erringen der freiheitlichen Demokratie ist die staatliche Bevormundung des Menschen aufgehoben worden. Seine Freiheit wird ihm nicht durch den Herrscher verliehen. Vielmehr wird der Mensch mit einer Freiheit geboren, die gerade nicht vom Staat abhängig ist. Der Staat ist auch nicht die einzige den öffentlichen Raum bestimmende Macht. Vielmehr nimmt auch die Religion am öffentlichen Raum teil; sie lässt sich deshalb nicht auf das Private begrenzen und von der Gesellschaft isolieren.

Das Eintreten für die Religionsfreiheit als Menschenrecht im Besonderen gründet in der christlichen Glaubensgewissheit, um deretwillen die Gewissensentscheidung jedes Menschen respektiert, der Mitmensch als Nächster geachtet und deshalb auch in seiner abweichenden Glaubensweise respektiert wird. Der christliche Glaube stützt sich – insbesondere in seiner reformatorischen Deutung, aber nicht allein in ihr – auf eine göttlich zugesprochene Anerkennung der menschlichen Person, die unabhängig von ihren Taten und damit auch von ihren Überzeugungen gilt. Daher entspricht es dem Kern christlichen Glaubens, diese Menschenwürde, die Menschenrechte und damit die Religionsfreiheit auch Menschen anderen Glaubens zuzuerkennen. Deshalb respektieren die christlichen Kirchen das Existenzrecht anderer Religionen, einschließlich ihres Anspruchs auf ein Wirken in der gesellschaftlichen Öffentlichkeit.

Die Verwirklichung der Religionsfreiheit als Menschenrecht weltweit ist heute eine unaufgebbare Forderung und ein Anliegen der christlichen Kirchen. Die Bejahung der individuellen wie der kollektiven, der negativen wie der positiven Religionsfreiheit ist ein Ergebnis eines geistesgeschichtlichen Prozesses insbesondere seit der Reformation. Die Menschenrechte bilden inzwischen einen Schwerpunkt der christlichen Ethik. Heute wird mehr denn je von den Religionsgemeinschaften erwartet, dass sie aktiv mithelfen, Grundstrukturen zur Sicherung der Prinzipien der Gesellschaft in den Ländern zu schaffen, in denen die Menschenrechte noch nicht verwirklicht sind. Hier setzen die Kirchen auf die Zusammenarbeit mit anderen Religionsgemeinschaften, insbesondere dem Islam. Dabei erwarten sie, dass andere Religionen in den Ländern, in denen die Christen in der Minderheit sind, sich ebenso für die freie Religionsausübung der christlichen Kirchen und gegen staatliche Behinderungen einsetzen, wie sie in den Staaten der Europäischen Union die Religionsfreiheit in Anspruch nehmen. Für die Kirchen ist dies auch im Zusammenhang der Beitrittsverhandlungen der Europäischen Union mit der Türkei ein zentrales Thema und ein wichtiger Prüfstein.

IV.

Solche Überlegungen bestimmen auch das interreligiöse Gespräch zwischen den christlichen Kirchen und dem Islam. Dieser Dialog ist, wie die Evangelische Kirche in Deutschland in ihrer Handreichung von 2006 hervorgehoben hat, von den Grundprinzipien von „Klarheit und guter Nachbarschaft“ geprägt. Die Religionsfreiheit gehört zu den schwierigen Themen dieses Dialogs. Denn sie ist als individuelles Menschenrecht im soeben dargestellten Sinne durch den Islam im Ganzen bisher nicht anerkannt worden. Zwar gibt es durchaus differenzierte Zugänge des Islam zur Religionsfreiheit. Doch Grundlage ihrer Gewährleistung ist, wie bereits erläutert, der säkulare Charakter der staatlichen Rechtsordnung, zu deren Bestandteilen die Menschenrechte gehören und in der Bürger unterschiedlicher Religionen und Weltanschauungen die gleichen Bürgerrechte haben. Diesen Schritt zu einer wechselseitigen Unabhängigkeit von Religion und staatlicher Rechtsordnung hat der Islam in vielen Bereichen bisher nicht vollzogen.

