Pflege braucht Beziehung und Spiritualität – ein Segensgruß beim DEKV Kongress, Berlin

Wolfgang Huber

Kürzlich fand in unserer Kirche eine Veranstaltung zum Mindestlohn statt. Es ging darum, dass die Mehrheit der Beschäftigen im Niedriglohnsektor Frauen sind statt. Der Titel der Veranstaltung stammt aus der Tradition der Frauen- und Pflegediakonie: „Mein Lohn ist, dass ich darf.“ Ich bin nicht sicher, ob die Mehrzahl der Teilnehmerinnen und Teilnehmer wusste, dass dieses Motto von Wilhelm Löhe stammt, dem Gründer des Diakonissenmutterhauses in Neuendettelsau. Die Veranstalterinnen jedenfalls hatten es bewusst und in ironischer Absicht gewählt: „Seht her“, sagte die Wahl dieses Diakonissenspruchs, „die Tradition der Frauenberufe wirkt fort. In Erziehung, Pflege und Hauswirtschaft werden noch immer keine angemessenen Löhne gezahlt. Und auch die Lobby für diese Berufe ist noch immer zu schwach.“

Das ist zu meinem großen Bedauern nur allzu wahr. 25 Euro stehen heute für eine „erweiterte große Körperpflege“ zur Verfügung, für Aufstehen, Toilettengang, Zähneputzen, Duschen und Ankleiden und vielleicht auch für ein kurzes Gespräch nebenher. 25 Euro, das ist dieselbe Summe, die man braucht, um seine Winterreifen wechseln zu lassen. Dass der Pflegeberuf es nicht unter die ersten 25 Plätze der Berufswünsche schafft, dass die Verweildauer in diesem Beruf so kurz ist, dass die Pflege ein Kandidat für den Mindestlohn ist, muss für Kirche und Diakonie ein Alarmsignal sein.

Gibt es da einen roten Faden in unserer Tradition der Frauenberufe? Wenn wir der Fährte des Diakonissenspruchs folgen, dürfen wir die Augen vor den Schattenseiten dieser Traditionslinie nicht verschließen. Vielleicht werden wir aber auf diesem Weg auch das Feuer unter der Asche entdecken, das Feuer, das heute wieder wärmen kann. Denn der Dienst am Mitmenschen ist nach wie vor eine herausragende Gestalt christlicher Nächstenliebe. Er ist um der Menschlichkeit unserer Gesellschaft willen unentbehrlich. Er verdient angemessene Würdigung und ist seines Lohnes wert.

Heute muss gefragt werden, was uns die Pflege wert ist und wie sie angesichts des demographischen Wandels morgen menschenwürdig gestaltet werden kann. Woher kommen die professionellen Pflegekräfte der Zukunft? Es gibt tatsächlich Parallelen zu der Zeit, als die moderne Krankenpflege geprägt wurde und als der Diakonissenspruch entstand – Mitte des 19. Jahrhundert. Damals überforderten die beginnende Industrialisierung, die neue Mobilität und die Frauenerwerbstätigkeit die noch großen Familien mit ihren Pflege- und Erziehungsaufgaben. In den Pflegeeinrichtungen und Hospizen herrschten menschenunwürdige Zustände, von denen wir uns heute kaum eine Vorstellung machen können. Die unausgebildeten Krankenwärterinnen lebten von dem, was die Gäste für Kost, Logis und Hilfstätigkeiten erübrigen konnten. Und Ärzte kamen nur selten zur Visite.

Damals waren es einzelne engagierte Christinnen und Christen wie Amalie Sieveking in Hamburg, Theodor Fliedner in Kaiserswerth oder Wilhelm Löhe in Neuendettelsau, die spürten: So kann es nicht weitergehen. Hier sind Glauben und Kirche herausgefordert. Barmherzigkeit und Mitleiden – wir würden heute sagen: Empathie und Zuwendung – wurden zu Schlüsselbegriffen dieser Bewegung. Damals las man die biblischen Gleichnisse mit neuen Augen – von Jesus, der uns in den Kranken und Armen begegnet, von den Werken der Barmherzigkeit. Die „Compassion“ wurde beflügelt durch den Blick auf Gott in Christus, der mitleidet und nicht unbewegt über den Dingen schwebt.

