„In der Freiheit bestehen – 20 Jahre friedliche Revolution“ - Vortrag auf Einladung der rheinischen Landeskirche vor den offiziellen Feierlichkeiten zum Tag der Deutschen Einheit in Saarbrücken

Wolfgang Huber

Unsere Aufgabe: In der Freiheit bestehen

Vor wenigen Tagen noch befand ich mich mit einer Delegation des Rates der EKD in Korea und war bewegt, dieses geteilte Land zu erleben. Es drängte sich die Erinnerung an unser Land vor dem Fall der Berliner Mauer und der sog. "Wiedervereinigung" in den Jahren 1989/90 auf, aber einen direkten Vergleich zwischen der Teilung Deutschlands und der Teilung Koreas wird man nicht ziehen können. Für uns steht heute fest: Als die Mauer fiel, begann eine neue Epoche der deutschen Geschichte – und der Weltgeschichte. Wahrscheinlich können die meisten der heute hier Anwesenden genau sagen, wo sie gewesen sind und was sie getan haben an jenem Abend, in jenen Augenblicken, an dem 9. November 1989, als unvorhersehbar die Berliner Mauer fiel. Ich selbst erinnere mich jedenfalls gut daran.

In einer fiktiven Erinnerungsszene lässt der Regisseur Edgar Reitz die dritte Staffel seiner großen Heimat-Trilogie ("Chronik einer Zeitenwende") mit der Wiederbegegnung der beiden Protagonisten aus der zweiten Staffel, Hermann Simon und Clarissa Lichtblau, beginnen. Die beiden treffen sich nach vielen Jahren plötzlich und unerwartet wieder, und zwar in Berlin am Abend des 9. November 1989. Sie lieben sich stürmisch in einem Hotelzimmer, während man ringsum euphorisch den Fall der Mauer am Brandenburger Tor feiert. "Das glücklichste Volk der Welt" ist (nach einem Wort des damaligen Regierende Bürgermeisters, Walter Momper (SPD)] der Name dieser Folge des "Heimat"-Epos.

"Das glücklichste Volk der Welt" ist eine passende Überschrift für die damaligen Momente, wenn man sich auf den Augenblick konzentriert, der so vieles zum Guten veränderte. Noch treffender ist aber vielleicht die Rede von der "friedlichen Revolution". Sie macht deutlich, dass ein Prozess stattfand und zeigt, in welcher Art und Weise sich diese große geschichtliche Umwälzung vollzog. Dabei war es zu keinem Zeitpunkt selbstverständlich, dass alles friedlich bleiben würde. Die Situation war jederzeit offen, brisant und gefährlich – Eskalation und Gewaltanwendung waren denkbar und möglich. Auch heute noch haben wir allen Anlass, Gott dafür zu danken, dass diese Revolution ganz und gar ohne Gewalt und Blutvergießen ablaufen konnte.

Der 9. November 1989 brachte für die in der DDR bedrängten, bedrohten und bedrückten Deutschen das Geschenk der Freiheit. Dabei handelte es sich zunächst einmal ganz elementar um politische Freiheit. Als die Mauer in Berlin gefallen war, war diese Freiheit greifbar nahe. Sie in einem einzigen deutschen Staat zu verwirklichen, schien für die meisten damals die einzig logische Konsequenz zu sein. So entstand die Berliner Republik. Sie beruht auf der friedlichen Revolution und auf dem Geschenk der Freiheit. Die Aufgabe heute, zwanzig Jahre danach, ist eine andere. Sie könnte lauten, die geschenkte Freiheit zu bewahren und zu gestalten – in einem Wort gesagt: in ihr zu bestehen. "In der Freiheit bestehen" – diese Aufgabe formulierte der frühere Bundespräsident Richard von Weizsäcker bei einer Stegreifansprache in der Berliner Gedächtniskirche im November 1989.  Ein Jahr später kam er auf diese Formel zurück, als er seine historische Rede zum 3. Oktober 1990 hielt: "Jetzt ist die Mauer weg, und das ist das Entscheidende. Doch nun, da wir die Freiheit haben, gilt es, in ihr zu bestehen."

