„Du stellst unsere Füße auf weiten Raum“ - Positionen und Perspektiven einer Kirche im Aufbruch. Rede zur Eröffnung der Zukunftswerkstatt der EKD

Wolfgang Huber

Das Vertrauen auf Gott hat in dieser Zukunftswerkstatt das erste Wort, es bestimmt den Raum, den wir in diesen Tagen betreten wollen. Mit einem Gottesdienst haben wir begonnen und unser Vertrauen bekräftigt. Nach Gewissheiten fragen wir, mit denen wir am Ende wieder auseinandergehen. Diese Gewissheiten gründen nicht im Vertrauen auf uns selbst. Halt suchen wir allein bei Gott. Er stellt unsere Füße auf weiten Raum.

Der weite Raum der Reform

Die Sprache dafür leihen wir uns im Gebetbuch der Bibel. Der alttestamentliche Beter ruft zu Gott: »Du stellst meine Füße auf weiten Raum.« Die äußeren Umstände sprechen eher gegen ein solches Bekenntnis. Dass andere ihn in einen Hinterhalt locken, gehört zu den Risiken seines Alltags. Dass sie ihm feindlich auflauern, ist eine aktuelle Gefahr zu seiner Zeit, die vom staatlichen Gewaltmonopol noch wenig weiß. Auch sein Bekenntnis zu Gott bringt ihn in gefährliche Situationen; denn umgeben ist er von Menschen, die sich an »nichtige Götzen« halten. Aus solcher Enge heraus bekennt er: »Ich aber hoffe auf den Herrn. Ich freue mich und bin fröhlich über deine Güte, dass du mein Elend ansiehst und nimmst dich meiner an in Not und übergibst mich nicht in die Hände des Feindes; du stellst meine Füße auf weiten Raum« (Psalm 31, 7-9).

Delegationen des Rates der Evangelischen Kirche in Deutschland haben in den letzten Monaten Christen aufgesucht, die in bedrängter Situation leben, die aus eigenem Erleiden wissen, was es heißt, von Menschen umgeben zu sein, die »nichtige Götzen« verehren.

Wir haben vor wenigen Tagen Nordkorea besucht, wo der christliche Glaube an den Rand gedrängt ist. Er verträgt sich nicht mit einer Diktatur, die für Opposition keinerlei Raum lässt. Wer wollte dies zwanzig Jahre nach der friedlichen Revolution im Osten Deutschlands und in Osteuropa bestreiten! Wir haben vor einigen Monaten die christlichen Minderheiten in der Türkei besucht, denen die eigenständige Ausbildung ihres Priesternachwuchses verweigert wird, weil schon das die Grenzen überschreiten würde, die ein angeblich laizistischer Staat der Religionsfreiheit zieht.

Andere Situationen der Bedrängnis stehen uns vor Augen. Im Nordjemen wurden eine Koreanerin und zwei Frauen aus Deutschland entführt und ermordet; eine fünfköpfige Familie aus Deutschland und ein englischer Entwicklungshelfer befinden sich dort seit vielen Wochen in der Hand von Entführern. Viele Christen leiden in unserer Welt darunter, dass das elementare Menschenrecht auf Religionsfreiheit missachtet wird. In der Folge kommt es zu Entführung und Mord, zu Verbrechen, die es schwer machen zu bekennen: »Du stellst meine Füße auf weiten Raum.«

Wie viel leichter können wir so sprechen! Dankbar schauen wir auch in diesem Jahr auf den Reichtum der Traditionen, in die wir hineingestellt sind. Wir erinnern uns an Johannes Calvin, dessen Geburtstag sich zum fünfhundertsten Mal jährte, und an die vor 75 Jahren verabschiedete Theologische Erklärung von Barmen; daran verdeutlichen wir uns den Zusammenhang von Reformation und Bekenntnis. An den Beispielen von Händel, Haydn und Mendelssohn-Bartholdy vergegenwärtigen wir uns in diesem musikalischen Jubiläumsjahr den großen Beitrag der Musik zu unserer Kultur und sind dankbar dafür, dass sie gerade im Traditionsstrom der Reformation zu einer unverzichtbaren Ausdrucksform für unseren Glauben geworden ist. Wir begehen das sechzigjährige Jubiläum unseres Grundgesetzes und feiern die friedliche Revolution vor zwanzig Jahren, die den Durchbruch dazu brachte, dass die Unantastbarkeit der Menschenwürde in unserem ganzen Land gilt. Wir können im Ton dankbaren Staunens in das Bekenntnis des Psalmisten einstimmen: »Du stellst unsere Füße auf weiten Raum.«