Die neuen diakonischen Pflegeeinrichtungen des 19 Jahrhunderts stellten sich den sozialen Nöten, sie boten jungen Frauen die Chance einer Ausbildung und einer sinnvollen Betätigung und sie schufen Netzwerke der Hilfe und der Heilung bis hinein in die Gemeinden. Die Schwestern arbeiteten sozial versorgt und abgesichert, aber für ein Taschengeld. Die erste und zweite Generation hat das, soweit wir wissen, nicht als Nachteil empfunden. Ihnen ging es um den Einsatz für andere, um die Chance, eine Bewegung mitzugestalten – ganz so wie heute den Freiwilligen in Hospizvereinen oder in der Tafelbewegung. Veränderung für die Kranken und  ihre Familien, für die Gesellschaft – aber auch für das eigene Leben: das war es, was sie erlebten. Florence Nightingale beschrieb in ihrer Zeit als Schwesternschülerin in Kaiserswerth „die Atmosphäre, die ein Krankenhaus beseelt, das man als Schule Gottes ansehen darf, in der Patienten wie Pflegerinnen Gewinn davon tragen.“

Florence Nightingales sah freilich auch die Grenzen der damaligen Praxis und wurde so zur Erfinderin der modernen Krankenpflege und einer ihr gemäßen Pflegeausbildung. Sie hat damit Schule gemacht – bis in unsere Zeit.

Die Entwicklung der Pflegestudiengänge hat das Selbstbewusstsein der Pflege gestärkt. Aber wer einen pflegewissenschaftlichen Studiengang abgeschlossen hat, arbeitet heute bevorzugt in Qualitätssicherung und Pflegemanagement. In der modernen Modularisierung der Pflege ist die lange hoch gehaltene Beziehungspflege in den Hintergrund getreten. Die meiste Zeit am Krankenbett eines schwerstmehrfachbehinderten Menschen verbringen heute nach einer Studie die Reinigungskräfte. Und das, obwohl es in der Pflegewissenschaft vor allem um das Individuum, um Interaktion und Beziehung geht. Doch die Kräfte der Zuwendung waren in den letzten Jahren gering geschätzt – am Lohn kann man es sehen.

Das wird in Zukunft zum Bumerang werden, wenn wir nichts ändern. Angesichts der Zahlen von Pflegebedürftigen, angesichts der vielen Single-Haushalte gilt es ja nicht nur, professionelle Pflegekräfte zu gewinnen, sondern auch familiäre und nachbarschaftliche Netze zu stärken. Das Pflegesetting der Zukunft lebt aus einer guten Kooperation zwischen Pflegefachkräften, Angehörigen und Freiwilligen – ob in stationären Einrichtungen oder im Wohnquartier.  Und es ähnelt damit in manchem den Anfängen. Professionelle und lebensweltliche Hilfen müssen verschränkt werden. Zuerst und vor allem müssen Pflegehaushalte stabilisiert und unterstützt werden. Das gilt auch im Blick auf die zeitweilige Freistellung Erwerbstätiger für Pflegeaufgaben in der Familie. Pflegende sind damit neben oder gerade in ihrer Professionalität Kommunikatoren und Gemeinwesenarbeiter –  Menschen, die Beziehungsnetze knüpfen, in denen andere gut aufgehoben sind.

Vielleicht ist die Hospiz- und Palliative-Care-Bewegung macht beispielhaft deutlich, dass Professionelle allein ein Beziehungsnetz nicht aufrechterhalten können. Es braucht Engagierte im Team, in der Nachbarschaft, in Familie und Freundeskreis. Wo das gelingt, ist es auch wieder möglich, dass Menschen da sterben, wo sie gelebt haben – in ihren eigenen vier Wänden, wie es sich die Mehrheit der Menschen wünscht. Oder, wenn das Pflegeheim der richtige Ort ist, dort auch mit Unterstützung aus der Familie, dem Freundeskreis oder der Nachbarschaft. Die stillschweigende Aussonderung der Gebrechlichen und Sterbenden aus der Gesellschaft der Fitten und Leistungsstarken muss einer neuen Integration weichen. Das herrschende Menschenbild, das im Wesentlichen auf Autonomie und Tätigsein ausgerichtet ist, muss um die Aspekte der Angewiesenheit und Vergänglichkeit ergänzt werden. Und die Pflege, die in den letzten Jahren auf ihre körperlichen Aspekte reduziert worden ist, muss wieder in ihren sozialen, psychischen und spirituellen Dimensionen gesehen werden.

