„Religion, Politik und Gewalt in der heutigen Welt“ - Vorlesung im Rahmen der Johannes-Gutenberg-Stiftungsprofessur 2009 in Mainz

Wolfgang Huber

I.

Dass Gewalt Gottesdienst sei, wird heute mit demselben Nachdruck behauptet, wie die Unvereinbarkeit eines religiösen Glaubens mit Gewaltanwendung vertreten wird. Die alte Kontroverse darüber, ob die Religion Gewaltanwendung fördere oder ihr aus prinzipiellen Gründen entgegenstehe, wiederholt sich einmal mehr. Doch es wäre falsch, darin einfach den Satz bestätigt zu finden, es gebe nichts Neues unter der Sonne.  Denn heute stellt sich diese Frage in einem globalisierten Kontext. Und sie betrifft nicht nur eine, sondern alle Religionen.

Immanuel Kant hat vor über zwei Jahrhunderten bemerkt, von einem allgemeinen Weltbürgerrecht könnten wir dann sprechen, wenn die Rechtsverletzung an einem Ort an allen Orten gespürt werden könne.  Die heutige Globalisierung ist indessen nicht dadurch geprägt, dass die weltweite Anerkennung der Menschenrechte deshalb unstrittig geworden ist, weil ihre Verletzung an einem Ort an allen Orten wahrgenommen wird. So sehr die modernen Medien eine derartige weltweite Wahrnehmung möglich machen, so sehr bewirkt die Globalisierung doch in einer ungleich größeren Deutlichkeit das Gegenteil. Die Gewaltanwendung an einem Ort kann – unter Umständen unkalkulierbare – Auswirkungen an anderen Orten haben.

Bis 1989 haben wir uns in Europa vor allem vor einem Gewaltpotential gefürchtet, dass durch den Antagonismus zwischen zwei Weltmächten und ihren jeweiligen Satelliten- oder Bündnissystemen entstand. Dieser Antagonismus kam ohne Gewaltausbruch zu einem Ende. Dieses geschichtliche Wunder ließ viele auf eine „Friedensdividende“ hoffen, auf eine Eindämmung der Gewalt, die dem Aufbau einer internationalen Rechtsordnung zur Bändigung der Gewalt und der Nutzung frei werdender Mittel zu nachhaltiger Entwicklung und der Überwindung internationaler Ungerechtigkeit zu Gute kommen könne.

Weder das Eine noch das Andere ist eingetreten. Die von den Vereinten Nationen ausgerufenen Milleniums-Entwicklungsziele, zu denen vor allem eine Halbierung der weltweiten Armut bis zum Jahr 2015 gehört, haben den Schub nachhaltiger Entwicklung noch keineswegs ausgelöst, der von vielen erhofft wurde. Und an die Stelle des einen großen Ost-West-Konflikts sind viele kriegerische Auseinandersetzungen getreten, deren Akteure zu einem erheblichen Umfang nichtstaatlichen Charakter tragen. Daran, dass auch die Gewaltanwendung durch nichtstaatliche Akteure Krieg sein kann, musste sich die Weltöffentlichkeit dabei erst gewöhnen.

Auf diesem Weg ist terroristische Gewalt zu einem allgegenwärtigen Phänomen unserer Welt geworden. Im internationalen Bewusstsein haben die Furcht vor dem Terrorismus und der ihretwegen ausgerufene Kampf gegen den Terrorismus ein klares Bezugsdatum: den 11. September 2001, den gewaltsamen Angriff auf das World Trade Center in New York, auf das Pentagon in Washington und schließlich – Ziel der seinerzeit in Pennsylvania abgestürzten Maschine – das Kapitol in Washington.

Das Zentrum des weltweit agierenden Kapitalismus, die Militärmacht der USA und schließlich die politische Macht des Westens sollten mit diesem dreifachen Angriff getroffen werden. Er galt den Zentren des heutigen „Heidentums“. Dass dieser Angriff religiös motiviert war, zeigt beispielhaft eine „geistliche Anleitung“, die den Akteuren mit auf den Weg gegeben wurde.  Die in Teilen des Koran angelegte Gewalt gegen die Ungläubigen wird zum beherrschenden Motiv einer terroristischen Handlung, die religiös als Martyrium verklärt wird.

Der 11. September 2001 hat im Blick auf das Verhältnis von Religion und Gewalt paradigmatische Bedeutung angenommen. Das Bekenntnis zur Friedensbedeutung der Religionen, das in der interreligiösen Gedenkfeier für die Opfer des 11. September wenige Tage später im Yankee Stadium in New York vielstimmig ausgesprochen wurde, verblasste zunächst hinter dem übermächtigen Eindruck, dass sich die Wiederkehr der Religion mit dem Auftreten terroristischer Gewalt als der größten Friedensbedrohung unserer Zeit verbindet. Mit dem Datum des 11. September 2001 verbindet sich deshalb bis zum heutigen Tag der Eindruck, dass religiöse Gewaltbereitschaft in unserer Gegenwart ein bestimmendes Merkmal von Religion überhaupt ist.

Dem 11. September 2001 wurden weitere Beispiele dafür zur Seite gestellt, dass „Gewalt als Gottesdienst“ verstanden wird. Die Konflikte mit alternativen Religionsgemeinschaften in den USA seit den siebziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts, die islamische Revolution seit 1977, der Krieg im Libanon, Israels Erlösungskriege, das Eifern für das Land Palästina, der amerikanische Krieg gegen den Terror bilden die Beispiele, die der Religionswissenschaftler Hans G. Kippenberg dem 11. September 2001 zur Seite stellt.  Andere Beispiele ließen sich ergänzen, insbesondere Beispiele dafür, wie politische, wirtschaftliche oder soziale Motive sich mit ethnischen und religiösen Gegensätzen in gefährlicher Weise verknüpfen. Viele afrikanische Regionen sind Beispiele für dieses gefährliche Gemisch.

