„Schule schafft Chancen“ - Vortrag auf dem 2. Kongress evangelischer Schulen in Mitteldeutschland in Halle

Wolfgang Huber

Schule schafft Chancen – der Titel dieses Kongresses klingt verheißungsvoll. Allerdings wird mit dem Begriff der Chance derzeit auch ziemlich freihändig umgegangen. Die Krise als Chance – diese Deutung der gegenwärtigen Wirtschaftskrise kann man derzeit landauf landab hören. Es ist eine Formel, mit der man das Ausmaß der gegenwärtigen Schwierigkeiten vielleicht doch allzu sehr auf die leichte Schulter nimmt. Und ist es wirklich anders, wenn man die Beschäftigung mit der heutigen Wirklichkeit der Schule in Deutschland unter die Überschrift stellt: Schule schafft Chancen?

Andere titeln anders. Nehmen Sie als Beispiel das intensive Presseecho auf den gemeinsam von Bund und Ländern vorgelegten Bildungsbericht. Die Süddeutsche Zeitung stellte ihren Bericht unter die Überschrift: „Das planmäßige Scheitern: frühe Auslese, geringe Durchlässigkeit, zahlreiche Abbrecher; zu viele Schüler bleiben auf der Strecke“. Sie beschrieb damit den misslungenen Start von Bildungswegen. Ein Fehlstart mit Folgen! Denn wer hier verloren geht, hat auch später kaum noch Chancen.

Dass wir zu einem Kongress evangelischer Schulen zusammen sind, kann dem Verstehen allerdings weiterhelfen. Wir bewegen uns in einem Raum pädagogischer Verantwortung, zu dessen unverzichtbaren Kennzeichen die Verpflichtung auf Bildungsgerechtigkeit gehört. Die Ausgangsthese dieses zweiten Kongresses evangelischer Schulen in Mitteldeutschland heißt, „dass Gerechtigkeit ein unverzichtbares Kennzeichen von Schulen ist, die sich christlichen Maßstäben verpflichtet wissen.“ Das soll uns an diesem Vormittag im Plenum beschäftigen. In den Foren dieses Kongresses soll es in verschiedenen Hinsichten vertieft werden.

Ein solches Kriterium wird man gewiss zuerst selbstkritisch auf das eigene Handeln anzulegen haben. Entspricht die Wirklichkeit evangelischer Schulen der Verpflichtung auf Bildungsgerechtigkeit? Oder sind die Maßstäbe das eine und die Wirklichkeit das andere? So muss man fragen; denn nur aus einer solchen selbstkritischen Perspektive heraus wird es auch möglich sein, einen solchen Maßstab auch bildungspolitisch nach außen zu tragen und sich an der bildungspolitischen Debatte im Ganzen aus der Perspektive zu beteiligen, dass durch Bildung vermittelte Befähigungsgerechtigkeit ein zentrales Element im Eintreten für gerechte Teilhabe in der Gesellschaft insgesamt ist. Das aber ist einer der Zusammenhänge, in welche die Evangelische Kirche in Deutschland das Nachdenken über die gesellschaftliche Bedeutung von Bildung gestellt hat. Gerechte Teilhabe heißt das Leitbild, an dem wir uns in diesem Zusammenhang orientieren.

Fragt man so, dann stößt man erst recht auf das Auseinanderklaffen zwischen Leitbild und Wirklichkeit. Denn das ist nicht erst seit den Ergebnissen der PISA-Studien offenkundig: Das Versprechen der Chancengerechtigkeit ist uneingelöst. „Die einen häufen Bildung an, die andern fallen raus“, sagt Eckart Klieme, einer der Autoren des Bildungsberichts. „Einige sammeln Zeugnisse und Diplome, andere sammeln Niederlagen. Die einen schwänzen und verabschieden sich dauerhaft aus dem Klassenzimmer. Die anderen sind schon als Schülerinnen und Schüler Gäste an der Uni.“

Evangelische Schulen schaffen Chancen! Trotz der berechtigten Gegenstimmen setzt dieser Titel in Zeiten anhaltend kontroverser bildungs- und schulpolitischer Diskussionen ein Ausrufezeichen. Er stellt die Schule nicht in Frage, er klagt nicht an – sondern er ruft auf zum Nachdenken, zum Reflektieren, zum Begründen. Schule schafft Chancen – der Satz kann Mut machen, Schule unter ihren positiven Vorzeichen genauer anzusehen. Oder schulpädagogisch gewendet: Das Thema des Kongresses ist ressourcen-, nicht defizitorientiert formuliert. Es ist die ressourcenorientierte Herangehensweise, die man von guten Schulentwicklern erwartet. Diesen Weg will ich beschreiben, indem ich aus meiner Sicht einige Kennzeichen evangelischer Schulen hervorhebe – ohne jeden Anspruch auf Vollständigkeit, aber mit einem gehörigen Schuss persönlicher Leidenschaft. Folgende Punkte liegen mir am Herzen:

1. Eine evangelische Schule ist Schule.

2. Eine evangelische Schule verbindet Vielfalt und Inklusion.

3. Eine evangelische Schule gestaltet Übergänge.

4. Eine evangelische Schule zielt auf verantwortete Freiheit.

5. Eine evangelische Schule ist ein Raum der Wertschätzung.

1. Eine evangelische Schule ist Schule

Jede evangelische Schule hat Teil am Auftrag von Schule überhaupt. Sie wird an den Maßstäben für schulische Bildung überhaupt gemessen und muss ihnen standhalten. Sie muss Bildungsgerechtigkeit verwirklichen wie jede andere Schule auch.