Pflege ist ein Beziehungsgeschehen. Ohne Respekt und Vertrauen, ohne Zeit und Verlässlichkeit, ohne Offenheit und persönlichen Einsatz kann sie nicht gelingen. Gefragt sind auch die Fähigkeiten, die die Hospizbewegung wieder stark gemacht hat: Achtsamkeit, Einübung in die eigene Sterblichkeit, Demut gegenüber dem Leben – und die Erwartung, vielleicht gerade an den Lebensschwellen eine Wirklichkeit zu entdecken, die wir sonst verdrängen.

Vielleicht klingt in dem Diakonissenspruch aus Neuendettelsau etwas von dieser Ahnung an. Die Pflegebeziehung führt uns über Schwellen, die wir sonst lange nicht überschritten hätten. Über die Schwelle zu einem Menschen, dessen Lebensgeschichte uns staunen lässt. Zu einer Patientin, deren Familie und Freundeskreis alle Kräfte angespannt hat, um die letzten Wochen gemeinsam zu bewältigen. Krankheitserfahrungen sind Wege, um die Lebenskunst zu lernen. Und es ist ganz sicher ein Privileg, so viele persönliche Einblicke zu bekommen wie Sie als Pflegende. Darum haben Sie diesen Beruf gewählt – und darum verzweifeln Sie sicher auch manchmal an diesem Beruf. Vor allem dann, wenn die Zeit zum Stehenbleiben und Zuhören zum Trauern und Nachdenken fehlt. Wenn die Arbeitsabläufe Beziehungen stören, statt sie aufzubauen, dann werden Sie um den wichtigsten Gewinn Ihres Berufes gebracht. Denn so wichtig ein angemessener Lohn ist – und dafür werden wir gemeinsam kämpfen müssen – so wichtig ist dieser innere Gewinn, das Wachsen am Beruf, die Liebe zum Leben – trotz allem.

Als Menschen wie Sieveking, Fliedner oder Löhe oder auch Florence Nightingale die Krankenpflege neu entdeckten, da waren sie auf den Spuren Jesu unterwegs. Sie fühlten sich Gottes Wirken nahe. Dem heilenden und pflegenden Gott, dem sorgenden Gott.

Gehen Sie wertschätzend mit Ihrem Beruf, mit sich selbst und Ihren Lieben um, damit sie verantwortlich für andere da sein können. Nehmen Sie sich die Zeit,  auf sich selbst zu achten, auf die eigenen  Rhythmen und Körpersignale. Nehmen Sie sich Zeit zur Reflexion und zum Gebet, Zeit, um die Menschen, die Ihnen am Herzen liegen, vor Gott zu bringen. In solchen Zeiten spüren wir unsere Wurzeln und stärken unsere Motivation. Wir entdecken auch das scheinbar Selbstverständliche neu. Wir dürfen leben, wachsen, füreinander da sein. Daraus wächst auch die Kraft zur Solidarität, die Kraft, gemeinsam einzustehen für die Würde der Kranken und Sterbenden und für das Ansehen der Pflege in unserer Gesellschaft. Für einen gerechten Lohn, für tragfähige Netze und dafür, dass viele Menschen entdecken, welche Türen aufgehen, wenn wir anderen in Liebe begegnen.

Besonders an diejenigen unter Ihnen richtet sich dieser Segenswunsch, die sich für eine Ausbildung in der Pflege entschieden haben, die sich trotz der Schlagworte Pflegenotstand und Überalterung der Gesellschaft auf einen Beruf nahe am Menschen vorbreiten lassen. Bleiben Sie behütet. Gott segne Ihren Weg.