Solche Beispiele in einiger Breite wahrzunehmen, bewahrt vor dem Fehlschluss, die Verknüpfung zwischen Religion und Gewalt begegne heute ausschließlich oder auch vorwiegend nur in einer Religion. Doch richtig ist auch: Der 11. September 2001, aber auch muslimische Selbstmordattentate im Rahmen des Konflikts zwischen Israel und den Palästinensern lenken die Aufmerksamkeit insbesondere auf die Erneuerung der Lehre vom Jihad im Islam. Verbreitet ist heute eine Auffassung, die den „heiligen Krieg“ gegen die eigene Seele, gegen den Satan und gegen die Ungläubigen und Heuchler als zusammengehörig betrachtet. In diesem Rahmen spielt der Übergang von der Tolerierung der Ungläubigen zur Gewalt gegen sie eine entscheidende Rolle. Der Schwertvers des Koran wird in diesem Zusammenhang zur Handlungsanleitung: „Wenn die heiligen Monate abgelaufen sind, dann tötet die Polytheisten, wo immer ihr sie findet, greift sie, belagert sie und lauert ihnen auf jedem Weg auf. Wenn sie umkehren, das Gebet verrichten und die Abgabe entrichten, dann lass sie ihres Weges ziehen: Gott ist voller Vergebung und barmherzig“.

Dieser Schwertvers dokumentiert, wie die Islamwissenschaft gezeigt hat, die veränderte Haltung des Propheten Mohammed zu den Ungläubigen beim Übergang von Mekka nach Medina.  Man hält es für möglich, dass dieser Vers anders lautende frühere Offenbarungen ersetzt hat. Denn während hier die Gewalt gegen die Ungläubigen zur Norm erklärt wird, hatte Mohammed selbst in den Jahren in Mekka noch friedlich mit den Ungläubigen verkehrt. Die innere Spannung, die der Koran gerade bei diesem Thema erkennen lässt, hat immer wieder zu gegensätzlichen Interpretationen Anlass geboten. Aber kein Zweifel: Die Phänomene neuer religiöser Gewalt, die im Wirkungsbereich des Islam seit den siebziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts beobachten lassen, stützen sich auf den gegen die Heiden und Ungläubigen gerichteten Aspekt des Jihad.

Doch das bedeutet nicht, dass diese neue Verbindung von Religion und Gewalt nur im Islam zu beobachten wäre. Es gibt sie vielmehr auch im Christentum. Ich beschränke mich auf ein neueres Beispiel dafür. Als die USA sich auf den Irak-Krieg von 2003 vorbereiteten, hatte ich einen Briefwechsel mit dem baptistischen Theologen Dr. Richard Land, der diesen Krieg verteidigte, und zwar nicht nur mit politischen, sondern auch mit religiösen Gründen. Unter anderem schrieb er mir in einem Austausch von emails, den wir damals veröffentlichten:

„Zunächst: das Ziel der Bibel ist nicht Frieden – es ist Gerechtigkeit. Jesu Ziel ist nicht Friede, es ist Gerechtigkeit. Daher geht es nicht um einen Frieden um jeden Preis, sondern um Gerechtigkeit. Sich um Saddam Hussein zu kümmern, führt zu Gerechtigkeit. Krieg ist immer eine schreckliche Angelegenheit, aber ... es ist häufig nicht einmal die schrecklichste. ... Wir müssen das Ganze der biblischen Offenbarung zum Gebrauch von Gewalt zur Kenntnis nehmen. ... (Als Einzelne haben wir) nicht das Recht, Gewalt bis zum Tod anzuwenden. Wenn Du meine Frau umbringst, habe ich nicht das Recht, Dich zu töten. Aber ich habe ein Recht, nach Römer 13 zu erwarten, dass die Obrigkeit Gerechtigkeit übt. ... Ich habe das Recht, von der Obrigkeit zu erwarten, dass sie dich dafür tötet, dass du meine Frau getötet hast. Ich glaube, dass die Todesstrafe dafür angemessen wäre. ... Krieg ist manchmal eben nur das geringere Übel.“

Richard Land hat mir damals nicht widersprochen, als ich ihm vorhielt, er konstruiere zunächst eine theologische Legitimation der Todesstrafe und übertrage diese dann auf die internationalen Beziehungen; der Krieg gegen den Irak erscheine dann wie der Vollzug der Todesstrafe gegenüber Saddam Hussein, selbst auf die Gefahr hin, dass viele andere Iraker eher ihr Leben lassen mussten als der gut geschützte Diktator selbst. Dass die USA die Funktion des Richters über den Diktator in Anspruch nehmen und die Todesstrafe ihm gegenüber vollziehen könnten, war in dieser Argumentation als selbstverständlich vorausgesetzt.

Nun kann man schon diesen Beispielen entgegenhalten, Gewalt sei nicht gleich Gewalt. Die religiöse Rechtfertigung terroristischer Gewalt ist anders zu beurteilen als die religiöse Interpretation von Gewaltanwendung im Rahmen eines staatlichen Gewaltmonopols. Beunruhigend bleiben bellizistische Töne gleichwohl, unabhängig davon, in welcher Religion sie auftreten. Und die Anwendung der religiösen Legitimation der Todesstrafe auf die internationalen Beziehungen führt, wie wir gesehen haben, mit einer gewissen Zwangsläufigkeit zum Bellizismus, der bei internationalen Konflikten im Zweifelsfall dem Krieg den Vorrang vor anderen Lösungswegen zuerkennt.

