„Herausforderungen des interreligiösen Dialogs. Hermeneutische Fragestellungen.“ - Vorlesung in der Theologischen Fakultät in Ankara

Wolfgang Huber

Für die Möglichkeit zu einem theologischen Vortrag in Ihrer Fakultät danke ich Ihnen sehr. Diese Einladung ehrt mich besonders; denn mir ist bewusst, welche wichtige Rolle die Theologische Fakultät an der Universität Ankara für das Nachdenken über einen modernen Islam einnimmt. Bereits bei der Gründung dieser Fakultät im Jahr 1949 wurde durch ihre Einordnung in den Kreis der anderen Fakultäten der Wunsch der Gründer deutlich, dass sich hier wissenschaftlich fundiertes Nachdenken über Religion und Theologie im Gespräch mit anderen Wissenschaften entfalten soll. Zahlreiche Persönlichkeiten Ihrer Fakultät sind in der Türkei wie auch über deren Grenzen hinaus bekannt geworden und bilden eine wichtige Brücke zwischen Europa und dem Orient, zwischen islamisch geprägten Denken und westlichen Denktraditionen. Ihre Universität ist damit einer der prominentesten Orte für einen Dialog zwischen diesen Kulturräumen.

Das Thema meines Vortrags heißt: „Herausforderungen des interreligiösen Dialogs. Hermeneutische Fragestellungen“. Es nimmt Bezug auf Konzeptionen und Reflexionen zum Verständnis des Koran und der Tradition des Islam, wie sie von zahlreichen Persönlichkeiten Ihrer Fakultät in den zurückliegenden Jahrzehnten entwickelt wurden und unter dem Namen der „Ankaraner Schule“ international bekannt geworden sind. Dem Jesuitenpater Felix Körner, aber auch Mitgliedern Ihrer Fakultät ist es zu verdanken, dass wir in Deutschland von diesen Entwicklungen ausführlich Kenntnis bekommen haben.

Die Frage des Verständnisses Heiliger Schriften ist auch für die christliche Theologie seit ihren Anfängen ein zentrales Thema. Hermeneutische Fragestellungen sind auch für mich als Christ, Theologe und Repräsentant einer evangelischen Kirche eine tägliche Herausforderung. Deswegen kreuzen sich hier Interessen und Identitäten. Beides ist eine gute Voraussetzung für wechselseitigen Dialog und konstruktiven Austausch, zu dem ich mit meinen folgenden Überlegungen gerne einen Beitrag leisten möchte.

I.

Ich persönlich wie auch die Theologie und Kirche, die ich repräsentiere, sind geprägt durch die Theologie des Reformators Martin Luther. Die reformatorische Bewegung des frühen 16. Jahrhunderts, die sich mit seinem Namen verbindet, zielte auf die Erneuerung der einen christlichen Kirche aus den Quellen der Heiligen Schrift des Alten und Neuen Testaments. Die Reformation war also in sich selbst eine hermeneutische Bewegung. Weil der aus den biblischen Quellen selbst begründete Appell zur Reform der Kirche ungehört blieb, kam es zur Kirchenspaltung und damit zum Entstehen der evangelischen Kirche. In wenigen Jahren, nämlich im Jahre 2017, werden wir das fünfhundertjährige Jubiläum der Reformation feiern. Die reformatorische Bewegung hat nicht nur das Christentum weltweit nachhaltig verändert und geprägt, sondern sie hat zugleich einen großen Einfluss auf das abendländische Denken, auf Philosophie, Wissenschaft und Kultur ausgeübt. Was ist das Besondere dieser Reformation und wie konnte sie so eine starke geistige und geistliche Kraft entfalten?