I. Die wunderbare Freiheit der Christenmenschen

Christen und Christinnen wissen: Freiheit ist nicht nur ein politisches Thema, kein bloß säkularer Grundbegriff der europäischen Moderne. Sie ist vielmehr ein Grundbegriff des Christentums.  Sie steht für eines der ältesten, wichtigsten und ureigensten Themen der christlichen Kirche.  Jesus selbst wird der Satz zugeschrieben: "Die Wahrheit wird euch frei machen" (Johannes 8,32b). Und der Apostel Paulus verkündigte im Brief an die Galater seine Freiheitsbotschaft: "Zur Freiheit hat uns Christus befreit!" (Galater 5,1a). Die Reformation nahm ihren Ausgangspunkt bei einer intensiven Neuauslegung der Briefe des Apostels Paulus. Martin Luther entdeckte bei der Beschäftigung mit ihnen einen neuen, Epoche machenden religiösen Freiheitsbegriff. Luther leitet seine Überlegungen zur Freiheit der Christenmenschen mit dem dialektischen Gedanken ein: „Ein Christenmensch ist ein freier Herr über alle Dinge und niemandem untertan. Ein Christenmensch ist ein dienstbarer Knecht aller Dinge und jedermann untertan.“

Was er damit meint, entfaltet er ausführlich in seiner Programmschrift aus dem Jahr 1520: "Von der Freiheit eines Christenmenschen". Vorbereitet wurde diese Schrift unter anderem durch eine gründliche Auslegung des Galaterbriefs. Diesem Brief, den er neben dem Römerbrief in ganz besonderer Weise schätzte und sogar als seine "Käthe von Bora" bezeichnete, hatte er im Jahr 1519 einen ausführlichen Kommentar gewidmet. Später sollte er immer wieder auf ihn zurückkommen; 1531 nahm er noch einmal eine exegetische Analyse des Galaterbriefs vor.

Paulus folgend skizziert Luther in seiner Galatervorlesung sowie in der Freiheitsschrift unter anderem drei wesentliche Gedanken:

Erstens: Frei durch Christus. Christenmenschen haben sich ihre Freiheit nicht selbst erarbeitet, sondern sie beruht auf einem Geschenk Gottes. Christus selbst ist es, der Menschen frei und fröhlich macht. Christen werden frei durch Christus: Freiheit ist eine Gnadengabe ihres Herrn.

Zweitens: Frei vom Gesetz. Christen und Christinnen sind frei vom Gesetz, nicht nur vom Zeremonialgesetz, das die Wahl der Speisen regelt oder für die Knaben die Beschneidung fordert, sondern frei von allen Gesetzen, die den Menschen vorgaukeln, sie seien ein Weg zu Gott, ja, ein Heilsweg. Durch die Erfüllung der Gesetze kommt kein Mensch zum Heil. Christenmenschen sind in diesem Sinne frei vom Gesetz.

Mit Luthers eigenen Worten gesagt: "So sehen wir, daß ein Christenmensch an dem Glauben genug hat; er bedarf keines Werkes, damit er fromm sei. Bedarf er denn keines Werkes mehr, so ist er gewiß entbunden von allen Geboten und Gesetzen. Ist er entbunden, so ist er gewiß frei. Das ist die christliche Freiheit […]."

Drittens: Frei zur Liebe. Die mit der Freiheit beschenkten Christenmenschen sind dazu aufgefordert, ihr Leben im Geist der Liebe zu gestalten. Dies meint die Rede davon, "in der Freiheit zu bestehen".

Martin Luther fasst zusammen: "In dieser Freiheit, so lehrt der Apostel, solle man tapfer und treu bestehen. Denn Christus, der uns zugut das Gesetz erfüllte und die Sünde überwand, sendet den Geist der Liebe in die Herzen seiner Gläubigen. Der macht aus ihnen Leute, die gerecht sind und das Gesetz lieb haben, – das geschieht dann also nicht durch ihre eignen Werke, sondern durch das in Gnaden verwilligte Geschenk Christi."

Christenmenschen sind zwar frei vom Gesetz, aber frei zur Liebe im Sinne der Nächstenliebe. Wer im Geist der Liebe handelt, erfüllt das Gesetz, weil er im Sinne Gottes lebt und handelt. Christenmenschen sind daher frei zur Liebe. Diese Freiheit mag sich in anderer Perspektive freilich als Knechtschaft ausnehmen, denn wer liebt, der dient anderen und ist ihnen in gewisser Hinsicht untertan.