Die Verknüpfung zwischen Religion und Gewalt begegnet heute in verschiedenen Religionen. Dadurch wird eine öffentliche Diskussion verstärkt, die zu Differenzierungen nur ungern bereit ist. Vielmehr ergibt sich als Resultat aus solchen im Einzelnen durchaus komplexen Vorgängen in der öffentlichen Wahrnehmung zumeist ein einfaches Bild: Die Legitimation von Gewalt aus religiösen Gründen wird weithin als ein Wesensmerkmal von Religion überhaupt verstanden. Die Verbindung zwischen Religion und Politik wird im Wesentlichen darin gesehen, dass Religion die Gewaltbereitschaft steigert und die politische Anwendung von Gewalt im Innern wie nach Außen rechtfertigt. In unseren Tagen ist Religionskritik im Wesentlichen zu einer Kritik der Verknüpfung von Religion und Gewalt geworden.

Wenn man sich einer kritischen Überprüfung dieser These zuwendet, stößt man auf unterschiedliche Interpretationsmuster. Notwendiger Zusammenhang von Religion und Gewalt, prinzipielle Gewaltkritik und kontingente Verknüpfung: das sind die drei maßgeblichen Interpretationsmuster, in denen das Verhältnis von Religion und Gewalt gedeutet wird. Ihnen wenden wir uns nun zu.

II.

Religion führt zur Gewalt. Diese neuerdings verbreitete Behauptung wird derzeit vor allem in einer Variante diskutiert, die der Ägyptologe Jan Assmann auf eine griffige Monotheismusthese gebracht hat.  Sie sagt, kurz und pointiert zusammengefasst: Die biblische Verknüpfung des Mose mit Ägypten hat ihren Grund in der Erinnerung an eine Reform des Pharao Echnaton, der die ägyptischen Gottheiten durch den einen Sonnengott Re ersetzen wollte. Diese in Ägypten selbst erfolglose Reform übernahm Mose und etablierte für das Volk Israel einen exklusiven Monotheismus, der allen anderen Göttern das Existenzrecht bestritt. Von diesem exklusiven Monotheismus unterscheidet Assmann eine andere Art des Eingottglaubens, in dem eine kosmische Ordnung allen Gottheiten Raum bietet; diese religiöse Haltung bezeichnet Assmann als Kosmotheismus. Die sogenannten monotheistischen Religionen – Judentum, Christentum und Islam – sind in sich tendenziell gewalttätig, der Kosmotheismus dagegen ist in sich tendenziell friedfertig. Die tendenzielle Gewalttätigkeit des Monotheismus beschreibt nicht die Formen seiner tatsächlichen Durchsetzung, sondern bildet ein „semantisches Paradigma“, das darüber Auskunft gibt, wie diese Durchsetzung erinnert worden ist. Im Judentum selbst beispielsweise wurde eine gewaltsame Ausgrenzung eher gegen Glaubensgenossen vollzogen als gegen die Angehörigen anderer Religionen.

Assmann sichert seine These auf diese Weise gegen manche Einwände ab. Aber in seiner These liegt zugleich die Tendenz zu einer Entgrenzung; der Monotheismus als exklusiv und gewaltfördernd wird dem Kosmotheismus als inklusiv und gewaltvermeidend prinzipiell entgegengesetzt. Empirische Einwände hiergegen liegen nur allzu nahe.  Die großen Gewaltausbrüche des vergangenen Jahrhunderts beispielsweise lassen sich nicht gerade auf eine Verbindung von Monotheismus und Gewalt zurückführen. Am wenigsten gilt das von der mörderischen Gewalt, die nach 1933 von Deutschland ausging. Denn die nationalsozialistische Ideologie machte unverhohlene Anleihen beim germanischen Polytheismus. Die Ideologie von Blut und Boden und vom Volksnomos setzte die Anerkennung des einen Gottes überdeutlich außer Kraft.

Konzeptionell kommt indessen hinzu, dass die These von einem Monotheismus, der Judentum, Christentum und Islam gemeinsam sei, in sich selbst brüchig ist. Im Judentum entwickelt sich das Bekenntnis zu dem einen Gott in allmählichen Schritten; im Christentum entfaltet es sich in dem Glauben an den einen Gott in drei Personen; im Islam wird genau diese christliche Auffassung als Polytheismus betrachtet und, beispielsweise in dem schon zitierten „Schwertwort“, scharf verurteilt.  Nach einer im 17. Jahrhundert beginnenden Vorgeschichte setzt sich das Wort „Monotheismus“ als Oberbegriff für diese drei Glaubensweisen erst seit dem 19. Jahrhundert durch.  In jener Zeit entsteht in Erinnerung an die Konfessionskriege des 17. Und 18. Jahrhunderts die These, der Eingottglaube habe notwendigerweise eine intolerante und gewaltbereite Haltung gegenüber Andersgläubigen zur Folge. In der Folge werden monotheistische Glaubensweise und Absolutheitsanspruch miteinander verknüpft; der philosophische Protest hiergegen wird im 19. Jahrhundert in exemplarischer Weise von Schopenhauer und Nietzsche vorgebracht.

Dass der Monotheismus eine bestimmte politische Theologie aus sich heraussetzt, wird seitdem immer wieder behauptet. Insbesondere ist in diesem Zusammenhang an Carl Schmitts zu Beginn der dreißiger Jahre des 20. Jahrhunderts formulierte „Politische Theologie“ zu erinnern, die politische Begriffe auf eine vermeintlich „letzte, radikal systematische Struktur“ zurückführt. In ihr verweist die Vorstellung einer legitimen, auch personal identifizierten politischen Herrschaft auf die Herrschaft des einen Gottes zurück, während eine letztlich in Anarchie mündende Freiheitsordnung sich dagegen auf das „Ideal einer sich selbst bewusst werdenden Menschheit“ stützt.  Gegen diese These hat indessen bereits Erik Peterson eingewandt, dass der christliche Gottesbegriff mit einer solchen Vorstellung von „Monotheismus“ eindeutig unterbestimmt ist; die Konstruktion einer derartigen „Politischen Theologie“ kann sich deshalb auf das christliche Gottesverständnis, wie es schon im trinitarischen Dogma der frühen Christenheit entfaltet worden ist, gerade nicht berufen.  Oder einfacher gesagt: Der Monotheismus, von dem dabei die Rede ist, sieht von der Offenbarung Gottes in Jesus Christus, seinem gekreuzigten und auferweckten Sohn, gerade ab.