Unsere Sorgen tragen – weiß Gott! – einen anderen Charakter als das, was ich an den Beispielen zwischen Nordkorea und Nordjemen beschrieben habe. Unsere Kirche kann das Wort des Evangeliums in voller Freiheit ausrichten und sich den Menschen in vielfältigen Formen von Gottesdienst und Seelsorge, von Bildung und Erziehung, von Diakonie und kulturellem Wirken zuwenden. Dankbar sind wir für das vielfältige ehrenamtliche Engagement wie für den großen Einsatz in kirchlichen und diakonischen Berufen; dadurch gewinnt unsere Kirche Resonanz und Ausstrahlung. Mit Freude blicken wir auf die vielen Aufbrüche in Gemeinden, kirchlichen Regionen und Landeskirchen, derentwegen es nicht zu kühn ist, von einer »Kirche im Aufbruch« zu sprechen. Wir besinnen uns auf unsere reformatorischen Wurzeln und wissen uns in der Pflicht, als evangelische Kirche der »Freiheit eines Christenmenschen« zu dienen. Zugleich ist uns bewusst, dass das Zeugnis der christlichen Kirchen im 21. Jahrhundert noch deutlicher als im vergangenen Jahrhundert ökumenischen Charakter tragen muss – einen ökumenischen Charakter freilich, der sich nicht an unterschiedsloser Uniformität, sondern an der uns in aller Verschiedenheit geschenkten Einheit ausrichtet.

Manchmal kommt es mir so vor, als würden wir allzu schnell über das hinweggehen, was uns geschenkt und anvertraut ist, und gar nicht darauf hören, dass das Danken bei uns nun wirklich eine größere Kraft haben kann als das Jammern. Dass das, was uns geschenkt ist, wirklich intensiver zur Sprache kommen kann als die Sorgen, die wir uns machen. Und ich bin fest davon überzeugt: Den wichtigsten Schritt haben wir getan, wenn wir – dem Wochenspruch dieser Woche folgend – das Sorgen hinter uns lassen, dankbar auf das schauen, was uns anvertraut ist, und uns fragen, wie wir es weitergeben können.

Gewiss, die Sorgen, die uns beschäftigen, lassen sich nicht wegwischen. Wir sind durch eine Phase des Traditionsabbruchs gegangen, der sich auf die Vertrautheit mit dem christlichen Glauben und die Bindung an unsere Kirche negativ auswirkt. Wir haben den dramatischen Rückgang der Kirchenmitgliedschaft in der DDR bisher ebenso wenig ausgleichen können wie die schleichende Erosion der Kirchlichkeit in vielen Bereichen der alten Bundesrepublik. Die Einsicht, dass in all dem eine große missionarische Herausforderung liegt, nehmen wir eher zögernd auf; dass mehr als tausend Jahre nach der Christianisierung unserer Region eine missionarische Situation entstanden ist, stößt sich mit dem Beharren in gewohnter Kirchlichkeit. Noch immer hat die einfache Frage: »Wie werde ich Christ?« es bei uns schwer; wir richten uns allzu oft nur an Menschen, die das ohnehin schon sind.

Doch das entspricht nicht unserer Realität. Christsein und Kirchenzugehörigkeit verstehen sich nicht mehr von selbst. Es sind jedoch nicht Fragen von Größe und Einfluss, von Kirchenmitgliedschaft und Kirchenfinanzen, die uns vorrangig beschäftigen. Es ist der Auftrag der Kirche selbst, der uns mit Sorge auf solche Befunde schauen lässt. Denn dieser Auftrag bemisst sich an der klaren biblischen Aussage: »Gott will, dass allen Menschen geholfen werde und sie zur Erkenntnis der Wahrheit kommen« (1. Timotheus 2, 4). Darin gründet der Auftrag dazu, anderen Menschen unseren Glauben nahe zu bringen, ihnen den Weg zur Taufe zu eröffnen, sie für die Zugehörigkeit zur Gemeinschaft der Glaubenden zu gewinnen.

In diesem Geist hat die Barmer Theologische Erklärung von 1934 eine Vorstellung von der Volkskirche formuliert, der wir uns auch heute, unter gewandelten Bedingungen, anschließen können, von einer Kirche nämlich, die »die Botschaft von der freien Gnade Gottes« ausrichtet »an alles Volk.« Wie wir diesem Auftrag heute gerecht werden – das wollen wir hier in Kassel fragen.

Der Ausgang aus den mentalen Gefangenschaften unserer Kirche

Es geht in unserem Reformprozess nicht nur um einzelne Vorhaben zur Qualität von Gottesdiensten, zu missionarischen Initiativen in den kirchlichen Regionen oder zu einer verbesserten Leitungs- und Führungskultur. Es geht auch nicht nur um die Anstöße der Kompetenzzentren, deren Leiter wir vorhin in ihre Aufgaben eingeführt haben. Es geht zugleich, wie das Impulspapier von 2006 verdeutlicht hat, um einen Mentalitätswandel. Der Wandel von Mentalitäten ist jedoch keine Aktion, sondern ein Prozess. Er muss sich entwickeln und entfalten.