Schulen überhaupt – und nicht nur Schulen in evangelischer Trägerschaft – stehen gegenwärtig vor vielfältigen Herausforderungen und Ansprüchen. Bildung, Erziehung und Betreuung – hinter dieser, in den Bundesländern für staatliche Schulen gültigen Aufgabenbeschreibung, verbergen sich hohe Erwartungen. Bildung, Erziehung und Betreuung – die Inhalte dieser Begriffe werden zunehmend ausgeweitet. Die Schule soll auf die Veränderungen in der demografischen wie ethnisch-kulturellen Zusammensetzung der Bevölkerung angemessen reagieren. Sie soll gewährleisten, dass Schülerinnen und Schüler unabhängig von ihrer Herkunft auf die Anforderungen von Berufswelt und gesellschaftlichen Entwicklungen vorbereitet werden. Sie soll zum verantwortlichen Umgang mit einer von digitalen Medien bestimmten Arbeits- und Freizeitgestaltung befähigen und „fit machen“ für ein berufliches Engagement.

Hier liegt allerdings unverkennbar ein besonderer Schwerpunkt: Das berufliche Engagement soll den Anforderungen einer wissenschaftlich technisierten und globalisierten Arbeitswelt gerecht werden. Zugleich wird der Schule der Auftrag zugewiesen, Schülerinnen und Schüler zur Übernahme von Verantwortung in einem demokratischen Staatswesen und einer tragfähigen Zivilgesellschaft zu befähigen.

Doch nicht nur die Schwerpunktsetzungen des Bildungsauftrags haben sich verändert, sondern deutlich gestiegen sind auch die Erwartungen an die erzieherische Funktion der Schule. Familie wie Gesellschaft erwarten von ihr ein Mehr an Erziehungsleistung. Insbesondere angesichts der starken Präsenz von Medien in der Lebenswirklichkeit von Kindern und Jugendlichen und deren wachsendem Einfluss – auch im Kontext der Peergruppen – wird der Ruf nach Schule als entscheidender Instanz immer lauter. Sie soll zu einem kompetenten Umgang mit den Herausforderungen insbesondere der digitalen Medienwelt befähigen.

Diese Entwicklung korrespondiert mit einer zunehmenden Verunsicherung vieler Eltern im Blick auf ihr eigenes erzieherisches Handeln. Diese Verunsicherung führt in manchen Fällen bis zur Resignation oder zum völligen Rückzug aus der erzieherischen Verantwortung. Wenn die Chancen von Kindern und Jugendlichen unabhängig von ihrer Herkunft gesichert werden sollen, dann wird Schule zum zentralen Ort, an dem auch diese Aufgabe übernommen werden muss.

Dazu passt, dass die Schule heute immer mehr Lebenszeit der Kinder und Jugendlichen beansprucht. Sie muss nicht unbedingt Ganztagsschule sein, um über den halben Tag hinauszureichen. Aber sie muss für diese Spanne Zeit räumlich, personell und konzeptionell gerüstet sein. Es liegt im Interesse der Chancengerechtigkeit gerade für die Benachteiligten unseres Bildungssystems, dass die betreuende Funktion von Schule an Bedeutung gewinnt und der entsprechenden Planung und Gestaltung bedarf.

Es ist in dieser Debatte geläufig, Bildungsgerechtigkeit vor allem unter dem Anspruch zu betrachten, dass die Investition in schulisches Lernen die spätere berufliche Eingliederung und das berufliche Fortkommen sichern soll. Schule gewinnt aus dieser Sicht eine Schlüsselstellung in der Chancenvergabe für den späteren Ort der einzelnen in Wirtschaft und Gesellschaft. Umgekehrt betrachtet wird ihr die Aufgabe zugeschrieben, die Begabungsreserven zu heben, die um der Zukunft von Wirtschaft und Gesellschaft willen genutzt werden müssen. Daher soll sie in der Lage sein, alle Ressourcen zu fördern und die Begabungen Jugendlicher für die Berufs- und Arbeitswelt zu erschließen.

Aber eine solche funktionale Sicht auf die Schule ist nicht ausreichend, insbesondere nicht für evangelische Schulen. Dass in Bildungszusammenhängen ein christlicher Blick auf den Menschen zur Geltung kommt, zeigt sich daran, dass der einzelne Mensch im Bildungsprozess nicht nur als ein Mittel zum Zweck – also insbesondere zum Zweck gesellschaftlicher Nützlichkeit – , sondern als ein Wert an sich selbst betrachtet wird. Das meinen wir, wenn wir das Bekenntnis zur Gottebenbildlichkeit des Menschen zum Ausgangspunkt von Bildungsprozessen machen und uns in dem, was wir einem Menschen zutrauen und zumuten, an dem Respekt vor seiner Würde orientieren. Das ist der Ausgangspunkt für die Anerkennung menschlicher Individualität in Bildungsprozessen. Dass ein Mensch die in ihm angelegten Gaben zur Entfaltung bringt, ist nicht nur deshalb ein Ziel von Bildungsprozessen, weil er dadurch diese Gaben im späteren Berufs- und Arbeitsleben einsetzen kann, sondern weil diese individuellen Gaben Teil seiner geschöpflichen Existenz sind.

Wir brauchen deshalb ein erweitertes Verständnis von Chancen, sowohl im Blick auf das Individuum als auch im Blick auf die Gesellschaft. Schule erschöpft sich nicht in der Schulung für das Berufsleben. Evangelische Schulen wollen Bildung ermöglichen. Natürlich schließt das ein, junge Menschen zu befähigen, in der Welt handlungsfähig zu sein und den eigenen Platz, die eigene Aufgabe, auch im beruflichen Kontext, zu finden. Dazu gehört ein Wissen, das aus Wissenschaft und Kultur, aus Technik, Wirtschaft und Gesellschaft gespeist wird und das sich der einzelne in der schulischen Ausbildung auch angemessen aneignen kann.