Luther sagt: "Aber auch der Apostel selbst spricht es an unserer Stelle aus, daß diese Freiheit eine Knechtschaft der Liebe sei: es diene, sagt er, einer dem andern durch die Liebe. Denn das heißt Freiheit: keine Verpflichtung mehr kennen als nur noch die, den Nächsten zu lieben. Die Liebe aber lehrt ganz mühelos alles recht machen; ist sie aber nicht da, dann kann man nicht genug Lehren geben."

Wer glaubt, ist somit frei vom Gesetz; wer frei ist vom Gesetz, der dient seinem Nächsten im Geist der Liebe. Glauben, Freiheit und Liebe gehören im rechten Verständnis zueinander, bedingen einander und können nicht ohne einander sein.

II. Die Freiheit als Kind der friedlichen Revolution

Die Freiheit war 1989/90 das Kind der friedlichen Revolution; freilich die Freiheit im politischen Sinne, im Raum der Politik. Die freiheitlich-demokratische Grundordnung der Bundesrepublik Deutschland gewährt und verbürgt diese Freiheit. Die politische Freiheit ist ein hohes und kostbares Gut, das im Laufe der Geschichte nicht selten mühsam errungen und zäh gegen die zahlreichen Feinde der Freiheit verteidigt werden musste. Unsere eigene deutsche Geschichte, die Geschichte der friedlichen Revolution ist nicht nur das jüngste, sondern zugleich auch ein besonders beeindruckendes Beispiel dafür.

Wenn wir in diesem Jahr an die friedliche Revolution erinnern, können wir an das Urteil anknüpfen, das ein journalistischer Beobachter der damaligen Situation, Joachim Jauer, in die folgenden Worte fasst: „Im Osten Deutschlands hat die evangelische Kirche die herausragende Rolle beim Zusammenbruch des real existierenden Sozialismus gespielt. Sie hat sich der Gesellschaft geöffnet und bot Protestanten und Protestierern unter ihrem Dach Schutz. Weil nicht nur Christen den Raum der Kirche suchten, wurden die Gotteshäuser zum Ende der DDR so voll wie nie. Die Kirche hat den lange Zeit leisen Protest der Menschen verstärkt und sich vor die Bedrängten gestellt.“

Das positive Gesamtfazit, das Jauer zieht, kann ich nur unterstützen. Die christlichen Kirchen, und unter ihnen besonders die evangelische Kirche, haben den Prozess der friedlichen Revolution vorbereitet, mit gestaltet und in jeder nur möglichen Weise gefördert. Ihre Kerzen und Gebete, ihre seelsorgliche und mitmenschliche Begleitung, ihre klare und besonnene Stimme, ihre stete Mahnung zur Gewaltlosigkeit waren ebenso wie ihre unermüdliche Moderationstätigkeit an den Runden Tischen konstitutiv für das Gelingen der friedlichen Revolution.

Wie gesagt, Jauers Einschätzung stimme ich zu. Einwände habe ich allenfalls im Blick auf den von ihm gebrauchten Begriff der "Wende", den ich zur Kennzeichnung der Ereignisse der Jahre 1989/90 für nicht besonders gut geeignet halte. Gegen den Begriff der "Wende" spricht nicht nur, dass Erich Honeckers Nachfolger als Staats- und Parteichef, Egon Krenz, diesen Begriff womöglich zuerst verwendete – darüber kann man sich streiten, und man könnte es verschmerzen, wenn es denn so war. Gegen ihn spricht sodann, dass er in den Jahren 1982/83 in der Bundesrepublik bereits verwendet worden war, um den Regierungswechsel von der SPD/FDP-Koalition zur Koalition aus CDU/CSU und FDP zu etikettieren. Der Begriff wäre somit äquivok. Vor allem aber spricht gegen den Begriff der "Wende", dass er außerordentlich unscharf ist und den historischen Gegenstand, auf den er bezogen ist, in keiner Weise abbilden kann. Der Begriff der "friedlichen Revolution" ist dagegen sehr viel aussagekräftiger.

Und zwar aus folgenden Gründen: Wer von einer Revolution spricht, meint einen Prozess von großer Dynamik und mit bedeutenden Ausmaßen. Genau dies war 1989/90 der Fall. Und wer von der "friedlichen" Revolution spricht, hat die Art und Weise, wie sich dieser Umbruch ereignete, vor Augen. Gerade aus der Sicht der Kirchen, die damals wesentliche Akteure waren, ist der Modus, in dem diese Revolution geschah, von großer Bedeutung. Dass sie ihren Ursprung hatte in den Kirchen, dass sie gewaltlos und friedlich passierte und dass sie ihren Ausgang nahm von Kerzen und Gebeten, das ist ja keine bloß äußerliche Akzidenz, sondern macht gerade die Substanz dieses historischen Ereignisses aus.