Solche Überlegungen mahnen zur Vorsicht gegenüber einer Vorstellung vom Monotheismus, wie Jan Assmann sie der Lektüre des biblischen Exodusbuchs entnimmt. Seine These besagt, die „Mosaische Unterscheidung“ habe der Vorstellung die Bahn geebnet, dass die falschen Religionen im Namen der wahren Religion vernichtet werden dürfen.

Eine solche Interpretation scheint dadurch gestützt zu werden, dass im Zuge der Mose-Erzählung massive Gewalttaten geschildert werden. So sammelt Mose die Leviten, die zum Herrn stehen, im Tor des Lagers um sich und fordert sie auf, diejenigen zu töten, die sich diesem Bekenntnis verweigern. „So fielen vom Volk an jenem Tag an die dreitausend Mann“.  Das ist ein grausames Geschehen – und ein „grauenhafter Text“.  Peter Sloterdijk hat über diese Stelle gesagt, in ihr höre man „erstmals die Parole jenes Eifers für das Eine und den Einen, dessentwegen die Geschichte des Monotheismus über weite Strecken (namentlich in ihren christlichen und islamischen Redaktionen) als ein Bericht heiliger Rücksichtslosigkeiten gelesen werden muss. Am Berg Sinai wird eine moralisch neue Qualität des Tötens erfunden: Es dient nicht mehr nur dem Überleben eines Stammes, sondern dem Triumph eines Prinzips.“  Freilich wird schon in der Rekapitulation desselben Geschehens im 5. Buch Mose die Behauptung einer solchen durch Mose befohlenen Gewalthandlung nicht wiederholt. Ähnliches stellt man fest, wenn man die Vorstellungen von einem „heiligen Krieg“ in den Texten des Alten Testaments verfolgt. In ihnen zeigt sich, wie der Alttestamentler Rainer Albertz schon vor Jahrzehnten feststellte, eine allmähliche Distanzierung Gottes vom Krieg.  Im Unterschied zur vorstaatlichen Zeit werden Israels Kriege in der Zeit seit dem Königtum Davids nicht mehr im Modell des Jahwe-Krieges, des Befreiungskampfs verstanden; jetzt werden sie vielmehr als machtpolitische Aktionen des Königs verstanden. Parallel dazu entwickelt sich die prophetische Vision eines Friedens, in dem die Gewalt keinen Ort mehr hat, sondern die Schwerter zu Pflugscharen und die Spieße zu Winzermessern umgeschmiedet werden.  Das sind deutliche Indizien dafür, dass die Aufforderung zur Gewaltanwendung keineswegs normativ mit dem Gottesglauben des alttestamentlichen Bundesvolkes verbunden werden kann.

Gegenläufige Tendenzen finden sich auch schon in der Mose-Erzählung selbst. Zu ihnen zählt beispielsweise das Bemühen des Mose, Gottes Zorn wegen der Verehrung des Goldenen Kalbes zu besänftigen und Gott um Gnade für das Volk zu bitten: „Warum sollen die Ägypter denken: In böser Absicht hat Gott sie hinausgeführt, um sie in den Bergen umzubringen und sie vom Erdboden zu vertilgen. Lass ab von deinem glühenden Zorn, und lass es dich reuen“.  Von der Vorstellung, es gehe in der Erzählung von der Befreiung Israels aus der Sklaverei in Ägypten darum, kraft der Mosaischen Unterscheidung ein Prinzip aufzurichten, dem in „heiliger Rücksichtslosigkeit“ alle geopfert werden, die sich diesem Prinzip nicht beugen, kann bei genauerer Betrachtung nicht die Rede sein – ganz abgesehen davon, dass die Behauptung eines solchen Prinzips in der Geschichte des jüdischen Volkes gerade keinen Anhalt findet. Schon das Alte Testament enthält mehr Zeugnisse für das Leiden Israels unter den benachbarten polytheistischen Großmächten als umgekehrt. Das setzte sich in der späteren Geschichte des jüdischen Volkes in einer grauenerregenden Weise fort.

Aber auch die Behauptung, Christentum und Islam seien in ihrer Geschichte durchgängig von diesem Prinzip bestimmt, hält einer Nachprüfung nicht stand. Davon, dass am Beginn des Christentums die Proklamation der Gewaltlosigkeit steht, wird gleich noch die Rede sein. Und im Islam gilt die vorhin schon charakterisierte Lehre vom Jihad keineswegs unumstritten. Sie drängt vielmehr jeweils unter konkreten historischen Umständen in den Vordergrund. Mit dem Rückgriff auf die „Mosaische Unterscheidung“ ist das Problem religiös legitimierter Gewalt nicht geklärt. Und Peter Sloterdijks Aufforderung zu einer „Renaissance im Zeichen Ägyptens“, um so das „Gift der Feinderklärung an alternative Kulte“ zu vertilgen, erscheint als allzu oberflächlich.  Und es ist auch nicht an dem, dass der Wahrheitsanspruch der Religion prinzipiell aufgegeben werden müsse, um die „religiöse Andersheit des Anderen“ anerkennen zu können.  Gewalt und Gewaltlosigkeit lassen sich nicht einfach auf zwei Arten von Religion – hier Monotheismus, dort Kosmotheismus, hier der „wahre Gott“, dort der „eigene Gott“ – aufteilen; sie begegnen vielmehr in ein und derselben Religion. Die Klärungsprozesse, zu denen dieses Thema nötigt, müssen nicht nur zwischen den Religionen, sie müssen in jeder einzelnen Religion stattfinden.

III.