Für ihn gilt vielmehr in weiten Bereichen: Der Staat ist organisierte Religion. Diese Grundposition hat seit der islamistischen Revolution im Iran stark an Boden gewonnen. Vom islamischen Staat wird verlangt, dass sein Recht religiöses Recht ist. Aber auch für Muslime, die in nicht-islamischen Ländern leben, gilt als Grundsatz, dass das Recht seine Quellen in der Religion hat. Das in der göttlichen Offenbarung gegebene Gesetz ist für Muslime abschließend und verbindlich. Es gilt als Ideal, das alle Aspekte der Lebenspraxis umgreift: das Bekenntnis des Glaubens, die gottesdienstliche Ordnung und rituelle Gebote ebenso wie Grundsätze für das Familien- und Strafrecht, schließlich für das Leben in der Gemeinschaft schlechthin. Zwar haben manche islamisch geprägten Länder in ihre Verfassungsordnungen traditionelle Elemente des europäischen Rechtsdenkens aufgenommen. Dennoch lebt in der Vorstellung vieler Muslime das Bewusstsein, dass ihr gesamtes Leben und das der staatlichen Gemeinschaft nach Gottes „Rechtleitung“ und damit nach den Vorschriften der Scharia geordnet sein müsse, wie es in der islamischen Urgemeinde, der Umma, der Fall gewesen sei. Die Einheit der Gesellschaft umfasst die politische und religiöse Gemeinschaft. Vielfalt ist in der Regel nicht vorgesehen. Entsprechend fehlt es in islamischen Staaten an einer Gleichbehandlung und Gleichberechtigung der Religionen.

Zwar hat sich der Islam seit den siebziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts zunehmend auf die Diskussion über die Menschenrechte eingelassen. Doch insbesondere die Religionsfreiheit wird in den einschlägigen Dokumenten zumeist nur in dem Sinn berührt, dass die Bekehrung zum Islam frei steht, aber zugleich ein Verbot ausgesprochen wird, zu einer anderen Religion als dem Islam überzutreten oder sich dem Atheismus zuzuwenden. Muslime und Christen können also etwas sehr Unterschiedliches meinen, wenn sie von Religionsfreiheit sprechen. Die Religionsfreiheit bildet deshalb einen wichtigen Gegenstand der Gespräche zwischen den Religionsgemeinschaften, die in unseren Ländern an Dringlichkeit und Gewicht gewonnen haben.

V.

Wiederum ein anderes Modell der Beziehung von Staat und Religion praktiziert die Türkei. In Anlehnung an das französische Konzept des Laizismus sind in der Türkei eigentlich Staat und Religion strikt getrennt. Trotz ihrer islamischen Geschichte und entsprechend geprägten Kultur hat die Türkei die Scharia als Rechtsgrundlage der staatlichen Ordnung ausdrücklich außer Geltung gesetzt. Der türkische Staat versteht sich nicht als Teil der islamischen Umma. Da sich Religion aber nicht völlig in den privaten Bereich verbannen lässt, sondern in die Gesellschaft drängt, muss auch die Türkei das Verhältnis von Religion und Staat regeln. Die Türkei hat dabei nicht das Konzept der Trennung beider Bereiche durchgehalten. Für die Türkei gilt das Prinzip, dass der Staat die Religion organisiert. Dies wird an der Einrichtung einer staatlichen Religionsbehörde besonders deutlich.

Jedoch hält die Türkei dabei das Konzept der Neutralität nicht durch. Es existiert eine Abstufung religiöser Freiheitsrechte zwischen dem Islam einerseits und den anderen Religionen, das Christentum eingeschlossen, andererseits. Deutlich wird dies etwa am Beispiel der Ausbildung des theologischen Nachwuchses. Während seitens des Islam entsprechende Fakultäten an staatlichen Universitäten bestehen, existieren keine vergleichbaren Institutionen für Christen. Zudem wird die Arbeit christlicher Priesterseminare beeinträchtigt beziehungsweise verhindert, so dass diese als Alternative entfallen.