Einer der zahlreichen kirchlichen Protagonisten der friedlichen Revolution war Pfarrer Christian Führer, im Jahr 1989 Pfarrer an der Leipziger Nikolaikirche und Initiator der Leipziger Friedensgebete und Montagsgebete. Er hält im Rückblick fest, dass in jenen Tagen nicht nur Menschen gehandelt haben, sondern Gott selbst am Werk war: "Dass Gott seine schützende Hand über uns alle – Christen wie Nichtchristen, Basisgruppenleute und Polizisten, Regimekritiker und Genossen, Ausreisewillige und Stasileute, die in den Panzern und die auf der Straße – gehalten hat und uns diese friedliche Revolution gelingen ließ nach so viel brutaler Gewalt, die in diesem 20. Jahrhundert von Deutschland ausging, besonders an dem Volk, aus dem Jesus geboren wurde, das kann ich nur mit dem Wort Gnade bezeichnen: Gnade an den Kirchen, an den Städten und Dörfern, an diesem ganzen Deutschland."

Das Resultat der friedlichen Revolution war, so sagte ich eingangs, die Gewinnung der politischen Freiheit. Seit dem 3. Oktober 1990 leben wir alle in Ost und West in dieser Freiheit, die in der Gestalt eines freiheitlich-demokratischen Rechtsstaats existiert, der sich Bundesrepublik Deutschland nennt.

III. Bewahrung der Freiheit im freiheitlich-demokratischen Rechtsstaat

Als evangelische Kirche bejahen wir die Staatsform der freiheitlichen Demokratie, weil in ihr – und, soweit wir wissen, nur in ihr – die unantastbare Würde der Menschen die verfassungsmäßige Grundlage alles staatlichen Handelns darstellt. Die EKD hat noch vor der Vereinigung im Jahr 1985 in ihrer Denkschrift "Evangelische Kirche und freiheitliche Demokratie: Der Staat des Grundgesetzes als Angebot und Aufgabe" (Gütersloh 1985) ihre grundsätzliche Bejahung der Staatsform Demokratie systematisch und umfassend begründet und auch eine Reihen von Implikationen dieser Zustimmung dargestellt. Ich habe an anderer Stelle dargelegt, warum es aus meiner Sicht erst relativ spät zu einer öffentlichen Äußerung kam, in welcher die evangelische Kirche ihre Nähe und Affinität zur Staatsform Demokratie bekundete.  Entscheidend war und ist, dass es nicht bei dieser einen Äußerung blieb, sondern dass die evangelische Kirche sich bereits vorher und auch nachher immer wieder zur Staatsform Demokratie bekannt und ihre kritische Solidarität mit dem demokratischen Gemeinwesen unter Beweis gestellt hat. Die jüngste Äußerung beider großer Kirchen in Deutschland erschien im Jahr 2006 unter dem Titel "Demokratie braucht Tugenden" als Nr. 19 der Reihe "Gemeinsame Schriften"  des Rates der EKD und der Deutschen Bischofskonferenz. Diese Schrift basiert auf zahlreichen Erfahrungen der jüngeren deutschen Geschichte – nicht zuletzt auch derjenigen Erfahrungen, die im Rahmen der friedlichen Revolution gemacht wurden. Auf ihrer Grundlage erinnert sie daran, dass die Demokratie nicht ein für allemal gewonnen ist, sondern immer wieder neu errungen, bewahrt und gestaltet werden muss. Dazu braucht es nicht nur eine gute, rechtsfeste und krisensichere Verfassung, sondern auch Staatsbürger und Staatsbürgerinnen, die sich mit Überzeugung und Leidenschaft für ihren Staat einsetzen und dabei im Alltag des Lebens staatsbürgerliche Tugenden ausbilden und beweisen. Politisches Handeln in der Demokratie ist darauf angewiesen, dass die Bürger und Bürgerinnen aus klaren und praxisfähigen ethischen Ressourcen heraus leben und ihre Normen, Werte und Ideale in ihrer jeweiligen gesellschaftlichen Rolle aktiv in das Gemeinwesen einbringen. In sehr ähnlicher Weise meldete sich erst kürzlich der frühere Bundeskanzler Helmut Schmidt zu Wort mit der Aussage: "Keine Gesellschaft freier Bürger kann auf Dauer ohne die Tugenden der Bürger bestehen. Die Nation braucht nicht nur die Grundrechte, sondern ebenso die Tugenden. Beide zusammen bilden die Grundwerte, auf denen unsere demokratische Gesellschaft beruht."