Dieses Aneignen von Wissen, dieses Lernen kann Lust bereiten. Lernen erfordert aber auch Anstrengung. Denn es ist unstrittig, dass auch die zukünftige Gesellschaft erhebliche Leistungsanforderungen stellen und auf ihrer Erfüllung bestehen wird. Es ist allerdings entscheidend, welcher Leistungsbegriff in Wirtschaft und Gesellschaft vorherrscht. Der herkömmliche Leistungsbegriff orientiert sich an Noten und Bildungsabschlüssen, an messbaren Intelligenzleistungen, abfragbaren Kenntnissen, technischen und körperlichen Fähigkeiten. Dieser Leistungsbegriff gerät immer wieder in Gefahr, den personalen Grund und den sozialen Zusammenhang menschlicher Tätigkeit zu vernachlässigen. Individuelle Leistung wird dann meist im Vergleich mit den Leistungen anderer gemessen. Leistungsbereitschaft und -fähigkeit werden aber auch durch den 'Wettbewerb mit sich selbst' – den Willen, die eigene Person zu entwickeln – gefördert.

Zur Mehrdimensionalität von Bildung und damit auch zur Vielschichtigkeit von Leistung gehören menschlich wertvolle und gesellschaftlich wichtige Fähigkeiten wie Phantasie, Originalität, Verantwortungsgefühl, es gehören dazu auch Kooperationsfähigkeit, moralische und soziale Empfindsamkeit. Lernen, das wirksam „bildet“, umfasst Fleiß und Neugier, sorgfältige Aufgabenerledigung und selbständige, eigensinnige Suche. Kenntnisse und Verständnis, Wissen und Reflexionsfähig¬keit sollen genauso erworben werden wie Problemwahrnehmung und Problemlösungskompetenz. Doch in all dem darf die Balance von disziplinierter Anstrengung und kreativer Muße nicht aus dem Blick geraten.

Bildung im protestantischen Sinn will dazu beitragen, dass jeder und jede sich in der Welt zurecht finden, sich orientieren kann. Sie öffnet den einzelnen für die Auseinandersetzung mit Werten und Maßstäben und schließt die verschiedenen Dimensionen menschlichen Lebens, also nicht nur die kognitive Dimension ein. Insbesondere sieht sie in religiöser Bildung einen Zugang zu gelingendem Leben, in dem die Fähigkeit zur Freude wie das Ertragen von Leid, die Einsicht in Schuld und die Gabe des Vergeben-Könnens erschlossen werden.

Schließlich geht es einer so verstandenen Bildung darum, jedem die Chance zu geben, nach seinen eigenen Gegebenheiten und Voraussetzungen an dieser Welt und Gesellschaft teilzuhaben und seine Rechte und Pflichten wahrnehmen zu können. So verstanden ist schulische Bildung die Vermittlungsinstanz

- von Wissen in den unterschiedlichsten Bezügen,

- von Angeboten zu Sinnorientierung und zur Auseinandersetzung mit existenziellen Fragestellungen

- sowie von Erlebens- und Erfahrungsräumen für Gemeinschaft, Kommunikation und Bereitschaft zu gesellschaftlicher Verantwortung.

Die Schule schafft Chancen, indem sie Wissen zugänglich macht, Orientierung eröffnet und sicherstellt, dass Teilhabe nicht nur gefordert wird, sondern auch gelebt werden kann.

2. Eine evangelische Schule verbindet Vielfalt und Inklusion

Evangelische Schulkonzepte müssen dieser dreifachen Ausrichtung schulischer Bildung entsprechen. Dabei gibt es allerdings kein allgemeingültiges Muster für alle. Aber es gilt für jede evangelische Schule und ihren Schulträger zu bedenken, wie diesen Aspekten in der jeweils besonderen, konkreten Schulsituation Rechnung getragen werden kann. Das muss die Ausgangsfrage bei Schulneugründungen sein. Diese Maßstäbe gelten aber auch bei Maßnahmen zur Weiterentwicklung bestehender Schulen.

Eine zentrale Herausforderung unter dem Stichwort „Chancen schaffen“ ist die Frage nach den individuellen Lernmöglichkeiten und Lernvoraussetzungen von Kindern und Jugendlichen. Gefragt ist die Antwort evangelischer Schulen auf Heterogenität. Evangelische Schulen wollen Schülerinnen und Schüler gemäß ihren individuellen Anlagen und Fähigkeiten bestmöglich fördern. Sie müssen sich daher fragen lassen, wie sie mit Heterogenität und Differenz in Unterricht und Schulleben umgehen. Sind es Hürden, die sie umgehen, oder sehen sie darin eine pädagogische Chance, die sie entsprechend nutzen?

Grundsätzlich ist damit die Frage nach einem inklusiven Ansatz von Schule gestellt.

Seit der sog. Salamanca-Erklärung von 1994, verabschiedet auf der Weltkonferenz „Pädagogik für besondere Bedürfnisse: Zugang und Qualität“ geht es verstärkt darum, eine Diskriminierung von Risikogruppen in der Schule besser als bisher zu vermeiden. Das gilt auch für Deutschland, das diese Erklärung mit unterschrieben hat. Die Erklärung betont das Recht jedes Kindes auf Bildung und auf eine Schule, in der Kinder und Jugendliche unabhängig von ihrer Unterschiedlichkeit, unabhängig von ihrem Geschlecht, ihren jeweiligen Lebensumständen, von Behinderungen, sozialer Herkunft oder/und Kultur gemeinsam unterrichtet werden. Es geht also nicht allein um die Frage, ob Kinder mit Behinderung in Regelschulen integriert werden können, sondern es geht darum, zu akzeptieren, dass Schülerinnen und Schüler in vieler Hinsicht heterogen sind, dass diese Heterogenität „normal“ ist und entsprechend in der Schule nicht separiert, sondern abgebildet werden sollte.