Religion führt zum Gewaltverzicht. In allen Religionen ist ein Impuls dazu enthalten, Gewalt zu überwinden. Die prophetische Gewaltkritik des Alten Testaments, die Seligpreisung der Friedensstifter und der Sanftmütigen durch Jesus und die koranische Ablehnung des Zwangs im Namen der Religion – „es gibt keinen Zwang in der Religion“ (Sure 2: 256) – zeigen auf unterschiedliche Weise eine Distanz dieser drei Religionen zur Gewalt. Ähnliches lässt sich besonders deutlich am Buddhismus zeigen.

Aber was heißt: „Gewalt“? Das Wort ist zumindest in der deutschen Sprache schillernd. Während viele Sprachen begrifflich zwischen physischer Gewaltanwendung, legitimer institutioneller Gewalt und anderen Facetten des Gewaltbegriffes unterscheiden, zeichnet sich der Gewaltbegriff im Deutschen durch besondere Vagheit aus.

Deshalb muss man präzisierend vorwegschicken: Wenn in diesem Zusammenhang von der Distanz der Religionen zur Gewalt die Rede ist, dann geht es um die Distanz zu zerstörerischer, lebensbedrohlicher Gewalt. Es geht nicht um ihre Distanz zu politischer Ordnung als solcher.

Zerstörerische, lebensbedrohliche Gewalt trägt nicht nur personalen, sondern auch strukturellen Charakter. Bei der personalen Gewalt sind Opfer und Täter eindeutig identifizierbar und zuzuordnen. Strukturelle Gewalt produziert ebenfalls Opfer. Dafür sind aber nicht einzelne Personen, sondern spezifische organisatorische oder gesellschaftliche Strukturen und Lebensbedingungen verantwortlich. Nicht die unmittelbare physische Beeinträchtigung, sondern die Beeinträchtigung von Lebensmöglichkeiten ist entscheidend. Neuerdings findet das Phänomen kultureller Gewalt vermehrt Aufmerksamkeit. Mit diesem Begriff werden Ideologien, Überzeugungen, Überlieferungen und Legitimationssysteme beschrieben, mit deren Hilfe direkte oder strukturelle Gewalt ermöglicht beziehungsweise gerechtfertigt wird.

Solche Unterscheidungen, so hilfreich sie sind, bergen doch auch Risiken in sich. Zum einen zeigt sich in ihnen die Gefahr, alles und jedes als Gewalt zu bezeichnen. Zum andern vermitteln sie nur den Anschein von Eindeutigkeit, wo doch die Wirklichkeit durch Phänomene geprägt ist, in denen personelle, strukturelle und kulturelle Gewalt aufs engste miteinander verbunden sind. Man braucht sich nur der Gewaltphänomene zu erinnern, die uns heute besonders beschäftigen:  Gewalt in den Medien, Gewalt gegen Frauen und Kinder, Gewalt in der Pflege, Gewalt gegen die Schöpfung, etwa durch den von Menschen mit verursachten Klimawandel, Gewalt in den Städten, strukturelle Gewalt durch Arbeitslosigkeit und Armut, kriegerische Gewalt, Terrorakte.

Im Blick auf die Phänomene zerstörerischer, lebensbedrohlicher Gewalt in ihrer Breite gilt, dass den Religionen das Motiv der Gewaltkritik eingestiftet ist. Besonders pointiert gilt das für das Christentum. In der Verkündigung Jesu erhält die Gewaltkritik mit dem Gebot der Feindesliebe und der Seligpreisung derer, die ohne Gewalt für den Frieden eintreten, ein klares Profil erhalten. Vom Kreuzestod Jesu wird ausdrücklich gesagt, er sei „ein für allemal“ geschehen (Hebräer 10, 10). Eine Wiederholung dieses Opfers ist ausgeschlossen; oder anders gesagt: Der Opferzwang hat ein Ende.

Von hier aus profiliert sich das Christentum als Religion der Liebe, die im Verhältnis der Menschen zueinander auf das gerichtet ist, was dem Leben dient, und dem entgegentritt, was das Leben des andern beschädigt. Das Gebot der Nächstenliebe wird im Gebot der Feindesliebe zugespitzt.  Das ist das präzise Gegenteil eines exklusiven Monotheismus; leitend ist vielmehr ein Grundsatz der Inklusion, der seinen tiefsten Grund darin hat, dass Jesus Christus für alle Mensch geworden, für alle gestorben, für alle auferweckt ist. Dieser Zug zur Inklusion prägt aber bereits die Verkündigung Jesu. Er gewinnt praktische Gestalt in der von Jesus aufgenommenen Goldene Regel: „Alles nun, was ihr wollt, dass euch die Leute tun sollen, das tut ihnen auch“.  Sie begründet ein Ethos, das vom Gedanken der Reziprozität, der Gegenseitigkeit menschlichen Verhaltens geprägt ist. Gewalt zerstört diese Reziprozität; sie widerspricht dem Grundsatz wechselseitiger Achtung.

Freilich verband sich mit dieser Weichenstellung des christlichen Ethos von Anfang an die Frage, ob die Weisungen der Bergpredigt für die praktische Politik taugen oder ob derjenige, der der Gewalt wirksam wehren will, gegebenenfalls auch zum Einsatz von Gewalt bereit sein muss. So weit diese Frage durch die Entgegensetzung zwischen Gesinnungsethik und Verantwortungsethik geprägt ist, geht sie an der Intention der Verkündigung Jesu freilich gründlich vorbei. Am deutlichsten zeigt sich das in den Beispielen, in denen die Bergpredigt schildert, wie sich der Geist der Vergeltung überwinden lässt. Dass einer nach einem Schlag mit dem Handrücken auch die andere Backe hinhält, damit der Gegner die Auseinandersetzung wenigstens mit geöffneter Hand führt, dass einer, dem der Rock als Pfand abgenommen wird, auch noch den – in Wahrheit unpfändbaren, da zugleich als Decke gegen die Kühle der Nacht dienenden – Mantel drangibt, oder dass einer, der von römischen Besatzungssoldaten für eine Meile zu Spanndiensten herangezogen wird, noch eine zweite Meile mitgeht: all das sind höchst verantwortungsethisch konzipierte Schritte kalkulierter „Entfeindung“, mit denen die Phantasie intelligenter Feindesliebe angestachelt werden soll.  Will man behaupten, diese Anstöße prallten an der politischen Wirklichkeit wirkungslos ab, muss man sie zunächst einmal in ihrem überraschenden praktischen Sinn ernst nehmen.