Ob man freilich in diesem Zusammenhang von "Tugenden“ sprechen sollte, ist eine durchaus kontrovers diskutierte Frage. Denn der Begriff ist umstritten. Vielleicht ist es daher besser, einige Beispiele für das Gemeinte zu nennen.

- Von allen christlichen Bürgern und Bürgerinnen ist Selbstverantwortung gemäß dem Subsidiaritätsprinzip zu erwarten, ebenso die Bereitschaft, sich zu informieren und sich zu engagieren. Zivilcourage und Verständigungsbereitschaft sind aus christlicher Perspektive wichtige Ressourcen; ebenso die Ausübung des aktiven Wahlrechts und die Achtung von demokratischen Parteien als unentbehrlichen Instrumenten der politischen Willensbildung. Die wichtigste Aufgabe der Christen in der Demokratie ist es, für diese und die sie führenden Politiker zu beten.

- Christlich motivierte Politiker und Politikerinnen haben sich in ihrem Handeln am Gemeinwohl zu orientieren und nicht vorrangig an partikularen Interessen. Sie sollten den Mut haben, die Wahrheit zu sagen und das als richtig Erkannte zu tun, auch wenn sie dadurch unpopulär werden. Sie sollten fair und standhaft im Dialog sein und auf die gewaltlose Kraft des besseren Arguments vertrauen. Sie sollten den Wählerinnen und Wählern etwas zumuten und zutrauen. Und sie sollten bestrebt sein, die Qualität der öffentlichen Administration zu verbessern, wo immer dies möglich ist.

- Von Journalisten und Journalistinnen, die sich als Christen verstehen, kann und darf man Wahrhaftigkeit, Mut, die Fähigkeit zur Selbstkritik, Sorgfalt bei der Recherche und in der Darstellung, Unbestechlichkeit und Nonkonformismus erwarten. Nur so können sie ihre Aufgabe als ein ebenso kritisches wie partnerschaftliches Gegenüber zur Politik glaubhaft wahrnehmen.

Das Gemeinsame Wort „Demokratie braucht Tugenden“ hat sich mit Bedacht auf Aussagen über das politische System im engeren Sinne des Wortes beschränkt. Deshalb war in dieser Schrift zum Beispiel vom ökonomischen System keine Rede, also von der Wirtschaft, den Konzernen, den Unternehmen und Banken.  Dabei ist es unbestreitbar, dass auch die Wirtschaft – ja, sie in ganz besonderem Maße – Wichtiges zur Stabilität und Leistungsfähigkeit eines demokratischen Staatswesens beizutragen hat. Eine starke Wirtschaft kann eine Demokratie stärken, eine schwache Wirtschaft sie nachhaltig erschüttern. Die Geschichte der Weimarer Republik belegt dies exemplarisch. In der Wirtschaft tätige Christen haben daher eine besondere Verantwortung auch für ihr politisches Umfeld. Es war vor diesem Hintergrund nur folgerichtig, dass die EKD nach dem Gemeinsamen Wort und nach der Armutsdenkschrift  im Jahr 2008 sehr bald auch eine Unternehmerdenkschrift  veröffentlicht hat. In dieser Schrift werden Tugenden des Unternehmerstandes (Innovationsbereitschaft, Kreativität, soziale Verantwortung) beim Namen genannt – und ebenso, als mögliche Kehrseite der Tugenden, entsprechende Untugenden bzw. Laster (Gier, Geiz, soziale Verantwortungslosigkeit usw.) aufgeführt.

Inzwischen hat der Rat der EKD mit Blick auf die aktuelle Wirtschafts- und Finanzkrise noch einige weitere, kritisch zu bedenkende Aspekte in die aktuelle Debatte eingebracht.  Die Freiheit im demokratischen Rechtsstaat ist bedroht, wenn das internationale Währungs- und Finanzgefüge Risse aufweist. An diesem Punkt ist die evangelische Kirche abermals herausgefordert, öffentliche Verantwortung wahrzunehmen. Die Erfahrungen der friedlichen Revolution könnten auch in diesem Kontext ermutigend sein.