Damals formierte sich Kritik am Zustand der durch das Papsttum in Rom gelenkten Kirche. Die Macht der Tradition schob sich vor die Autorität der Heiligen Schrift. Die Herrschaftsansprüche des Papsttums gewannen eine eigenständige Bedeutung. Das Heil der Menschen, das allein in Gottes Gnade wurzelt, wurde durch kirchliche Praktiken in menschliche Verwaltung genommen. Es wurde von vielen empfunden, dass es eine Erneuerung geben müsse. Martin Luthers reformatorische Entdeckung beruhte auf der Rückkehr zur Bibel als der alleinigen und wichtigsten Autorität für die christliche Existenz. Gottes gnädige Zuwendung zum Menschen in Jesus Christus bildete für ihn das Zentrum des christlichen Glaubens. Der Glaube allein macht den Christen aus, nicht eine bestimmte Leistung, die dieser zu erbringen hat. Martin Luther übersetzte die Bibel in verständliches Deutsch; die erst kurz zuvor erfundene Buchdruckerkunst brachte die gedruckte Bibel unter das Volk, so dass jeder sie selbst lesen konnte.

Damit sind drei wichtige Aspekte der Reformation genannt, die zu ihrer herausragenden geschichtlichen Bedeutung beigetragen haben.

(1) Eine Erneuerung der Kirche wurde durch eine Rückkehr zu den Quellen des Glaubens, nämlich der Bibel, eingeleitet.

(2) Jeder Christ sollte die Bibel selbst lesen und verstehen können. Jeder Christ hat die  gleiche Nähe zu Gottes Wort und damit auch den gleichen Zugang zum Wort der Gnade.

(3) Jedem Christen ist damit ein mündiger Umgang mit seinem Glauben eröffnet.

Wenn das Lesen und Verstehen des Wortes Gottes, wie es in der Bibel zu finden war, zum Dreh-und Angelpunkt des christlichen Glaubens wurde, dann drängte sich natürlich die Frage auf, wie die Heilige Schrift angemessen zu verstehen und auszulegen sei. Die Auslegung der Heiligen Schrift ist dadurch zum Zentrum evangelischer Theologie geworden; die gesamte Entwicklung dieser Theologie lässt sich als eine Geschichte der Auslegung der Heiligen Schrift darstellen. Dem entspricht, dass im evangelischen Gottesdienst der Predigt, also der Auslegung des biblischen Textes, eine zentrale Stellung eingeräumt ist; die Verkündigung des Wortes Gottes und die Feier der Sakramente Taufe und Abendmahl haben für das Verständnis des evangelischen Gottesdienstes eine gleichberechtigte Bedeutung.

Die Frage, wie der Mensch Gottes Wort recht verstehen kann, ist in der wissenschaftlichen Sprache die Sache der Hermeneutik, der Wissenschaft vom Verstehen. Reformatorische Theologie ist deshalb immer wieder programmatisch als „hermeneutische Theologie“ verstanden und entfaltet worden.

II.

Die hermeneutische Frage brach immer in Zeiten geschichtlicher Umbrüche mit besonderer Macht auf. Denn in solchen Zeiten werden tragende Traditionen brüchig; sie müssen bewusst und mit klarer Begründung in den Quellen des Glaubens erneuert werden. Die Zeit der Reformation im 16. Jahrhundert war selbst eine solche Zeit des Umbruchs. Nun kam es darauf an, einen Zugang zum Kern der biblischen Botschaft zu finden. Die Unterscheidung zwischen dem wörtlichen, allegorischen, moralischen und anagogischen Sinn des biblischen Worts wurde zwar nicht einfach aufgehoben. Wichtiger jedoch wurde die Erkenntnis, dass zwischen Geist und Buchstaben zu unterscheiden sei (so schon Paulus in 2. Korinther 3). „Das, was Christum treibet“, war nach Luther die Mitte der Bibel. Das Wort in den Wörtern führt zum Verstehen, und von dieser Mitte her erschließt sich der Gesamtsinn der biblischen Botschaft.