Die Verbesserung der Kirche als Organisation hat ihr Gewicht. Strukturmaßnahmen und Ressourcenmanagement mögen Entlastungen und Verbesserungen bewirken; aber eine Erweckungsbewegung entsteht daraus nicht. Strategische Entscheidungen und operative Initiativen haben einen hohen Nutzen; aber sie treffen noch nicht den Kern. Ihm nähern wir uns an, wenn wir den Lebensrhythmus der Kirche von der Liebe Gottes zu den Menschen bestimmen lassen.

Deshalb bildet die Hinwendung zu den Menschen, also die Mission, den Herzschlag der Kirche. Dann aber hat eine Kirche, die missionsvergessen ist, Herzrhythmusstörungen – wie Eberhard Jüngel 1999 auf der Missionssynode in Leipzig gesagt hat. Auch nach zehn Jahren haben wir diese Herzrhythmusstörungen noch keineswegs überwunden. Gottes Wort ist nicht gebunden; deshalb haben wir das Unsere zu tun, damit es die Menschen erreicht. Wir wollen es aber auch selbst so hören, dass es uns aus unseren mentalen Gefangenschaften befreit. Drei mentale Gefangenschaften will ich nennen, aus denen wir heraustreten wollen in den weiten Raum, den das Evangelium uns eröffnet.

Die erste mentale Gefangenschaft ist die Gefangenschaft im eigenen Milieu. Wir erleben es nicht nur individuell, sondern es wird uns auch empirisch aufgewiesen, dass uns als Kirche der Zugang zu bestimmten Milieus und Lebensstilen nicht zureichend gelingt und wir nicht dazu im Stande sind, ihnen die Relevanz unseres Glaubens nahe zu bringen. Eigene Berührungsängste spielen dabei eine große Rolle. Zu überlasteten Müttern fällt uns der Zugang ebenso schwer wie zu verbitterten Hartz IV-Empfängern. Die Opfer der Globalisierung zu erreichen, ist genauso schwer, wie ihre Akteure zu beeinflussen. Unsere Berührungsängste richten sich auf diejenigen, die an den Rand geraten, genauso wie auf diejenigen, die in Entscheidungszentren und Verantwortungsberufen tätig sind. Unsere Berührungsängste halten uns von vielen kulturell Kreativen genauso fern wie von wirtschaftlich Erfolgreichen.

Mit dieser sozialen geht eine geistliche Milieuverengung einher. Wir wollen dem Volk aufs Maul schauen, aber wir hören nicht, was es sagt. Das ist geistlich besorgniserregend. Denn wir kennen den Kummer vieler Menschen nicht und auch nicht ihre Freude. Wir ahnen die Zweifel nicht, die sie in sich tragen, aber auch ihre Glaubensfestigkeit ist uns fremd. Wir würdigen das Engagement der Eliten nicht und sind sprachlos gegenüber den Ausgeschlossenen an den Rändern der Gesellschaft. Milieugrenzen zu überschreiten, ist der Kirche der Freiheit aufgegeben. Die Befreiung aus der Milieugefangenschaft ist für die Reform unserer Kirche zentral. Und nichts wünschte ich dringlicher, als das von Kassel ein deutliches Signal ausginge: Heraus aus der Gefangenschaft unserer eigenen Milieugrenzen hin zu den Menschen, von denen uns Berührungsängste trennen. Diese Berührungsängste wollen wir hinter uns lassen.

Eine andere mentale Gefangenschaft zeigt sich in einer verbreiteten geistlichen Furchtsamkeit. Manchmal mangelt es an Mut dazu, das Christusbekenntnis als Kern unseres Glaubens ins Licht zu rücken. Die Angst, für zu fromm gehalten zu werden, ist groß. Manchmal hält sie uns davon ab, unsere Glaubensgewissheit zur Sprache zu bringen. Die Furchtsamkeit im Blick auf den Kern verbindet sich jedoch mit einer Furcht vor dem, was außen ist. Wenn wir dagegen in unserem Bekenntnis zur Gnade Gottes in Christus gewiss sind, brauchen wir keine Angst vor der Weite der Welt zu haben. Wer im Glauben verwurzelt ist, kann sich weit in die Welt hinaus wagen, ohne um seine Identität fürchten zu müssen. Christen, die ihres Glaubens gewiss sind, igeln sich nicht in einer Sonderwelt ein, sondern lassen sich auf die Welt ein, in der sie leben.