IV. Die evangelische Kirche als "Kirche der Freiheit"

Freiheit ist immer auch ein religiöses und kirchliches Thema. Die evangelische Kirche versteht sich selbst in der Gegenwart als "Kirche der Freiheit".  Aber das Freiheitsthema war in der Kirche immer präsent. Und manchmal wurde es auch bestimmend für die öffentliche Wahrnehmung der Kirche, trat sichtbar und erkennbar für die Öffentlichkeit in Erscheinung.

Ich denke dabei zum einen exemplarisch an die Barmer Theologische Erklärung, deren 75jähriges Jubiläum wir in diesem Frühjahr feiern durften. In der sechsten Barmer These ist eigens von der Freiheit der Kirche die Rede:

„VI. Der Auftrag der Kirche, in welchem ihre Freiheit gründet, besteht darin, an Christi Statt und also im Dienst seines eigenen Wortes und Werkes durch Predigt und Sakrament die Botschaft von der freien Gnade Gottes auszurichten an alles Volk.“

Vielleicht besteht die wesentliche Leistung der Barmer Theologischen Erklärung darin, dass sie die evangelische Kirche in einer von Unfreiheit gekennzeichneten Umwelt konsequent als eine „Institution der Freiheit“ zu denken vermag. Institution der Freiheit ist die Kirche, weil sie sich dem Staat nicht beugt, der die einzige und totale Ordnung des menschlichen Lebens werden will. Institution der Freiheit ist die Kirche ferner, weil sie zum freien, dankbaren Dienst an den Geschöpfen Gottes beiträgt. Und schließlich ist sie Institution der Freiheit, weil aus ihrem Auftrag selbst die Freiheit erwächst, „... an Christi Statt und also im Dienst seines eigenen Wortes und Werkes durch Predigt und Sakrament die Botschaft von der freien Gnade Gottes auszurichten an alles Volk.“

Ich komme auf ein zweites Beispiel zu sprechen: Im Jahr 1965 fand der 12. Deutsche Evangelische Kirchentag in Köln statt. Seine Losung war dem Galaterbrief entnommen: "In der Freiheit bestehen" (Galater 5,1a). Auf diesem Kirchentag verbanden sich zwei Themen miteinander, die auch heute wieder eng verbunden auftreten: die Freiheits- und die Reformthematik. Auf dem Kölner Kirchentag 1965 war nämlich Kirchenreform eines der großen Themen.

Eines der wichtigsten Referate zur Thematik der Kirchenreform hielt damals in Halle 12 des Messegeländes im Rahmen der Arbeitsgruppe II „Kirchenreform“ am 31. Juli der junge SPD-Politiker, evangelische Christ, künftige Ministerpräsident von Nordrhein-Westfalen und spätere Bundespräsident Johannes Rau (1931-2006). Raus Referat bildete den Abschluss einer dreigliedrigen Veranstaltungsreihe in der Halle 12 des Kölner Messegeländes. Die in diesem Veranstaltungsformat enthaltene Reformperspektive bestimmte das Bild des Kölner Kirchentags so stark, dass die abschließende Bewertung des Gesamtereignisses durch die Frankfurter Allgemeine Zeitung lautete: „ein sich erneuernder Kirchentag in einer sich erneuernden Kirche“.

Johannes Rau plädierte seinerzeit für ebenso mutige wie maßvolle Veränderungen in der Kirche. Er machte unter anderem fünf recht konkrete Reformvorschläge:

Er schlägt erstens vor, das kirchliche Leben auf der Ebene der Region zu stärken. Bisher sei kirchliches Leben vor allem auf der Ebene von Ortsgemeinden anzutreffen. Dies sei aber in der Gegenwart (der sechziger Jahre des vergangenen Jahrhunderts) nicht mehr hinreichend. Es bedürfe vielmehr einer kontrollierten „Regionalisierung“ der Kirche. Ein zweiter Vorschlag von Johannes Rau gilt dem Lebenskreis des Alters. Damit war er seiner Zeit weit voraus, denn in den sechziger Jahren war die heute als so prekär eingeschätzte demographische Situation der bundesdeutschen Gesellschaft noch keineswegs im Blickfeld der Politiker oder kirchenleitender Persönlichkeiten. Ein dritter Vorschlag betrifft die Frage der Funktionsaufteilungen innerhalb der Gemeindeleitungen („Presbyterien“). Rau betont die Notwendigkeit, dass die Gemeindeleitungen verantwortlich und nachprüfbar arbeiten. Dazu gehört, dass jedes einzelne Mitglied des Presbyteriums ein bestimmtes Ressort übernimmt und auf dieser Grundlage fest umrissene Aufgaben zugewiesen erhält. Auch auf das Pfarrerbild bzw. den Pfarrberuf geht Rau ein; diesem Thema ist sein vierter Vorschlag gewidmet. Er zitiert aus einer Diskussionsgruppe des Kirchentages, die Gemeinde wünsche sich heutzutage einen Pfarrer, dem der Heilige Geist gesagt habe, dass er, der Pfarrer, eben nicht über alle Begabungen verfüge, die die Gemeinde brauche. Pfarrer seien nicht allzuständig. Sie sollten sich im Kern ihres amtlichen Wirkens vielmehr für Verkündigung und Seelsorge zuständig fühlen. Der fünfte und letzte Reformvorschlag bezieht sich auf eine Merkwürdigkeit des damaligen kirchlichen Wahlrechts. Dieser Vorschlag bleibt insofern von grundsätzlicher Bedeutung, als er die Frage nach Partizipationsmöglichkeiten in der Kirche aufwirft: Wie ist Beteiligung, wie ist Mitwirkung möglich?

Der Deutsche Evangelische Kirchentag von Köln 1965 fand vor fast einem halben Jahrhundert statt. Das seinerzeit so zentrale Thema „Kirchenreform“ ist lebendig geblieben. Es steht in neuer Prägnanz und Dringlichkeit auf der kirchlichen Agenda. Und immer noch ist es, und das scheint mir sachgemäß und unabweisbar zu sein, mit dem Freiheitsthema fest verbunden. Denn die Kirche der Freiheit und die ecclesia semper reformanda sind zwei Seiten derselben Medaille.

Ich will es bei diesen beiden historischen Beispielen aus dem 20. Jahrhundert (der Barmer Theologischen Erklärung 1934 und dem Kölner Kirchentag 1965) bewenden lassen und mich der Frage zuwenden, welche Bedeutung die friedliche Revolution und ihr Geschenk der Freiheit heute für uns haben kann.

V. Überlegungen zur Gegenwartsbedeutung der friedlichen Revolution

Welche Gegenwartsbedeutung kann die friedliche Revolution für uns heute haben? Wenn sie nicht nur andächtig, museal oder gar verstaubt und in die Jahre gekommen wahrgenommen werden will, was kann dann ihre Botschaft für uns heute sein? Hier muss man sicherlich zunächst einmal unterscheiden. Für unser Land, für unsere Kirche und für jeden Einzelnen von uns mag es sicherlich sehr unterschiedliche Antworten auf diese Frage geben. Deshalb will ich hier keine "ewigen Wahrheiten" formulieren, sondern nur ein paar Anregungen und Denkanstöße in den Raum stellen. Ich tue dies, indem ich zehn Thesen präsentiere.

Erstens: Die friedliche Revolution macht Mut, weil sie zeigt, dass Geschichte gelingen kann.

Der Erfolg der friedlichen Revolution kann uns auch heute noch Mut machen. Denn er zeigt, dass Geschichte auch in schwierigen Situationen gelingen kann. Zwar gibt es in ihr keine Garantie auf "Happy Ends", aber sie kann sehr wohl zu guten und glücklichen Stunden und Tagen führen und ein Volk unverhofft zum glücklichsten Volk der Welt machen.

Zweitens: Die friedliche Revolution zeigt, dass Revolutionen friedlich geschehen können.

Auch Revolutionen, also epochale Veränderungen der Geschichte, ereignen sich manchmal auf friedlichem, gewaltlosem Wege. Fortschritt muss sich somit nicht immer erst den Weg durch Blutvergießen bahnen. Frieden ist möglich. "Keine Gewalt!" kann ein Motto sein, das zur Freiheit führt.

Drittens: Kerzen und Gebete können mächtiger sein als alle Apparate.