Eine nächste große Umbruchzeit war die Zeit der Aufklärung, in der sich ein neues Bewusstsein von Geschichte Bahn brach. Die Bibel war schon durch die Reformation als geschichtliches Buch entdeckt worden; nun aber wurde die Differenz zwischen den geschichtlichen Bedingungen, denen die biblischen Texte entstammen, und den Fragestellungen der eigenen Gegenwart noch weit deutlicher bewusst. Die Vernunft erhob einen Autonomieanspruch auch gegenüber der biblischen, von der Kirche repräsentierten Religion. Wie stehen Offenbarung und Geschichte zueinander in Beziehung? Das war die hermeneutische Frage jener Periode; man versuchte sie zu beantworten, indem man den Zusammenhang von geschichtlicher Singularität und universalem Geist bedachte. In der Frage, ob damit nicht die menschliche Vernunft die Herrschaft über die göttliche Offenbarung antreten wolle, kündigte sich die Dialektik der Aufklärung an, die uns bis heute beschäftigt. Sie erzielte einerseits einen Durchbruch zur Freiheit des Menschen, den wir nicht rückgängig machen können. Aber sie ließ es zugleich an Demut gegenüber der göttlichen Wahrheit fehlen und trug dadurch zu einer Art der Wissenschaftsgläubigkeit bei, deren Folgen uns heute deutlich vor Augen stehen.

Aus dem geschichtlichen Denken der Aufklärung ergab sich zudem das Gefühl eines „garstigen geschichtlichen Grabens“ zwischen dem historischen Gewand der biblischen Botschaft und dem Selbstverständnis des modernen Menschen. Wie lässt sich dieser Graben überbücken? Die hermeneutische Antwort wichtiger theologischer Entwürfe bestand darin, die existentielle Situation des Menschen, der durch Gottes Offenbarung angesprochen wird, als menschliche Grundsituation zu verstehen, die sich unter allen historischen Bedingungen in vergleichbarer Weise stellt. Der Mensch erlebt ein „Gefühl schlechthinniger Abhängigkeit“, er fragt nach dem Grund seines Lebens, er sucht wahrhaftige Existenz: Auf dieses Fragen antwortet das Wort der Offenbarung. Das biblische Wort Gottes spricht die Menschen der biblischen Zeit in gleicher Weise in ihrer Existenz an wie die Menschen unserer Zeit.

Ich nenne schließlich noch die Umbruchzeit in der zweiten Hälfte des vorigen Jahrhunderts: Nun bahnte sich die hermeneutische Erkenntnis den Weg, dass es nicht nur darauf ankommt, einen Text richtig zu verstehen, sondern auch darauf, dass dieser die Wirklichkeit verändert. Karl Marx hatte mehr als ein Jahrhundert zuvor den Satz geprägt, dass die Philosophen die Welt nur unterschiedlich interpretiert hätten, es aber darauf ankomme, sie zu verändern. Diese Erkenntnis floss in eine neue politische Hermeneutik von „Befreiungstheologien“ ein, die gerade in Ländern der sog. Dritten Welt eine große Dynamik entfaltete. Die Bibel wurde mit neuen Augen, nämlich aus der Perspektive von Unterdrückten und Benachteiligten, gelesen. Sie wurde damit zu einem Manifest politischer Veränderungen.

Unter den zahlreichen Theologen und Philosophen, die die unterschiedlichen Phasen hermeneutischen Denkens geprägt haben, möchte ich besonders den Heidelberger Philosophen Hans-Georg Gadamer hervorheben. Sein Hauptwerk „Wahrheit und Methode“ (1960) bildet eines der bedeutendsten Werke der Hermeneutik. Auch Theologen an dieser Fakultät beziehen sich ausdrücklich auf Gadamers Schriften. Gadamer hat auf die Bedeutung der Auslegungsgeschichte hingewiesen, die zwischen dem Text und dem Leser, beispielsweise zwischen der Bibel und einem heutigen Menschen liegt. Das Verstehen ist stets eingebettet in eine Wirkungsgeschichte; denn der Leser bringt immer ein Vorverständnis mit, das ihn erst dazu befähigt, den Sinn einer Botschaft zu verstehen. Auch das Entdecken von Neuem im alten Text setzt eine Wirkungsgeschichte voraus.