Der Reformprozess in unserer Kirche geht von außen nach innen. Er widmet sich organisatorischen Fragen, damit der Kern des Evangeliums besser zum Leuchten kommt. Aber er geht auch von innen nach außen. Er verbindet die Konzentration auf den Kern des kirchlichen Auftrags mit großer Aufmerksamkeit für die Menschen außerhalb der Kirche wie für die gesellschaftlichen Herausforderungen unserer Zeit.

Von der Freiheit des Glaubens wollen wir einen Gebrauch machen, der den Menschen und unserer Gesellschaft zugutekommt. Zwar halten manche eine so verstandene positive Religionsfreiheit heute für überholt und wollen die Religion am liebsten in den Bereich des Privaten verweisen. Daran beteiligen wir uns nicht. Denn eine solche Privatisierung des Glaubens amputiert den christlichen Glauben selbst. Und das machen wir nicht mit.

Verheerend sind aber auch die Konsequenzen für die Gesellschaft. Denn eine solche Amputierung des Glaubens lässt zugleich die Quellen vertrocknen, aus denen sich ein freies, gerechtes und solidarisches Gemeinwesen speist. Diese Quellen lebendig zu halten, ist jedoch für die Kirche der Freiheit zentral. Dass der Beitrag unserer Kirche zur Gestaltung der Gesellschaft sichtbar wird, ist für unseren Reformprozess von zentraler Bedeutung, und deshalb sage niemand, wir beschäftigten uns mit uns selbst und wendeten uns nach innen. Nein, wir bleiben den Problemen unserer Gesellschaft zugewandt, gerade dann, wenn wir versuchen, mit größerer Kraft vom Kern unseres Glaubens her zu den gesellschaftlichen Fragen unserer Zeit beizutragen und ohne Wenn und Aber auf der Seite derer zu stehen, die in dieser Gesellschaft an den Rand gedrängt werden und in Armut versinken, in der sie nicht bleiben sollen.

Noch von einer letzten mentalen Gefangenschaft will ich sprechen. Manchmal trägt unser kirchliches Handeln – wie das gesellschaftliche Handeln um uns her – die Züge eines Lebens auf Pump. Wir zehren Ressourcen auf, die nicht für uns allein bestimmt sind. Wir lassen uns von einem Aktivismus leiten, den wir nicht auf seine Nachhaltigkeit hin prüfen. Wir fordern die Kräfte von beruflich wie ehrenamtlich Mitarbeitenden bis zum Äußersten, ohne nach Notwendigkeit und Sinn der geforderten Aktivitäten zu fragen. Wir halten manche Strukturen und Gewohnheiten gleichsam mit einem geliehenen Schutzschirm aufrecht, obwohl wir ahnen, dass dies auf Dauer nicht geht. Wir nehmen neue Aktivitäten auf, ohne Eingespieltes aufzugeben. Laufen wir nicht oft wie in einem Hamsterrad, mit hohem Tempo, aber ohne Geländegewinn, mit äußerster Anstrengung, aber ohne erkennbaren Erfolg?

Gegenüber dieser Tendenz enthält der Reformprozess unserer Kirche einen Aufruf zur Gelassenheit. Denn nur Gelassenheit hilft dazu, das bleibend Wichtige vom gerade jetzt Dringlichen zu unterscheiden. Nur Gelassenheit führt dazu, dass wir uns auf das konzentrieren, was wir auch zum Ziel führen können, dafür dann allerdings auch die verfügbaren Kräfte einsetzen. Reform bedeutet nicht: immer mehr zu tun. Es bedeutet vielmehr, loslassen zu können, damit man anpacken kann.

Anpacken wollen wir, um Steine beiseite zu räumen, die den Blick auf die Schönheit des Evangeliums verdunkeln und den Weg zu einem Leben aus Glauben verstellen. Aufbruch aus Milieugrenzen, Aufbruch aus geistlicher Furchtsamkeit, Aufbruch aus besinnungslosem Aktivismus: Im Kern geht es in unserem Reformprozess um eine geistliche und theologische Aufgabe, es geht darum – um mit dem Epheserbrief zu sprechen – , »mit allen Heiligen« zu »begreifen, welches die Breite und die Länge und die Höhe und die Tiefe ist, auch die Liebe Christi« zu »erkennen, die alle Erkenntnis übertrifft, damit« wir »erfüllt werden mit der ganzen Gottesfülle« (nach Epheser 3, 18f.).

Von Herzen wünsche ich mir »Leuchtfeuer«, die unseren Glauben, unsere Theologie, unsere Frömmigkeit in ihrer Kraft lebendig werden lassen. Diese Kraft hält Aufklärung und Tradition, Frömmigkeit und Bildung, Freiheit und Verantwortung zusammen. Wir wollen uns mit dem Evangelium all denen zuwenden, die nach Halt und Sinn für ihr Leben suchen. Auch wenn ein solcher Weg Zeit braucht, hoffen wir darauf, dass es von uns heißen wird: Die evangelische Kirche hat sich die richtigen Sorgen zur rechten Zeit gemacht.