Was hier weltweit gefordert wird, berührt evangelische Schulen in Deutschland in vielfältiger Weise. Wer, wenn nicht eine evangelische Schule, müsste sich einem solchen Ansatz verpflichtet wissen? Beansprucht sie doch eine Schule zu sein, die auf einem christlichen Verständnis von Mensch und Welt gründet und daraus ihre Kraft und ihre Motivation schöpft – eine Schule, die in ihren Leitbildern und Profilaussagen immer wieder betont, dass es darum geht, im pädagogischen Handeln die Annahme jedes Kindes und jedes Jugendlichen erfahrbar zu machen.

Doch auch der letzte Bundeskongress Evangelische Schule in Bethel 2008 hat gezeigt, dass im Blick auf Möglichkeiten und Grenzen inklusiver Schule auch für uns noch viele Fragen offen sind. Inklusion kann nur dann adäquat umgesetzt werden, wenn Konzeption und personelle wie räumliche Ausstattung den damit verbundenen Anforderungen entsprechen und aufeinander abgestimmt sind. Immer wird in der konkreten Situation zu prüfen sein, was für die Kinder und Jugendlichen das Beste ist und wie es unter den vorherrschenden Bedingungen adäquat umgesetzt werden kann. Entsprechend ist die Zusammenarbeit mit den sonderpädagogischen Einrichtungen in evangelischer Trägerschaft wichtig und notwendig, um professionell im Interesse der Schülerinnen und Schüler agieren und Konzepte entwickeln zu können.

Dass Chancengerechtigkeit sehr viel mit Akzeptanz und Professionalität im Umgang mit  Heterogenität zu tun hat, steht außer Frage. Der Schweizer Mediziner Remo H. Largo formuliert die Ziele einer kindgerechten Schule folgendermaßen:

- „Das Kind entwickelt ein gutes Selbstwertgefühl.

- Es kann seine Stärken entwickeln.

- Es lernt, mit seinen Schwächen umzugehen und sie zu akzeptieren.

- Es kann seine eigenen Lernstrategien entwickeln.

- Es verfügt über ein gutes Grundwissen und gute Grundfertigkeiten.“

Mit Heterogenität wirksam umgehen zu können, ist eine hohe Anforderung, die Grundschulen heute vielfach noch leichter umsetzen können als Sekundarschulen. Aber auch hier gibt es viele neue Konzeptionen, die gemeinsam davon ausgehen, dass sich die evangelische Schule konzeptionell als Reformschule versteht. Zunehmend mehr evangelische Schulen beschreiten diesen Weg einer Weiterentwicklung zur Reformschule. Sie schaffen mehr Freiraum für individuelle und offene Lernformen, z.B. in Lernbüros und Lernwerkstätten. Curricular verankerter Projektunterricht ist ein fester Bestandteil dieser Konzepte. Es gibt Schulen, die sich durch Veränderungen im Zeitrhythmus der Unterrichtsstunden auf den Weg machen. Andere wollen den unterschiedlichen Fähigkeiten und Anlagen ihrer Schülerinnen und Schüler durch Kooperationen mit heimischen Betrieben, mit Praktika oder besonderen Abschlussmöglichkeiten besser gerecht werden. Mir ist in solchen Zusammenhängen besonders wichtig, dass konkrete Anlässe des Verantwortung Lernens (Service learning) in das schulische Curriculum eingefügt werden – über die Prägung einer Schulatmosphäre hinaus, in der die Verantwortung für sich selbst wie für andere das alltägliche Miteinander prägt.

Das Plädoyer für eine Pädagogik der Vielfalt will Lehrerinnen und Lehrer nicht überfordern, sondern will in erster Linie das Augenmerk auf angemessene Schulstrukturen und Schulkonzepte richten. Bei einer Pädagogik der Vielfalt geht es um Raum und Zeit auch für Lehrkräfte. Sie brauchen Raum und Zeit, um aufmerksam wahrnehmen zu können, was Kinder und Jugendliche bewegt, antreibt oder in ihren Möglichkeiten hindert. Es geht um Formen selbstständigen und individualisierten Lernens, aber auch um Raum für vielfältige Erfahrungen mit Kindern und Jugendlichen außerhalb des Unterrichts. Deswegen verstehen gerade evangelische Schulen ihren Lernort auch als Lebensraum, der unterschiedliche Erfahrungen ermöglicht und zugleich Begleitung und Unterstützung anbietet.

Alle Schülerinnen und Schüler in ihrer Vielfalt im Blick zu haben, bedeutet allerdings nicht, dass keine Schwerpunkte gesetzt werden dürfen. Der Blick auf die vielfältige Schulwirklichkeit in und außerhalb der Klassen und Lerngruppen muss vielmehr einschließen, dass unterschiedliche Schwerpunkte zu berücksichtigen sind. Zu fördern sind diejenigen, die besondere Lern- und Leistungsschwierigkeiten haben. Der Konsens hierüber wird inzwischen kaum angetastet. Zugleich sind aber auch Kinder mit besonderen Begabungen zu fördern. Hierfür wächst langsam die Aufmerksamkeit. Jedes Kind ist angenommen – das meint auch die Unterstützung und Förderung besonderer Talente in kognitiven wie musischen oder sportlichen Bereichen. Vielfach wird dabei nicht zureichend berücksichtigt, dass hohe Begabung oft mit partieller Leistungsschwäche einhergehen kann. Hochbegabt ist nicht gleichbedeutend mit hochleistend. Gerade evangelische Schulen werden hier achtsam sein und Verfahren entwickeln, damit nicht ein Kind verloren geht, weil es zwar hochbegabt, aber zugleich verhaltensauffällig oder in seinen Leistungen eingeschränkt ist.

Die Konzentration auf die Förderung jener Schülerinnen und Schüler, die in ihrer Leistungsfähigkeit benachteiligt sind, auf der einen Seite und die längst fällige Aufmerksamkeit für die Hochbegabten auf der anderen Seite soll nun nicht dazu führen, dass wir nur auf die „Spitzen“ und auf die „Schwachen“ oder scheinbar „Schwierigen“ achten. Jedes Kind – auch und gerade das „unauffällige“ und „stille“ Kind – braucht die notwendige Zuwendung und Beachtung. Denn auch dieses Kind hat das Recht, dass es seine Fähigkeiten, Interessen und Anlagen entdecken, entwickeln und nutzen kann.