Das Christentum hat durch die Verkündigung Jesu wie durch die zentrale Bedeutung seines Kreuzestodes gegenüber anderen Religionen in einer ungleich radikaleren Weise der Gewalt abgesagt. Dennoch vermochte es sich keineswegs von der Verführungskraft der Gewalt oder deren Unausweichlichkeit zu befreien. Dem Dilemma der Gewalt musste sich auch der christliche Glaube stellen; und so manches Mal ist er diesem Dilemma erlegen. Mit dem Übergang des Christentums in den Status einer Staatsreligion hat es nicht nur staatliche Gewaltanwendung legitimiert, sondern auch für die Durchsetzung eigener Ziele in Anspruch genommen. In paradoxer Weise hat sich darüber hinaus die christliche Liebesreligion immer wieder mit einer Strafmentalität verknüpft. Das geschah vor allem dort, wo der Sühnetod Christi als ein Gott stellvertretend dargebrachtes Opfer verstanden wurde. Der Glaube daran, dass Christus die dem Menschen zugedachte Strafe auf sich genommen hat, vermochte dann nicht zu verhindern, dass im Verhältnis der Menschen zueinander eine Mentalität der Strafe und mit ihr auch die religiöse Legitimation strafenden Gewalthandelns an Boden gewann.  Vom Christentum gilt wie von anderen Religionen auch, dass es eine „riskante Religion“ ist; es muss seine Grundmotive, unter ihnen ganz besonders das Liebesmotiv immer wieder aus den Selbstwidersprüchen befreien, in die es sich verstrickt.  Dabei handelt es sich um schmerzhafte, selbstkritische Lernprozesse. Aber das Bemühen ist nicht aussichtslos.

IV.

Religion und Gewalt sind kontingent miteinander verknüpft. In der Verbindung von Religion und Gewalt ist kein Automatismus am Werk. Es gibt keine unausweichliche Verbindung zwischen dem Monotheismus und der Legitimation von Gewalt. Die Rechtfertigung von Gewalt ergibt sich vielmehr jeweils aus konkreten historischen Umständen und deren Wahrnehmung. Auch die Verbindung zwischen Monotheismus und Gewalt ist dort, wo sie auftritt, kontingent; sie ist weder notwendig noch unmöglich.  Insofern wirken auch kontingente Faktoren daran mit, ob die Gewaltkritik der religiösen Überlieferungen sich im Verhalten der Gläubigen und im Agieren der Glaubensgemeinschaften durchsetzt oder nicht.

Der Monotheismus macht pazifistische Verhaltensweisen nicht unmöglich, aber er garantiert sie auch nicht. So weit dieser Pazifismus nicht gesinnungsethisch begründet ist, findet er immer wieder seine Grenze in der situationsbezogenen Antwort auf die Frage, ob der praktizierte Gewaltverzicht auch den Gewaltgebrauch von der anderen Seite zu überwinden vermag – oder ob er ihm gerade freie Bahn gewährt. Wird aber umgekehrt – in Theorien des gerechten Krieges wie in Theorien des gerechten Friedens – der Einsatz von Gewalt um der Beendigung der Gewalt willen eingeräumt oder wird eine Konzeption der rechtserhaltenden Gewalt entwickelt,  so stellt sich die gegenläufige Frage, ob dieser Gewaltgebrauch im Ergebnis eigentlich die Gewalt bändigt oder gerade steigert.

Die hiermit beschriebene in der Sache liegende Ambivalenz erklärt, warum die Religionen auch ihrerseits zur Gewalt ein ambivalentes Verhältnis haben. Für das Christentum freilich gilt in diesem Zusammenhang: Seinem Ursprungsimpuls bleibt es nur treu, wenn es auch in ambivalenten Situationen den Vorrang der Gewaltfreiheit vor der Gewalt festhält und deshalb selbst dort, wo situationsbezogen ein Einsatz von Gewalt als unvermeidlich erscheint, jeder religiösen Legitimation von Gewalt eine Absage erteilt. Vor diesem Kriterium haben die Kirchen freilich in ihrer Geschichte allzu oft versagt.

Auch die biblische, insbesondere die neutestamentliche Gewaltkritik bewahrt nicht davor, in den Sog von Gewalt und Gegengewalt hineingezogen werden. Das hat seinen entscheidenden Grund darin, dass Religionen es mit der Wirklichkeit im Ganzen zu tun haben. Dass diese Wirklichkeit gewaltförmige Züge trägt und dass der Mensch zur Gewalt verführbar ist, können sie nicht leugnen.  Zur Eigentümlichkeit der Religionen gehört, dass sie die Wirklichkeit im Ganzen verstehen wollen, indem sie zu transzendierenden, also die Grenzen des Wirklichen überschreitenden Perspektiven vorstoßen. Zur Wirklichkeit im Ganzen gehört aber nicht nur das Leben mit seinem Anfang und seinem Ende, das individuelle Geschick mit seinem Glück und seinem Leid, die menschliche Freiheit mit ihrem Gelingen wie mit ihrem schicksalhaften oder schuldhaften Misslingen, sondern auch die menschliche Gemeinschaft in ihrer Spannung zwischen Liebe und Hass, zwischen Streit und Versöhnung, zwischen Gewalt und Frieden.