Die richtigen Sorgen zur rechten Zeit

»Alle Sorgen werft auf ihn, denn er sorgt für euch« – so heißt das biblische Wort, das über dieser Woche steht (1. Petrus 5, 7). Das richtige Wort zur richtigen Zeit! Nicht von Sorgen lässt sich die Kirche beherrschen. Sondern der auferstandene Christus ist ihr alleiniger Herr. Es gilt nicht nur, sich die richtigen Sorgen zur rechten Zeit zu machen, sondern auch zu wissen, wem wir sie zuerst anvertrauen, damit sie uns nicht in die Enge treiben, sondern der Raum weit bleibt, in den Gott uns stellt.

In einer Zeit, in der mit Vorliebe das Wort »Krise« zur Beschreibung der eigenen Gegenwart verwendet wird, feiern wir als evangelische Kirche Jesus Christus als den Herrn des Lebens, als Ende der Sorgen-Herrschaft, als Grund und Kraft dafür, die Kirche zu gestalten und in die Welt hinein zu wirken.

Ähnlich befreiend wie der Wochenspruch für diese Woche endet auch der Abschnitt über das ,Schätzesammeln und Sorgen' in der Bergpredigt Jesu: »Darum sorgt nicht für morgen, denn der morgige Tag wird für das Seine sorgen. Es ist genug, dass jeder Tag seine eigene Plage hat« (Matthäus 6,34).

Ein denkbar provozierendes Motto für eine »Zukunftswerkstatt« – scheint sie doch ganz und gar davon geprägt zu sein, dass wir uns heute schon die Sorgen von morgen machen!

Doch zu dieser eingefleischten Art, mit Sorgen umzugehen, werden wir zunächst einmal auf Abstand gebracht. Mit unseren Sorgen gehen wir nur dann angemessen um, wenn wir sie einer gründlichen »Entmythologisierung« unterziehen. Der vor 125 Jahren geborene Marburger Theologe Rudolf Bultmann hat dieses Wort in die theologische Sprache eingeführt. Leicht hat er es damit nicht gehabt. Angesichts seines Jubiläumsdatums erfährt er erstaunliche kirchliche Ehren; zu seinen Lebzeiten war das keineswegs abzusehen. Sein Aufruf, hinter die Mythen zu schauen, kann freilich nicht nur, wie er vorschlug, auf die biblische Botschaft angewandt werden. Dieser Aufruf ist vielmehr genauso auf den Umgang mit unseren eigenen Erfahrungen und den vor uns liegenden Herausforderungen anzuwenden.

Dass wir, wenn wir uns nur anstrengen, die Herausforderungen der Zukunft schon meistern werden, ist genauso ein Mythos wie die apokalyptische Angst, dass alles ohnehin über uns zusammenbrechen wird. Im einen Fall machen wir uns Menschen selbst zu Göttern, im andern Fall dämonisieren wir das Böse. Wenn wir unsere Sorgen Gott anvertrauen und die entscheidende Hilfe von ihm erwarten, befreit uns dies zu einem nüchternen Umgang mit dem, was uns Sorgenmacht, ebenso wie zu einer nüchternen Einschätzung der uns anvertrauten Kräfte.

Deshalb können wir getrost das in Angriff nehmen, was uns heute möglich ist, und andere Schritte einer nächsten Generation überlassen. Für unsere Sorgen um die Zukunft der Kirche gilt das allzumal. Denn unseren Beitrag zur Gestaltung von Kirche leisten wir in der Gewissheit, dass der Heilige Geist die Kirche stets auf seine Weise erhalten und erneuern wird.

Aus der Freiheit des Glaubens können wir die Sorgen und Plagen unserer Zeit an die ihnen gebührende Stelle rücken. Wir können die uns gegebenen Möglichkeiten prüfen und unsere Kräfte in dem Bewusstsein einsetzen, dass es genügt, wenn »jeder Tag seine eigene Plage hat.« Wir können uns auf das konzentrieren, was uns heute als wesentlich erscheint, und uns von dem Zwang lösen, alles gleichzeitig bewältigen zu wollen.