Schüler individuell fördern, sie zur Teilhabe und Verantwortung befähigen und religiöse Bildung und Erfahrung ermöglichen – das sind Stichworte, unter denen sich die Profilschwerpunkte evangelischer Schulen zusammenfassen lassen. Dass sie damit erfolgreich sind, hat die wichtige Studie von Standfest, Scheunpflug und Köller aus dem Jahre 2005 bestätigt. Leistungsschwächere und sogenannte Risikoschüler werden an evangelischen Schulen besonders gut gefördert. Das Lehrer-Schüler-Verhältnis wie generell das Schulklima werden von den Schülern in der Regel positiver eingeschätzt als an staatlichen Schulen; und selbst in einem zu erheblichen Teilen noch immer entkirchlichten Umfeld wie in den östlichen Bundesländern bieten diese Schulen über den Religionsunterricht hinaus Raum für religiöse Erfahrung und eine Begegnung mit Glauben und Religion. Dies alles entspricht den Erwartungen, die Eltern häufig an evangelische Schulen richten.

3. Eine Evangelische Schule gestaltet Übergänge

Evangelische Schulen können damit gerade auch jenen Schülerinnen und Schülern Unterstützung geben, die generell unter schwierigeren Bedingungen ihren Weg finden müssen. Sie können in einer Krise Halt gewähren und beim Aufwachsen in schwieriger Zeit Orientierung geben. Sie stellen einen Raum dar, in dem der Übergang in das Erwachsenenalter konstruktiv gestaltet werden kann.

Die Gestaltung von Übergängen wurde schon immer als eine besondere Aufgabe der Religion angesehen, die dafür Passageriten entwickelt hat. Man kann daraus eine weit reichende Folgerung für evangelische Schulen ableiten: Ihre besondere Qualität erweist sich in der Gestaltung von Übergängen, ja in der Befähigung zum Übergang. Das beginnt bereits mit dem Übergang in den Elementarbereich; immer stärker entdecken wir die besonderen Bildungspotentiale, die in der Altersstufe unter drei Jahren liegen. Die Elementarbildung selbst haben wir schon lange als eine herausragende kirchliche Aufgabe erkannt; ungefähr die Hälfte der Kindergartenplätze in Deutschland befindet sich in kirchlicher Trägerschaft. Programmatisch haben wir in dem Text „Wo Leben wächst und Glauben sich entfaltet“ von 2004 den Bildungsauftrag im Elementarbereich in den Vordergrund gerückt.

Auf diesem Hintergrund macht eine evangelische Schule es sich zur Aufgabe, den Weg des Kindes vom Kindergarten in die Grundschule, von der Grundschule in weiterführende Schulen, von der Schule in Ausbildung oder Studium, von der Phase der Bildung und Ausbildung in die Verantwortung in Familie, Beruf, Kirche und Gesellschaft zu unterstützen und zu gestalten. Dass diese Übergänge gelingen, dass in ihnen Versagen oder Schulabbruch vermieden werden, dass die Gefahr von Resignation und der mit ihr so oft verbundenen Regression (zum Beispiel in menschenverachtende Einstellungen) vermieden werden, ist ein wichtiges Ziel pädagogischen Handelns in evangelischen Schulen.

In jedem Fall werden wir in allgemein bildenden wie im berufsbezogenen Bereich fragen müssen, wie wir Bildungsgerechtigkeit durch ein längeres Offenhalten von Abschlussmöglichkeiten sichern können. Unser Bildungssystem ist zwar durchlässig, aber überwiegend nach unten. Auf 100 Schüler, die absteigen, kommen höchstens 11 Schüler, die aufsteigen. Die schulische Ghettoisierung von Minderheiten stabilisiert die gesellschaftlichen Ghettos. Wenn Bildungsräume keine Förderräume sind, entwickeln sie sich zwangsläufig zu Trainingsarenen für den gesellschaftlichen Konkurrenzkampf mit unfairen Startbedingungen. Denn unfair und unprofessionell ist es, wenn am Übergang von der Grundschule zu den weiterführenden Schulen Lehrerinnen und Lehrer die Messlatte für Kinder aus ohnehin benachteiligten Milieus fast um ein Drittel höher hängen – im Vergleich zu den Mitschülerinnen und Mitschülern aus der Mittelschicht. Aus schwierigen Verhältnissen heraus muss man kraftvoller springen, um für höhere schulische Weihen empfohlen zu werden.

Unsere Schulen sollen durchlässig sein, nicht nach unten, sondern nach oben. Die Schule schafft Chancen, wenn sie keine Einbahnstraße ist, die nur zu einem Abschluss führt, und wenn sie als Fahrstuhl nicht nur die Fahrrichtung nach unten kennt. Wir brauchen Schulen, die den Wechsel auch zu höheren Schulabschlüssen ermöglichen. Wir brauchen Schulen, die alternative Abschlüsse auch und gerade an beruflichen Schulen möglich machen. Wir brauchen ein flexibles System, damit die unterschiedlichen Entwicklungstempi bei Jugendlichen berücksichtigt werden können, damit Phasen der Verzögerung, des Rückzugs aus schulischem Lernen, der fehlenden Motivation auch aufgefangen und wieder konstruktiv gewendet werden können. Dann haben mehr Jugendliche eine Chance, auch auf berufliche Eingliederung.

Schließlich wird Gerechtigkeit dann sichtbarer, wenn Nichtversetzung und „Abschulung“ nicht als pädagogische Antwort auf mangelndes Lernverhalten gelten. Es ist mit guten Gründen anzunehmen, dass wir von der Fiktion einer homogenen Lerngruppe erst dann nachhaltig Abschied nehmen werden, wenn sie in unserem schulischen Konzept und vor allem in unseren Köpfen gar nicht mehr vorgesehen ist. Dazu brauchen wir mehr Erfahrungen mit anderen Modellen. Vor allem aber brauchen wir den Mut, sie zu erproben, die Kompetenz, sie weiterzuentwickeln, und den Willen, sie zu verbreiten.