Auch die Abwendung vom Glauben ist eine solche Wirkungsgeschichte. Auch dort, wo Menschen mit den Mitteln politischer Macht der Zugang zum christlichen Glauben versperrt oder erschwert wurde, liegt eine solche Wirkungsgeschichte vor. Denn es sind dann unter Umständen die amtlich vertretenen, im schulischen Unterricht vermittelten Zerrbilder, die ihr Vorverständnis prägen. Wir haben das im Osten Deutschlands erlebt, wo in der Zeit der kommunistischen Herrschaft der christliche Glaube als eine vorwissenschaftliche Weltanschauung ausgegeben wurde, die durch den historischen Materialismus, also die offizielle Ideologie des kommunistischen Regimes, überholt sei. Die Vereinigung Deutschlands, die durch den Fall der Berliner Mauer vor zwanzig Jahren möglich wurde, eröffnet uns als Kirche nun einen neuen Zugang zu den Menschen, die eine solche Erziehung durchlaufen haben. Dabei merken wir, wie schwer es ist, Menschen die biblische Botschaft nahe zu bringen, die ohne religiöse Grunderfahrungen aufgewachsen sind. So stellt sich die hermeneutische Frage in einer neuen Hinsicht. Wir müssen fragen, wie sich Grunderfahrungen der Gottesbeziehung erschließen lassen, auf die sich das Verstehen der biblischen Botschaft stützen kann. In einer religiös vielfältig gewordenen Gesellschaft besteht die hermeneutische Frage darin, wie der christliche Glaube Menschen erschlossen werden kann, die ihm mit sehr unterschiedlichen Verstehensvoraussetzungen und unterschiedlichen Vorerfahrungen begegnen. Was ich dabei über den christlichen Glauben sage, gilt analog auch für andere Glaubensweisen.

III.

Christentum wie Islam sind Buchreligionen. Die Frage der rechten Auslegung der Schriften hat in der Geschichte beider Religionen stets eine zentrale Rolle gespielt und in beiden Religionen zahlreiche große Auslegungswerke wie auch Reflexionen zur Methode der Auslegung hervorgebracht.

Doch das Nachdenken über hermeneutische Fragen ist in beiden Religionen sehr unterschiedlich und auch unabhängig voneinander verlaufen. Die Gründe dafür liegen im unterschiedlichen Charakter von Koran und Bibel ebenso wie im unterschiedlichen Verständnis der Offenbarung. In der Bibel des Alten wie des Neuen Testaments spielen geschichtliche Texte eine herausgehobene Rolle; man hat deshalb geschichtliches Denken als eines der Charakteristika des biblischen Denkens überhaupt bezeichnet. Im Koran spielen lebenspraktische Regelungen eine große Rolle, die gerade unter unterschiedlichen Bedingungen die gleichen bleiben sollen. Der unveränderliche Charakter des Korans wird deshalb in dessen Auslegung immer wieder hervorgehoben. Von erheblicher Bedeutung ist aber neben dem unterschiedlichen Charakter der jeweiligen heiligen Schriften auch die unterschiedliche Entwicklung von Kultur und Wissenschaft im Einflussgebiet der beiden Religionen.

Die Bibel hat von Anbeginn in verschiedenen Textvarianten vorgelegen. Die ersten Christen lasen das Alte Testament mehr in der griechischen Übersetzung als im hebräischen Original. So waren unterschiedliche Sprachgestalten und Übersetzungen der Bibel selbstverständlich. Dies förderte gerade das Bemühen, sich den Zugang zum Sinn der Texte hinter den Worten zu bahnen.

Nach dem traditionellen Verständnis im Islam ist dagegen der arabische Wortlaut des Koran unantastbar, Übersetzungen sind nur eine Annäherung an seinen Sinn. Dies hat sicherlich dazu geführt, dass innerhalb des Islam ein wortwörtliches Verständnis des Koran bis heute weit verbreiteter ist als eine vergleichbare, als „Biblizismus“ bezeichnete Auffassung im Christentum. Aber auch für Muslime stellt sich heute die Frage nach dem geschichtlichen Charakter des Islam und danach, wie er unter den Bedingungen der Moderne zu verstehen ist.

Vor diesem Hintergrund verdienen die Bemühungen der „Ankaraner Schule“ um eine zeitgemäße Hermeneutik des Koran besondere Aufmerksamkeit. Die Arbeiten von Wissenschaftlern wie Ömer Özsoy, Mehmet Paçaci, Burhanettin Tatar oder auch Ya ar Nuri Öztürk stellen sich nicht nur dieser grundlegenden hermeneutischen Frage und durchdenken sie mit wissenschaftlicher Sorgfalt. Sie schlagen gleichzeitig auch dialogische Brücken durch die Aufnahme von hermeneutischen Konzepten und Ansätzen der Theologie- und Philosophiegeschichte und bieten somit Anknüpfungspunkte für interreligiöse Diskussionen.