»Nicht im Möglichen schweben, das Wirkliche tapfer ergreifen« – so hat Dietrich Bonhoeffer die Haltung christlicher Freiheit beschrieben. In einer solchen Haltung brauchen wir nicht alle Aufgaben auf einmal zu schultern; wir dürfen Lücken lassen. Wir haben keinen Grund dazu, vergangene Kirchenkampfsituationen zu wiederholen. Das schließt nicht aus, von ihnen zu lernen, wie das Beispiel der Barmer Theologischen Erklärung zeigt. Wir brauchen nicht das Gegeneinander von lutherisch, reformiert und uniert so zu wiederholen, als habe es die Leuenberger Konkordie von 1973 nie gegeben. Das schließt nicht aus, dass wir den Reichtum der reformatorischen Traditionen – im Plural! – lebendig halten; in diesem Jahr haben wir das am Beispiel von Johannes Calvin getan, im nächsten Jahr wird das Beispiel Philipp Melanchthons folgen. Meine herzliche Bitte: Folgt nicht denen, die sagen »Die Menschen verstehen die Unterschiede sowieso nicht, wir können das gleich bleiben lassen!« Nein, die Menschen haben Lust zu verstehen, auch die Geschichte. Machen wir es uns nicht zu einfach.

Wir brauchen uns nicht einzubilden, wir könnten alle Fragen gleichzeitig lösen. Es kommt vielmehr darauf an, uns den für den Auftrag der Kirche wichtigen Fragen zu stellen. »Trachtet zuerst nach dem Reich Gottes und nach seiner Gerechtigkeit, so wird euch das alles zufallen«, heißt es in der Bergpredigt Jesu (Matthäus 6, 33). Ein guter Leitsatz für den Reformprozess in der evangelischen Kirche! An ihn wollen wir uns halten auf allen Stationen des Weges zum Reformationsjubiläum 2017. Auch der nächsten Generation wollen wir von der Güte und dem Glanz Gottes erzählen und ihr Trost und Ermutigung, Orientierung und Klarheit aus der Heiligen Schrift weitergeben. Auf die Glaubenseinladung »an alles Volk« zu verzichten, steht uns nicht frei.

Bei den Besuchen bei ökumenischen Partnern, von denen ich eingangs berichtete, haben wir Kirchen in kleiner Zahl erlebt. Wir begegnen ihnen mit Hochachtung; aber die kleine Zahl zum Selbstzweck zu erheben, ist abwegig. Hauskirchen begegnen uns in verschiedenen Ländern unseres Globus; die Glaubenstreue ihrer Mitglieder nötigt uns Bewunderung ab. Doch eine »Verwohnzimmerung des Protestantismus« (Jens Haupt) ist kein Konzept kirchlichen Handelns.

Es steht uns nicht offen, uns nur um die zu kümmern, die schon da sind. Weil es um Hilfe und Heil Gottes für alle Menschen geht, können wir nicht unter uns bleiben. Aber ebenso wenig finden wir es angemessen, auf einen Eintrag im Guinness-Buch der Rekorde hin zu eifern, wie es uns die Full Gospel Church in der südkoreanischen Hauptstadt Seoul stolz präsentierte. Über den gigantischen Zahlen an Mitgliedern, Gottesdienstbesuchern und Missionaren in aller Welt schien sie zu übersehen, dass Quantität nicht das Evangelium ist. Alle sollen Zugang finden zu Gottes Barmherzigkeit als Weg, als Wahrheit und als Leben. Das ist das Maß der Mission.

Darin liegt der Dreh- und Angelpunkt aller kirchlichen Reformprozesse, die im Vertrauen auf Gottes Sendung ihren Grund haben. Das Vorhaben dieser Tage in Kassel trägt im Kern einen geistlichen Charakter. Wir vertrauen auf einen Wandel aus Glauben.

Es entspricht genuin reformatorischer Tradition, dass wir dabei die Hilfe der Theologie in Anspruch nehmen. Unser Reformprozess ist von der Hoffnung getragen, dass unsere Kirche ihre Theologie neu entdeckt – und die Theologie ihre Kirche.

Wissenschaftliche Theologie betreibt Forschung; sie gehört an die Universität, weil sie die Wahrheit des christlichen Glaubens im Horizont des allgemeinen Wahrheitsbewusstseins entfaltet und die Grundlagen der Gesellschaft und ihrer Religiosität aus der Perspektive des Christentums analysiert. Doch wir erhoffen uns zugleich eine Theologie, die sich der Orientierungssuche unserer Zeit stellt und sie aus der Kraft der biblischen Texte und aus der Weite der kirchlichen Überlieferungen beantwortet. Es geht um eine Theologie, die in aller Wissenschaftlichkeit zu den Existenzfragen unserer Zeit Zugang findet, die ihre eigenen Traditionsbestände nicht eliminiert, sondern interpretiert, die ihre eigenen Schätze nicht konserviert, sondern erschließt.