Aber wir werden auch im evangelischen Kontext nicht über Gerechtigkeit und Chancenvergabe sprechen können, wenn wir uns nicht der Frage nach Schulform und Schulstruktur stellen. Evangelische Schulen gibt es in allen Schulformen, sie sind zu Hause in dreigliedrigen wie in zweigliedrigen Systemen der jeweiligen Bundesländer, im allgemein bildenden wie im berufsbezogenen Bereich. Aber sie können und müssen in dieser Frage stärker als bisher eigene Akzente setzen. Vielleicht liegt darin eine entscheidende Chance, Bildungsgerechtigkeit im evangelischen Kontext weiterzudenken.

Vieles von dem, was wir für evangelische Schulen als konstitutiv oder weiterführend beschreiben, verweist auf die Entwicklung zur Ganztagsschule. In der Handreichung der EKD zu Schulen in evangelischer Trägerschaft gilt das Plädoyer einem kontrollierten Ausbau von Ganztagsschul- und Betreuungsangeboten unter Einbezug von Kirchengemeinden, evangelischer Jugendarbeit und weiteren Kooperationspartnern aus Jugendhilfe und Diakonie. Aber wir sollten mehr Mut dazu entwickeln, exemplarisch Modelle der gebundenen Ganztagsschule zu erproben, um stärker die pädagogischen Ressourcen eines klar strukturierten, rhythmisierten schulischen Angebots und seine größeren Möglichkeiten zur Veränderung des Unterrichts zu nutzen. Die Ganztagsschule verbessert die Fördermöglichkeiten von Schülerinnen und Schülern und den Rahmen für offene und individualisierte Lernformen – und damit die Chancen gerade derjenigen, die mehr Zeit und Unterstützung für ihre eigenen Lernprozesse benötigen. Sie schafft mehr Raum für Lehrerinnen und Lehrer, Kinder und Jugendliche in ihrer Unterschiedlichkeit  und in ihren oft verborgenen Talenten wahrzunehmen. Eine gute Ganztagsschule vereinnahmt Schülerinnen und Schüler nicht am ganzen Tag für den Unterricht, sondern eröffnet Spiel- und Freiräume für die Entfaltung ihrer Persönlichkeit. Sie nimmt die Last der Hausaufgaben von den Familien und schafft damit auch Platz für mehr Gemeinsamkeit zu Hause, d. h. für eine Zeitspanne, die dann wirklich frei von Schule sein kann. Davon profitieren ganz besonders diejenigen, die ansonsten aus ihrem Elternhaus keine Unterstützung bei Hausaufgaben erhalten können und für die eine bezahlte Nachhilfe nicht möglich ist. Denn wir dürfen bei der Diskussion um die Ganztagsschule nicht übersehen, welch hohen Anteil in Deutschland die Nachhilfe einnimmt. Neueste Erhebungen haben erbracht, dass von den Schülerinnen und Schülern der Klassen 5 bis 10 des Gymnasiums jeder zweite Nachhilfestunden braucht. Nachhilfeschulen sind inzwischen ein eigener Wirtschaftszweig. Viele Gelder fließen in diese privatwirtschaftlichen Unterstützungssysteme. Es ist deutlich, wie stark damit Bildungschancen auch von entsprechenden Ressourcen in den Elternhäusern abhängig sind.

Als evangelische Schulträger und als evangelische Schulgründungsinitiativen sollten wir uns verstärkt fragen, welche Schulen wir in Zukunft vor allem gründen wollen. Setzen wir auf Modelle kooperativer Schulformen, halten wir an traditionellen Schuleinteilungen in zwei- oder gar dreigliedrigen Schulsystemen fest oder wagen wir mehr Ansätze von Modellschulen zum längeren gemeinsamen Lernen? In einzelnen Landeskirchen ebenso wie in den Gremien des Arbeitskreises Evangelische Schule sind dazu vielfältige, bisweilen kontroverse Diskussionen im Gange.

4. Eine evangelische Schule zielt auf verantwortete Freiheit

Verantwortete Freiheit aus Glauben in wachsenden Lebenskreisen – so lässt sich das Ziel einer solchen Gestaltung von Übergängen bezeichnen. Weil diese verantwortete Freiheit das Ziel evangelischer Bildungsprozesse ist, scheue ich übrigens nicht davor zurück, ein Ziel evangelischer Schulen in der Bildung einer evangelischen Verantwortungselite zu sehen – nämlich in der Befähigung junger Menschen dazu, aus dem Geist des christlichen Glaubens Verantwortung für sich und für andere, ja Verantwortung für das Ganze zu übernehmen.

Die Schule kann dies alles nicht allein leisten. Wer das von ihr fordert, überfordert sie. Darum wird sie die Kooperation und die Vernetzung mit vielen Einrichtungen gerade auch im Bereich von Kirche und Diakonie suchen, diese Verbindungen weiterentwickeln und ausbauen. In diesem ganz spezifischen Sinn ist eine evangelische Schule eine kooperative Schule.