Vor diesem Hintergrund muss sich die Türkei die Frage stellen lassen, wie sie das Phänomen der Vielfalt versteht. Geht der türkische Staat von einer allgemeinen Norm aus, so dass alles Abweichende als falsch oder zumindest fremd deklariert werden muss? Oder werden nichtmuslimische Religionsgemeinschaften und auch nationale Minderheiten als integrale Teile der Gesellschaft und als Bereicherung verstanden?

Auf dem Hintergrund der geschilderten deutschen Entwicklung schließe ich die Frage an: Wäre das Prinzip der fördernden Neutralität des Staates gegenüber den Religionen für die Türkei weiterführend? Könnte die Beteiligung der Religionen an der gesellschaftlichen Wertedebatte bei der Weiterentwicklung des türkischen Staates konstruktiv wirken? Könnte nicht auch für die Türkei aus einem offenen Umgang mit den aus den Religionen stammenden Werten ein Potential zur konstruktiven Auseinandersetzung und zur weiterführenden Entwicklung von Lebenshaltungen und Lebensweisen hervorgehen?

Diese Beteiligung der Religionen an der Wertedebatte und Willensbildung im Staat scheint mir für die Türkei auch im Blick auf ihr Verhältnis zur Europäischen Union von großer Bedeutung zu sein. Denn die Türkei wird auf diesem Weg die Tatsache zu berücksichtigen haben, dass die Religionen in den europäischen Staaten in ihrer Vielfalt am gesellschaftlichen Diskurs mitwirken. Für die Türkei stellt sich insofern die Frage, ob ihr bisheriges Modell von Staat und Religion den aktuellen gesellschaftlichen Herausforderungen weiterhin entspricht und im Dialog mit Staaten, die sich bewusst für ein anderes System entscheiden haben, weiterführend ist.

VI.

Heute besteht mehr denn je auch eine Furcht vor Religion. Sekten jedweder Couleur, Spiritismus, Psychojugendreligionen und gewaltsamer religiöser Fundamentalismus haben die Menschen verunsichert. Dies ist eine Herausforderung an den Staat wie auch an die Religionsgemeinschaften. Von ihnen hängt die Vertrauenswürdigkeit von Religion als solcher in hohem Maß ab. Sie müssen in ihrem öffentlichen Wirken Grundfragen des menschlichen so zum Thema machen, dass Feindschaft und Gewalt ohne Chancen sind. Wenn die Verantwortung für Frieden, Versöhnung und Gewaltfreiheit als gemeinsame Verpflichtung gerade der monotheistischen Religionen anerkannt wird, ist dies der wichtigste Beitrag der Religionen zu gesellschaftlicher Integration.

Was mit Toleranz konkret gemeint ist, wird dann unmittelbar anschaulich. In einer freiheitlichen und demokratischen Gesellschaft ist zugleich ein öffentlicher Diskurs nötig, der auch die Unterschiede zwischen verschiedenen Religions- und Überzeugungsgemeinschaften deutlich macht und nach konsensfähigen Überzeugungen, Werten und Verhaltensregeln Ausschau hält. Alle Religionsgemeinschaften – und nicht nur die Kirchen – sind aufgefordert, an dieser Willensbildung teilzunehmen und ihre Verantwortung für das Gemeinwesen insgesamt und nicht nur für ihre Mitglieder wahrzunehmen.

Den Religionsgemeinschaften kommt die Aufgabe eines öffentlichen Gewissens zu, indem sie in Lehre, Predigt und öffentlichen Erklärungen die persönliche Verantwortung zu wecken und zu fördern versuchen, also „das Beste der Stadt suchen“, wie es der Prophet Jeremia formuliert (Jeremia 29, 7). Deswegen besteht ein elementares Interesse an Kenntnissen über andere Religionsgemeinschaften sowie ein ebenso elementares Interesse an Transparenz. All das steht im Interesse an der Gestaltung einer Gesellschaft, die, je pluraler sie ist, auch umso mehr Gemeinsinn braucht.