Denn Parallelen sind offenkundig. Auch in der christlichen Theologie – gerade in ihrer evangelischen Gestalt – geht es darum, unter den Bedingungen geschichtlichen Verstehens die grundlegende Bedeutung der Bibel aufrecht zu erhalten, die das grundlegende Dokument der göttlichen Offenbarung ist. Die zentrale Rolle, die dem Koran und dessen Verständnis in islamischer Theologie zuerkannt wird, ist also unseren evangelischen Positionen durchaus vergleichbar. Die Frage, wie man den Koran in seiner Offenbarungsqualität unbeschadet lassen kann und dennoch kritisch der Frage nachgehen könne, wie offenkundig veraltete Vorstellungen und Vorschriften neu verstanden und mit Sinne gefüllt werden können, verweist auf ein auch uns aus der christlichen Theologie bekanntes Problem.

Die Theologen der Ankaraner Schule wollen den „garstigen Graben“ zwischen der als vorbildlich angesehen Zeit des Propheten Mohammed und der Gegenwart nicht einfach zur einen oder zur anderen Seite hin überspringen. Denn es geht weder an, den Koran zu verwerfen, um der Moderne zu folgen, noch die Moderne abzulehnen, um die Lebenswelt des Koran als die einzig richtige zu verkünden. Vielmehr werden Wege gesucht, wie es möglich ist, Muslim zu bleiben und zugleich den Herausforderungen einer neuen Zeit zu entsprechen.

Die Theologen der „Ankaraner Schule“ unterstreichen dabei jedoch die Tatsache, dass der Koran ein historisches Dokument ist und trotz seines Offenbarungscharakters nicht jeder Bindung an geschichtliche Bedingungen enthoben ist. Der Koran ist nicht auf einmal verfasst, sondern wurde aus Einzelstücken, die über einen längeren Zeitraum hin entstanden sind, zusammengefügt. Einzelne Passagen sind in Wechselwirkung mit der damaligen Situation entstanden und nur aus dieser heraus zu verstehen.

Nötigt eine solche Einsicht zu einer historisch-kritischen Interpretation heiliger Schriften? Die Arbeiten der „Ankaraner Schule“ scheinen es nicht generell auszuschließen, die in der biblischen Theologie entstandene historisch-kritische Methode in ihrem Ansatz auch für das Studium des Koran fruchtbar zu machen. Ich habe den Eindruck, dass hier in Ankara eine sehr differenzierte Antwort auf diese Frage versucht wird, die auch die unterschiedlichen Konzepte und Denkschulen innerhalb des Islam zur Frage des Zusammenwirkens von Offenbarung und Vernunft angemessen bedenken will.

Ich sehe deshalb in den Überlegungen der „Ankaraner Schule“ wichtige Berührungspunkte zu der hermeneutischen Diskussion innerhalb der evangelischen Theologie; darin liegen wichtige Ansatzpunkte für weiterführende Möglichkeiten des Dialogs und des Austauschs.

IV.

Ich möchte zum Abschluss dieses Vortrags vier Herausforderungen und Aufgaben hervorheben, die sich uns gemeinsam stellen. Es handelt sich um vier Hinsichten, in denen Islam und Christentum trotz wichtiger Unterschiede in der Rolle und dem Verständnis der grundlegenden Schriften von Bibel und Koran und trotz unterschiedlicher hermeneutischer Traditionen vor vergleichbaren Aufgaben und Herausforderungen stehen.

(1) In unseren beiden Religionen gibt es Gruppen, die sich einem reflektierten und wissenschaftlich fundierten Umgang mit den grundlegenden Schriften entziehen und fundamentalistische Auslegungen vertreten. Das führt dazu, dass Bibel und Koran für politische oder ideologische Zwecke missbraucht werden. Es sollte unser gemeinsames Bemühen sein, zu einem verantwortungsvollen Umgang mit Koran und Bibel anzuleiten und historisches Wissen sowie Reflexions-und Urteilsfähigkeit zu stärken. Sowohl im Islam als auch im Christentum gibt es eine Vielzahl von Positionen und Überzeugungen. Diese Pluralität kann zu vertieftem Verstehen beitragen; dagegen werden die notwendigen Lernprozesse blockiert, wenn bestimmte Gruppen einen exklusiven Wahrheitsanspruch erheben und sich dem Austausch verweigern.