Eine evangelische Schule schafft Chancen, wenn ihr Bildungskonzept alle Dimensionen menschlichen Lebens berücksichtigt. Religiöse Bildung in der Schule öffnet Schule für die existenziellen und religiösen Fragen der Kinder und Jugendlichen, für ihre Begleitung in Glaubens- und Lebensfragen. Sie schafft so eine Basis, dass Kinder und Jugendliche Dimensionen eines gelingenden Lebens kennen lernen, die über die Frage nach Leistung, materieller Sicherheit und gesellschaftlichem Ansehen hinausgehen. Sie gibt Gelegenheit, sich mit Scheitern und Schuld im eigenen Leben auseinanderzusetzen und zugleich die Möglichkeit des Neubeginns zu bedenken. Kein Zweifel: Die Schule ist ein Lebensraum, dessen Humanität in hohem Maß davon abhängt, ob die Zusage des neuen Anfangs – jedem Getauften mit seiner Taufe mitgegeben – in der Wirklichkeit des gemeinsamen Lebens und Arbeitens Gestalt gewinnt. Chancen werden sichtbar, wenn die Zuwendung zu jedem einzelnen Kind, Jugendlichen oder jungen Erwachsenen erfahrbar und spürbar wird und wenn die Präsenz des christlichen Glaubens den Schulalltag prägt. Evangelische Schulen werden deshalb über den Religionsunterricht hinaus religiöse Angebote machen. Sie werden der Schulseelsorge Raum geben, aber auch Schulsozialarbeit oder Beratungsnetzwerke gemeinsam mit außerschulischen Partnereinrichtungen aufbauen. Entscheidend aber ist, dass der durch solche Initiativen geprägte Geist wechselseitiger Achtung und gemeinsamen Neuanfangs auch dort leitend ist, wo er nicht in besonderen religiösen Angeboten oder sozialen Aktivitäten thematisch wird, sondern die Lebenswirklichkeit der Schule in für alle spürbarer Weise prägt.

Schule schafft Chancen, wenn sie Bildung, Erziehung und Betreuung im Horizont der Hinwendung zum Nächsten und der Verantwortung für das Ganze sieht. Viele evangelische Schulen geben gerade darin ein Beispiel und wirken auch für staatliche Schulen vorbildhaft, wie die zahlreichen diakonisch-sozialen Schulprofile oder auch die Formen globalen Lernens zeigen. Diese Ansätze gilt es auszubauen. Denn sie öffnen Spielräume für das Leben der Schülerinnen und Schüler, die von den vielfältigen Erfahrungen solcher Lernprozesse in ihrer persönlichen Entwicklung profitieren. Sie erwerben so aber auch wichtige Kompetenzen für ihr Handeln in der Gesellschaft. Die Schule leistet damit einen wesentlichen Beitrag zur Entwicklung und Stärkung einer Gesellschaft, die Gerechtigkeit nicht nur im individuellen, regionalen oder landesbezogenen Kontext definiert, sondern sich der gemeinsamen Verantwortung für eine gerechte Welt bewusst ist.

Wir wissen, dass das Selbstkonzept von Kindern und Jugendlichen gestärkt und zugleich ein achtsamer Blick auf den anderen geschärft wird, wenn wechselseitige Akzeptanz und Wertschätzung das Miteinander in der Schule prägen. Dass gerade hierin besondere Stärken unserer evangelischen Schulen liegen, ist auch empirisch belegt. Zugleich liegt ein bleibender Auftrag darin, diese besondere Ressource unserer Schulen zu pflegen und weiterzuentwickeln, um möglichst vielen Kindern Schule und Lernen als positive Erfahrung zu ermöglichen und ihre Chancen im und für das Leben zu erweitern.

5. Eine evangelische Schule ist ein Raum der Wertschätzung

Wertschätzung ist eine der Formen, in denen evangelische Schulen den Boden für Gerechtigkeit bereiten. Diese Wertschätzung gilt allererst den Schülerinnen und Schülern, aber nicht ihnen allein.

Hierzu gehört in besonderem Maße die Öffnung der Schule für das Engagement der Eltern. An evangelischen Schulen hat diese Einbindung der Eltern eine besondere Tradition. Das Engagement von Eltern gehört zu ihren Profilmerkmalen, steht aber auch immer wieder vor neuen Herausforderungen. Diese zu bewältigen, sollte auch dadurch gestützt werden, dass Elternarbeit und Einbindung der Eltern ein wichtiges Merkmal für gelingende Integration unterschiedlicher Gruppen in der Schule darstellt. Besonders wichtig ist das bei einem hohen Anteil von Schülerinnen und Schülern mit Migrationshintergrund, wie wir aus der Forschung und Schulpraxis in Kanada wissen – einem Land, das dazu steht, Einwanderungsland zu sein.

Aber das Ziel gelingender Integration durch engagierte Elternarbeit lässt sich auch auf andere Ausgangslagen übertragen. Durch neuere Forschungsergebnisse sind wir inzwischen sensibler für Ausgrenzungen durch Schicht- und Milieuzugehörigkeit. Alarmierend sind zum Beispiel Barrieren durch Armut. Entgegen früheren Annahmen sind sie selbst dann entwicklungshemmend, wenn die Herkunftsfamilien aufgrund eines höheren Ausbildungsstatus und in ihrer Haltung bildungsfreundlich sind. Heterogenität und Differenz, sofern man ihr Vorhandensein nicht ausblendet, können zum stimulierenden Element für spezifisch evangelische Schulentwicklungskonzepte werden.

Evangelische Schulen sind nicht nur für evangelische Kinder und Jugendliche gedacht – viele Schulen betonen dies in ihren Leitbildern und Schulprogrammen. Sie wollen aus evangelischem Glauben heraus offen sein für Kinder und Jugendliche aus anderen religiösen oder auch nicht religiösen Kontexten. "Offen für alle" – mit diesem Motto wirbt ein evangelisches Gymnasium in Thüringen im Grunde für alle evangelischen Schulen. Sie sind keine Rückzugsgebiete für Kirchentreue, keine „privaten“ Inseln kirchlicher Innerlichkeit. Sie verstehen sich als Teil des öffentlichen Schulwesens und sind Ausdruck einer gesamtgesellschaftlichen Verantwortung der Kirche. Ihre religiöse Tradition und ihr Verständnis von Bildung wollen dem Einzelnen wie auch der Gesellschaft dienen. Doch die Erfahrung zeigt auch: Die Bewahrung und Gestaltung des evangelischen Profils kann nicht allein den Lehrenden überlassen bleiben; sie sind vielmehr darauf angewiesen, dass dieses Profil auch in der Elternschaft und von einem signifikanten Teil der Schülerinnen und Schüler aus eigener Glaubensbindung heraus aktiv mitgetragen wird. Darauf, wie sich der evangelische Charakter einer Schule mit dem Anspruch, Schule für alle zu sein, verbindet, ist immer wieder neu zu achten.