Der französische Kulturtheoretiker René Girard ist über das bisher Beschriebene hinausgegangen.  Er hat die Bearbeitung, Bändigung und Überwindung der Gewalt geradezu zur wichtigsten sozialen Funktion der Religion erklärt. Die Religion kanalisiert die Gewalt und bannt sie dadurch. Dem dienen in den alten Religionen Opferriten. Deren Selbstwiderspruch besteht freilich darin, dass sie Gewalt einerseits begrenzen, andererseits legitimieren. Diese Kritik wendet Girard auch auf das Christentum an, weil in ihm die Idee vom gewaltsamen Opfertod einen so zentralen Platz einnimmt. Doch dieser Opfertod enthält zugleich die denkbar radikalste Gewaltkritik in sich.

Genau deshalb kann man am Christentum exemplarisch sehen, wie eine Religion die Kraft zu entwickeln vermag, die Gewaltpotentiale im menschlichen Leben nicht zu leugnen, sondern zu thematisieren, auf sie zuzugehen, sie aber nicht zu legitimieren, die menschliche Neigung zur Gewalt nicht zu ignorieren, aber jeder Verherrlichung der Gewalt entgegenzutreten, von der Gewalt nicht illusionär abzulenken, ihr aber nicht das Feld zu überlassen.

V.

Was es bedeutet, kompromisslos den Vorrang der Gewaltfreiheit vor allen Mitteln der Gewalt anzuerkennen und die Gewalt zu bannen, ohne ihre Macht zu verkennen, muss zu jeder Zeit neu erstritten und erprobt werden. In unserer Zeit muss dies nicht nur innerhalb jeder Religion, sondern auch zwischen ihnen geklärt werden. Gerade an diesem Beispiel tritt uns die Aufgabe interreligiöser Verständigung in ihren gewaltigen Ausmaßen vor Augen. Die Versuchung, vor dieser Aufgabe zu verzagen, ist groß. Doch es gibt zu ihr keine Alternative.

Doch hier ist weder der Ort, die praktisch-politischen Konsequenzen aus der geschilderten Haltung zur Gewaltthematik zu erörtern noch die heute anstehenden Aufgaben des interreligiösen Dialogs zu beschreiben. Meine abschließenden Überlegungen sollen vielmehr der Frage gewidmet sein, was die beschriebene Haltung zum Problem der Gewalt für das Verhältnis von Religion und Politik bedeutet. Denn ebenso schwierig wie eine Verständigung zwischen den Religionen über ihre Haltung zur Gewalt ist eine einvernehmliche Antwort auf die Frage nach dem Verhältnis von Religion und Politik. Beide Fragen sind aber von drängender Bedeutung. Und beide hängen unlöslich miteinander zusammen.

Die Suche nach Orientierung wird umso wichtiger, weil die religiösen Erneuerungsbewegungen unserer Zeit die etablierten Verhältnisbestimmungen von Religion und Politik radikal in Frage stellen. Der Pariser Soziologe Olivier Roy hat diese Erneuerungsbewegungen in besonders pointierter Weise zum Thema gemacht; vor allem ihre fundamentalistischen, in Gewaltsamkeit mündenden Formen stellen eine wachsende politische Herausforderung dar.  Roy hält den Fundamentalismus, der sich in diesen Erneuerungsbewegungen ausprägt, für eine sehr moderne Form von Religiosität – übrigens im Christentum wie im Islam. Er formuliert: „Der Fundamentalismus ist ... nicht das Aufbegehren bedrohter traditioneller Kulturen, sondern Ausdruck ihres Verschwindens. Deshalb darf man die modernen Formen des Fundamentalismus nicht mit einem Kampf der Kulturen verwechseln. Junge Menschen werden nicht fundamentalistisch, weil die westliche Zivilisation die Kultur ihrer Eltern ignorieren würde, sondern weil diese Kultur, die sie selbst übrigens eher gering schätzen, ihnen verloren gegangen ist.“

In unserem Zusammenhang kommt es nur auf Roys Hauptthese an, dass die Globalisierung selbst das grundsätzliche Problem darstellt, das sich im Verhältnis von Religion und Politik in der Gestalt zunehmender Gewaltsamkeit äußert. Wache Aufmerksamkeit verdient seine Überlegung darin, dass in den von ihm betrachteten Fällen geradezu die Auflösung von Kultur zum Entstehen eines religiösen Fundamentalismus führt. Auf die Frage nach dem Verhältnis von Religion und Kultur wirft diese Beobachtung ein höchst bemerkenswertes Licht.

Die Gewalt ist globalisiert. Das gilt nicht nur für die Wahrnehmung von Gewalt durch die alltäglichen Bilder in den Medien. Es gilt auch für die Akteure von Gewalt. Das sieht man, wenn man die Ströme des internationalen Waffenhandels in den Blick nimmt. Man erkennt es auch an der Herkunft der islamistischen Terroristen, die in New York, Madrid oder anderswo ihre schrecklichen Taten verüben oder die in Hamburg oder im Sauerland solche Taten planen. Gewalt lässt sich durch nationale Grenzen nicht stoppen.

Wer nach dem Verhältnis von Religion, Politik und Gewalt fragt, kann den Schattenseiten der Globalisierung nicht ausweichen: der Erosion von Kultur, der Fundamentalisierung von Religion, der Ökonomisierung der Politik, der Ubiquität von Gewalt.