(2) Die Bemühung um ein angemessenes Verstehen der eigenen heiligen Schriften muss durch das Bemühen um ein angemessenes Verstehen des anderen ergänzt werden. In einer globalen Welt, in der durch Migration und moderne Kommunikationsmitteln Menschen unterschiedlicher Religionen, Kulturen und Traditionen enger zusammenleben als je zuvor, ist die Pluralität eine interreligiöse Herausforderung. Keine Religion kann mehr davon ausgehen, dass sie für sich allein existiert und eine absolute Wahrheit nur für sich beanspruchen kann. Das Verstehen des anderen ist der Ernstfall der Hermeneutik in einer globalen Welt. Dazu bedarf es der Kompetenzen, den eigenen Glauben gegenüber anderen verständlich zu machen, den anderen in seinen Überzeugungen zu verstehen und in einen gleichberechtigten Dialog einzutreten. Unsere religiös pluralen Gesellschaften fordern uns zu einer hermeneutischen Mehrsprachigkeit in Fragen des Glaubens heraus.

(3) Muslime wie Christen finden sich – wie ich am Beispiel der Situation im Osten Deutschlands schon erläutert habe – vielerorts in Situationen vor, in denen nicht nur die eigene religiöse Tradition, sondern religiöse Tradition überhaupt nicht selbstverständlich ist. Kinder und Jugendliche werden oftmals in ein Umfeld hineingeboren, in dem religiöse Traditionen und Kenntnisse nicht mehr vorgegeben sind. Der nachwachsenden Generation sind oftmals Koran oder Bibel fremd; sie brauchen Erläuterung und Erklärung. Die hermeneutische Herausforderung wird zu einer religionspädagogischen Aufgabe, den eigenen Glauben neu zu vermitteln und verständlich zu machen.

(4) Im Oktober 2006 haben 138 muslimische Persönlichkeiten einen offenen Brief an die leitenden Geistlichen der christlichen Kirchen geschrieben. Sie haben in diesem Brief auf die gemeinsame Verantwortung der beiden Religionen für weltweiten Frieden und Wohlergehen hingewiesen, da mehr als die Hälfte der Menschheit diesen beiden Religionen angehören. Sie haben dazu auf die Liebe zu Gott und die Liebe zum Nachbarn als gemeinsame Glaubensüberzeugungen von Islam und Christentum Bezug genommen. Wir haben diese Initiative mir Dankbarkeit und Respekt aufgenommen und möchten gerne das uns Mögliche beitragen, dass dieser Anstoß Wirkungen entfaltet und in unseren beiden Religionen die gemeinsame Verantwortung stärkt. Die überaus zahlreichen Antworten von christlicher Seite, die bislang verfasst und veröffentlicht wurden, haben trotz mancher kritischen Anfragen diese Initiative begrüßt, den thematischen Ansatz dieses Briefs zugleich auf die bleibenden Unterschiede zwischen unseren Religionen bezogen, aber auch die Zielsetzung bekräftigt: ein gemeinsames Eintreten für Frieden und Wohlergehen in unserer einen Welt.

Wenn es gelänge, Koran und Bibel aus dem Blickwinkel einer gemeinsamen globalen Verantwortung und gemeinsamer Aufgaben zu lesen und neu zu verstehen, würde eine neue politische Hermeneutik zu entfalten sein, die nicht nur auf den Überlegungen und Denktraditionen einer Religion aufruht, sondern eine dialogische und kommunikative Perspektive einschließt. Damit liegt eine große Aufgabe vor uns. Dass wir uns ihr stellen, entspricht nicht nur der globalen Verantwortung von Islam und Christentum, sondern auch dem Auftrag, den Gott uns gibt, je an unserem Ort sein Heil und seinen Frieden der ganzen Welt zu bezeugen.