Dafür gibt es wichtige Beispiele. Aber über diese Beispiele hinaus zeigt sich eine Neugier an geistlichen Themen und daran, dass sie im Dialog mit dem Denken unserer Zeit geklärt werden. Diese spirituelle Neugier richtet sich nicht mehr allein an die christliche Theologie. Umso stärker wird die Überzeugungskraft dieser Theologie gefragt. Sie wird dabei nicht auskommen ohne ein geklärtes Verhältnis zur Kirche als der Gemeinschaft der Suchenden und Glaubenden, derer, die schon gefunden haben und derer, die noch nicht gefunden haben.

Denn das war die christliche Kirche immer: eine Gemeinschaft derer, die noch auf dem Weg zum Glauben waren – also der Katechumenen – mit denen, die schon im Glauben ihre Heimat gefunden hatten – also der Getauften. Dieses Verständnis von Kirche als Gemeinschaft der Suchenden und Glaubenden müssen wir heute erneuern und dafür eine praktisch überzeugende Gestalt entwickeln. Dazu brauchen wir das Miteinander von Kirche und Theologie.

Wenn es in all dem um das Trachten nach dem Reich Gottes, um die Weitergabe des Evangeliums, um den Zugang zu Gottes Barmherzigkeit geht, muss auch von unserer menschlichen Mitwirkung die Rede sein. Zwischen Beten und Arbeiten, zwischen Gottes unverfügbarer Freiheit und unseren Anstrengungen, zwischen Gottes Heiligem Geist, der weht, »wo und wann er will«, und unserem Gestalten besteht ein klarer Unterschied und ein unumkehrbares Gefälle. Doch beide zu unterscheiden, bedeutet nicht, sie auseinanderzureißen. Übrigens bewegen nicht nur Reformer sich im Bereich menschlicher Arbeit und Anstrengung. Auch wer nicht reformiert, gestaltet. Gründe muss nicht nur nennen, wer etwas anders machen will. Rechenschaftspflichtig ist vielmehr auch, wer alles so bleiben lässt, wie es ist. Jeder muss sich die Frage vorlegen: »Was geschieht, wenn nichts geschieht?« Die theologische Unterscheidung zwischen dem Wirken des Heiligen Geistes und dem menschlichen Handeln ist sehr am Platz. Aber diese Unterscheidung ist keine Rechtfertigung für ein schlichtes »Weiter so«.

Nach den Traditionsabbrüchen, durch die wir hindurchgegangen sind, geht es darum, das Evangelium in einer ansprechenden und einladenden Weise weiterzugeben, so gut wir es eben können. Wenn dies unsere Sorge ist, kann es uns nicht gleichgültig sein, ob unsere Gottesdienste gut oder schlecht besucht sind, ob wir viele oder wenige Kinder eines Jahrgangs taufen, ob viele oder nur wenige Menschen gut von Gott reden und seine Gerechtigkeit in die Gestaltung unserer Gesellschaft einbringen.

Je länger desto mehr lehne ich mich innerlich dagegen auf, dass diese Art von Sorgen als bloßes Selbsterhaltungsinteresse der Institution Kirche missachtet wird. Es ist doch unsere zentrale Aufgabe, den Glauben an die nächste Generation weiter zu geben. Eine Kirche, die diese Aufgabe vernachlässigt, kann nicht von sich sagen, sie trachte zuerst nach dem Reich Gottes. Für die Weitergabe des Evangeliums bewährte Wege zu nutzen, aber dafür auch neue Formen zu entwickeln, das ist die Herausforderung, vor der wir stehen.

In unserer Kirche gibt es eine verbreitete Abneigung gegen die Vorstellung von wachsenden Gemeinden; so hat sich diese Ablehnung beispielsweise in der Kritik an den quantitativen Zielen in dem Impulspapier »Kirche der Freiheit« deutlich gezeigt. Doch die Gefahr, dass wir mit quantitativen Vorgaben und Erfolgsmeldungen zu weit gehen und dem Beispiel der koreanischen Full Gospel Church folgend einen Antrag auf Eintragung ins Guinness-Buch der Rekorde stellen, das liegt in unserer Kirche wirklich denkbar weit entfernt. Und deswegen sage ich genau umgekehrt: Das Wachstum von Gemeinden dürfen gerade wir als Ziel nicht aus den Augen verlieren – auch wenn wir uns ohne Groll und Verzagtheit den Situationen stellen, in denen ein solches Wachstum schon aus demografischen Gründen nicht zu erwarten ist.