Notwendig ist es deshalb, sich den eigenen kulturellen und religiösen Wurzeln zuzuwenden; ebenso nötig ist es, die politische Bändigung wirtschaftlicher Macht und die Unterwerfung der Gewalt unter die Herrschaft des Rechts zu erneuern. Nötig ist es vor allem, an der Unterscheidung zwischen Religion und Politik festzuhalten, die zu den maßgebenden Beiträgen des Christentums zur Zivilisierung unserer Welt gehört. Zu Recht hat der Historiker Heinrich August Winkler die Frage nach der Wertordnung des Westens mit dem schlichten Jesuswort beantwortet: „Gebt dem Kaiser, was des Kaisers ist, und Gott, was Gottes ist.“  Der Vorrang Gottes wird mit diesem Wort Jesu nicht in Frage gestellt, sondern bekräftigt; in ihm ist dennoch eine Absage an Theokratie und Priesterherrschaft enthalten, mit der sich auch die Vorstellung eines Scharia-Staats nicht verträgt. Aus dieser Perspektive bilden der säkulare Staat und die säkulare Rechtsordnung eine Errungenschaft, die gerade aus der Perspektive des christlichen Glaubens ebenso zu begrüßen wie zu verteidigen ist. Nicht Beziehungslosigkeit von Religion und Politik ist damit gemeint, sondern eine Unterscheidung der Bereiche, von der aus das Verhältnis zwischen Religion und Politik überhaupt erst zu bestimmen ist.

Zur Bändigung der Gewalt, auch der religiös motivierten und legitimierten hat Europa auf dem Hintergrund dieser Tradition seinen eigenen Beitrag zu leisten. Zur europäischen Identität gehört, wie Jürgen Habermas einmal formuliert hat, die „Friedensorientierung aufgrund geschichtlicher Verlusterfahrung“.  Aus diesem Grund lässt sich Europa als ein „Friedensprojekt“ (Dieter Senghaas)  bezeichnen. Doch dieses europäische Selbstverständnis bietet keinerlei Anlass zu Selbstgerechtigkeit oder Überlegenheitsgefühlen.

Denn die von Habermas gebrauchte Formel macht deutlich, dass die Friedensorientierung Europas keineswegs schon immer da gewesen ist. Die irenische Identität Europas ergibt sich nicht von selbst, sondern entspringt einer geschichtlichen Verlusterfahrung. Sie beruht somit auf einschneidenden Ereignissen, die die Geschichte dieses Kontinents geprägt haben. Es geht um traurige und tragische Ereignisse, um Friedlosigkeit und Gewalt. Bedrückend bleibt, dass historische Rückblicke das Christentum als eine religiöse Bewegung zeigen, die keineswegs immer für Friedfertigkeit und Gewaltlosigkeit stand.

Ebenso zutreffend aber ist die Aussage, dass dem Christentum, aber ebenso auch allen anderen großen Religionen ein beachtliches Friedenspotenzial innewohnt. In ihnen ist eine große Sehnsucht nach dem Frieden  aufbewahrt; sie verfügen über die Möglichkeit und die Fähigkeit dazu, Gewalt einzudämmen und Frieden zu stiften.

Miteinander können die Religionen etwas für den Frieden tun, was jede einzelne von ihnen nur sehr viel schlechter könnte. Sie können Beispiele gelebter Toleranz bieten. Sie können zeigen, wie Menschen unterschiedlicher Überzeugungen und Lebensformen in wechselseitiger Achtung miteinander leben können. Sie können sich von der Achtung für die Integrität des andern und der Bereitschaft, konkurrierende Wahrheitsansprüche achtungsvoll auszutragen, leiten lassen. Sie können gemeinsam religiösen Haltungen entgegen treten, in denen die Durchsetzung von Wahrheitsansprüchen mit Gewalt für möglich gehalten wird.

Fundamentalistische Gestalten von Religion, wie wir sie gegenwärtig beobachten, gefährden den Friedensbeitrag der Religionen; zugleich erschweren sie für viele Zeitgenossen den Zugang zur Wahrheit der Religion. So deutlich man solchem Fundamentalismus entgegentreten muss, so klar muss man auch erkennen, dass religiöser Analphabetismus keine zureichende Antwort auf Fundamentalismus ist. Zureichend ist vielmehr allein eine Antwort, die eine geklärte religiöse Identität mit der Bereitschaft zu Frieden und Toleranz im Verhältnis der Religionen zueinander verbindet.

Statt der Einschätzung Vorschub zu leisten, dass Religion und Gewalt unlöslich miteinander verknüpft sind, können die Religionen sich als Friedensstifter bewähren. Eine kürzlich veröffentlichte Studie nimmt deshalb ausdrücklich „Religionsbasierte Akteure der zivilen Konfliktbearbeitung“ in den Blick.  Religionsbasierte Akteure, seien es Einzelpersonen, Bewegungen oder Organisationen – so stellt diese Studie fest – haben in den letzten Jahrzehnten bedeutsame Funktionen in der Deeskalation von Konflikten wahrgenommen. Zu den herausragenden Beispielen gehören die Vermittlung eines Friedensabkommens im mosambikanischen Bürgerkrieg durch die katholische Gemeinschaft Sant’Egidio (1992), der kollektive Widerstand der ruandischen Muslime gegen den Völkermord von Hutus und Tutsis (1994) oder die Bedeutung der Kirchen, insbesondere der evangelischen Kirche für die „friedliche Revolution“ in der ehemaligen DDR (1989). Gerade angesichts des letzten Beispiels sollte es nicht schwer fallen, der Schlussfolgerung zuzustimmen, dass den Religionen in politischen Konflikten ein bemerkenswertes Friedenspotenzial eignet. Der Historiker Michael Borgolte konstatiert deshalb: „Religiöse Gegensätze“ führen „keineswegs unweigerlich zu Auseinandersetzungen, ja mörderischen Vernichtungskämpfen. Auf der ertragenen Differenz mit den anderen hat Europas Überleben, vor allem aber seine Kultur, bis heute beruht.“ Dass dies auch in Zukunft gilt und dass es nicht auf Europa beschränkt bleibt, ist die Hoffnung, von der jede Beschäftigung mit dem Thema „Religion, Politik und Gewalt“ sich leiten lässt.