Gerade in den östlichen Bundesländern ist das ein zentrales Thema, weil Religion und Konfession hier nur für eine Minderheit in der eigenen Biografie verankert sind. Evangelische Schulen wissen sich in besonderem Maße für Kinder der eigenen Konfession verantwortlich. Sie schaffen aber auch für Kirchenferne neue Zugangsmöglichkeiten zu religiösen Themen und Ausdrucksformen. Sie erschließen die kulturelle Prägekraft des christlichen Glaubens auch für Kirchenungeübte. Kirchliche Feste, die Offenheit für religiöse Sinnfragen in Unterricht und Schulleben sowie die Zusammenarbeit mit Kirchengemeinden spielen im Gesamtkontext des Schulalltags eine wichtige Rolle. Auch für einen innovativen Religionsunterricht liegen hier besondere Möglichkeiten.

Die evangelische Schule versteht und lebt Bildung und Erziehung auch als Gestalten von Beziehungen. Sie sind die Basis für ein Lehren und Lernen, das auf der gemeinsamen Überzeugung eines christlichen Menschenbildes basiert. Chancen öffnen sich in einer Schule für alle Schülerinnen und Schüler, wenn eine positive Schulkultur und ein förderliches Lernklima das Miteinander prägen. Lernförderlich ist Schule dann, wenn in ihr Respekt und Verantwortung gepflegt, transparente Leistungsbewertung und gerechte Maßstäbe sichtbar, Fürsorge spürbar und Lachen erlaubt sind. Diese Aspekte kennen wir aus der Schulqualitätsforschung als wichtige Bausteine zur Herstellung gelingender Lernprozesse.

Bei all diesen Überlegungen sollte aber eines immer im Blick bleiben: Eine evangelische Schule muss auch den Lehrenden und Mitarbeitenden Chancen verschaffen und offen halten. Sie brauchen die Möglichkeit, auf wirksame Unterstützungssysteme zurückgreifen und Unterstützung erfahren zu können. Ein bundesweites Netz von Fortbildungs-, Beratungs- und Unterstützungssystemen für evangelische Schulen ist daher ein Anliegen der unterschiedlichsten Einrichtungen im Bereich der EKD. Landeskirchen und Schulverbände sowie Verbände von Schulträgern sind sich einig und ziehen an einem Strang. Angebote sollen aufeinander abgestimmt und transparent angeboten werden. Doppelstrukturen und Konkurrenzen werden im Interesse einer gesteigerten Qualität aufgehoben. Viele Unterstützungssysteme, religionspädagogische Institute, Institute an Universitäten, Fortbildungseinrichtungen von Stiftungen – um nur einige zu nennen – arbeiten bereits zusammen, ergänzen sich und entwickeln sich im gemeinsamen Erfahrungsaustausch.

Die evangelische Schule muss, um die dargestellten Ansätze umsetzen und weiterentwickeln zu können, auch künftig gute Lehrerinnen und Lehrer für sich gewinnen. Wir müssen uns auf neue Wege in Personalgewinnung und Personalentwicklung einlassen; das Gewicht dieser Frage muss allen Verantwortlichen bewusst sein. Wir werden fragen müssen, wie wir im Blick auf unterschiedliche Anstellungsverhältnisse, Bezahlungsmodi oder den Wechsel des Anstellungsträgers künftig an evangelischen Schulen verfahren wollen. Zwischen den evangelischen Schulträgern sollten Übereinkommen bestehen, die es Lehrkräften ermöglichen, z. B. bei familiären Veränderungen auch zwischen den Schulträgern evangelischer Schulen unterschiedlicher Bundesländer zu wechseln.

Damit ist zugleich angedeutet, dass viel von der künftigen Finanzierung der Schulen abhängt. Hier geht es nicht zuletzt um das gemeinsame Engagement der Träger von evangelischen Schulen für eine angemessene staatliche Finanzierung, von der wir leider noch ein ganzes Stück entfernt sind. Zahlreiche Gutachten belegen eindeutig, in wie hohem Maße auf diesem Feld der Bildung die Kirche auch finanziell hohe Lasten trägt.

Unsere Schulen werden nachhaltig Chancen schaffen, wenn sie sich dabei auch selbst immer wieder der Frage nach ihrer Qualität und Weiterentwicklung stellen. Wir sollten daher auch die Evaluationsverfahren, die für evangelische Schulen bereits entwickelt wurden und noch entwickelt werden, nutzen und profilieren. So können wir sichern, das unsere Qualitätsvorstellungen für evangelische Schulen auch in dafür angemessene Verfahren übersetzt werden und das abgebildet wird, was uns wichtig ist.

Schule schafft Chancen, wenn sie sich selber weiterentwickeln kann, aber auch Zeit zum Innehalten und zur Reflexion hat. Die Schule wird bedrängt, gefordert, bisweilen überfordert. Darum braucht sie Unterstützung und Stärkung, Sicherheit und Zuspruch. Dieser Kongress mit seinen vielen Beispielen und Anregungen will zeigen, wie das möglich ist. Er soll nach innen und nach außen, in Kirche und Gesellschaft verdeutlichen, auf welchem Weg die evangelischen Schulen dieser Region sich befinden. Kongresse wollen schließlich auch Signale dafür setzen, woran evangelische Schulen sich orientieren und wohin sie gehen wollen, um allen Kindern und Jugendlichen Wege zu öffnen, ihre Chancen wahrzunehmen.