Zeichen der Hoffnung

Mit dem Impulspapier »Kirche der Freiheit. Perspektiven für die evangelische Kirche im 21. Jahrhundert« vom Sommer 2006 hat der Reformprozess in unserer Kirche nicht begonnen. »Impulspapier« nannte der Rat der EKD diese Veröffentlichung auch deshalb, weil in ihm Impulse aus den Landeskirchen aufgenommen wurden. Freilich wollten wir diese Impulse zugleich verstärken. Wir wollten herausfinden, ob sie in eine gemeinsame Richtung weisen. Niemand kann eine solche Richtung verfügen, sie kann nur gemeinsam entwickelt werden. Deswegen ist für mich die ganze Debatte über eine Reform von oben oder von unten eine Scheindebatte. Denn erkennbar werden Impulse von unten nur dann, wenn Themen öffentlich vorgegeben werden, an denen sie sich kristallisieren können. Und das haben wir auch in den letzten drei Jahren erlebt. Wir haben in Wittenberg 2007 diese Anstöße aufgenommen, theologisch vertieft und praktisch weitergeführt; die Diskussion seitdem hat die Gemeinsamkeiten verstärkt.

Unter dem Motto »Kirche im Aufbruch« tragen wir seit dem Jahr 2008 vielfältige Beispiele guter Praxis zusammen. Und mehr »von unten« als diese Beispiele kann keine Reform sein. Deswegen sage ich hier in Kassel: Ein Gegeneinander von Reform von oben und Reform von unten gibt es in der Evangelischen Kirche in Deutschland nicht.

Vieles wäre auch ohne den Reformprozess in Gang gekommen; doch es findet jetzt umso breitere Resonanz. Die Arbeit an der Qualität von Gottesdiensten ist ein Beispiel dafür. Anderes ist im Rahmen des Reformprozesses in Gang gebracht worden wie die »Glaubenskurse für Erwachsene«. Wie die Reformatoren nutzen auch wir die Medien unserer Zeit. Mit dem Multimedia-Portal »evangelisch.de« vollziehen wir in diesen Tagen von Kassel dafür einen großen, für die nächsten Jahre wegweisenden Schritt.

Mit all dem wollen wir die evangelische Kirche erkennbar machen, die sich nach einer Aussage der EKD-Synode von Dresden 2008 dort ereignet, wo »Gottesbegegnung, Lebenserneuerung und Gemeinschaft« eröffnet werden und erlebt werden können.

Als Teilnehmerinnen und Teilnehmer dieser Zukunftswerkstatt stehen Sie alle stellvertretend für das breite Interesse, die große Hoffnung, den bemerkenswerten Einsatz für die Zukunft unserer Kirche. Sie zeigen, dass im Bemühen um die Reform unserer Kirche eine neue Phase beginnt. Konzeptionelle Überlegungen werden mit Fantasie und Lust in vielfältiger Weise fruchtbar ge-macht: in Gemeinden und kirchlichen Regionen, in freien Initiativen und landeskirchlichen Diensten. Auf diese Weise gewinnt das Bild unserer evangelischen Kirche an Farbe: einer Kirche, die sich mit der Botschaft von Gottes Gnade an die Menschen wendet, mit Gottvertrauen in die Zukunft geht und zur Liebe zum Nächsten wie zu sich selbst ermutigt.

Mein großer, persönlicher Dank gilt denen, die diese Zukunftswerkstatt vorbereitet und ermöglicht haben, und ebenso denen, die sie nun gemeinsam gestalten. Ich bin dankbar für die große Gemeinschaft der Landeskirchen, Kirchenkreise und Gemeinden, die sich hier gemeinsam als eine Kirche im Aufbruch auf den Weg machen. Die sichtbare Gemeinschaft, in der verschiedene Frömmigkeitstraditionen und theologische Richtungen zusammen finden, empfinde ich als ein großes Gut in unserer evangelischen Kirche, ja als ein Geschenk Gottes.

Unsere Zukunftswerkstatt will ein Beispiel für die Kultur der Anerkennung geben, die wir in unserer Kirche fördern wollen. Das Licht, das von einzelnen Ideen und innovativen Perspektiven ausgeht, soll nicht unter dem Scheffel bleiben, sondern zum Leuchten kommen. Mit der dankbaren Zwischenbilanz verbinden wir den Start zu neuen Initiativen, der sich in den Foren des morgigen Tages vollzieht. Die drei Kasseler Tage werden Herausforderungen bedenken, Fragen bearbeiten, Themen vorstellen, neue Initiativen starten. Doch bestimmend ist die Dankbarkeit für das, was Gott unserer Kirche schenkt und anvertraut.

All unsere Arbeit wissen wir eingebettet in Gottes Hilfe und seinen Segen. Im Blick auf unsere Kirche halten wir uns an Martin Luthers ebenso schlichte wie klare Einsicht: »Wir sind es doch nicht, die da die Kirche erhalten könnten. Unsere Vorfahren sind es auch nicht gewesen. Unsere Nachfahren werden's auch nicht sein; sondern der ist's gewesen, ist's noch und wird's sein, der da sagt: ,Ich bin bei euch alle Tage bis an das Ende der Welt.‘«