Die Kerzen und Gebete der Machtlosen können machtvoller sein als Staatssicherheitsdienste und Militärapparate. Der Geist der Bergpredigt Jesu kann politisch äußerst wirksam sein. Mit unserem Gott können wir "Mauern überwinden", wie das Motto der Ökumenischen FriedensDekade lautet.

Viertens: Die evangelische Kirche hat bei der friedlichen Revolution eine entscheidende Rolle gespielt.

Die evangelische Kirche hat in den entscheidenden Momenten der Jahre 1989/90 eine wichtige, katalysierende und moderierende Rolle gespielt. Zu bestimmten Zeiten, vielleicht sogar gerade in Krisenzeiten, haben viele Menschen offenbar zu den christlichen Kirchen ein nicht zu unterschätzendes Vertrauen. Sie trauen den Christen und Christinnen zu, dass sie Umbruchszeiten behutsam, kompetent und menschenfreundlich mitgestalten können.

Fünftens: Irdische Hoffnungen sind keine Heilsversprechen. Sie müssen realistisch geerdet sein.

Im Rückblick kann uns der Verlauf der friedlichen Revolution aber auch lehren: Vor allzu großen Versprechen und irrealen Hoffnungen sollten wir uns hüten. Weder die eine noch die andere Gesellschaftsordnung bietet uns das "Himmelreich auf Erden". Und blühende Landschaften gibt es weder zum Nulltarif noch gleichsam über Nacht. Was blühen soll, muss wachsen können. Und Wachstum braucht Zeit.

Sechstens: Freiheit muss immer neu empfangen und gewonnen werden. Man muss in ihr bestehen.

Die Freiheit ist nicht ein für allemal gewonnen, sondern muss immer wieder neu empfangen und errungen werden. Das meint die Formel: in der Freiheit bestehen. Ich sage damit ausdrücklich nicht: Man muss die Freiheit vollenden. Das hätte nämlich triumphalistische Konnotationen oder würde den Gedanken an ein mögliches Ende der Geschichte beinhalten; beides kann ich nicht teilen. Insofern bin ich durchaus skeptisch gegenüber Heino Falckes Formel von der "unvollendeten Befreiung", die er schon bald nach der friedlichen Revolution fand.

Siebtens: Als Kirchen treten wir für die Demokratie und damit auch für die politische Freiheit ein.

Als Kirche Jesu Christi sind wir dazu aufgerufen, auch für die politische Freiheit einzutreten. Die EKD und die Deutsche Bischofskonferenz haben sich vor drei Jahren in dem Gemeinsamen Wort "Demokratie braucht Tugenden" (Bonn 2006) nicht nur uneingeschränkt zur Staatsform Demokratie bekannt, sondern auch Wege aufgezeigt, wie unsere Demokratie als Raum der Freiheit zu schützen und weiterzuentwickeln ist. Die damaligen Aussagen sind immer noch aktuell.

Achtens: Freiheit und Verantwortung müssen miteinander verbunden sein und bleiben.

Die aktuelle Wirtschafts- und Finanzkrise zeigt uns, dass die Freiheit nur bestehen kann, wer sie mit Verantwortung verbindet. "Freiheit, die von der Verantwortung entkoppelt ist, zerstört sich am Ende selbst."  Mit Paulus ist somit an die "rechte Freiheit" zu erinnern, die nicht "dem Fleisch Raum " gibt (Galater 5,13), sondern sich selbst an den Maßstab der Nächstenliebe bindet (Galater 5,14). Und im Anschluss an Luthers Auslegung dieser Passage des Galaterbriefes wären "Wachsamkeit und Beharrlichkeit" einzufordern, die die Wahrnehmung der Freiheit begleiten müssen.

Neuntens: Auch innerhalb der Kirche gilt es, in der Freiheit zu bestehen.

Auch innerhalb der Kirche begegnet uns Freiheit als Gabe und als Aufgabe. Die "Kirche der Freiheit" steht vor der Aufgabe einer umfassenden Kirchenreform, drängender und unabweisbarer noch als im Jahr 1965. Die EKD geht diese Aufgabe spätestens seit 2006 in sehr konzentrierter und zielstrebiger Weise an. Die Zukunftswerksatt der EKD, die vor wenigen Tagen (24.-26. September 2009) mit rund 1200 Beteiligten in Kassel stattfand, war dabei ein wesentlicher, Mut machender Schritt.

Zehntens: Weil Gott selbst uns die Freiheit schenkt, haben wir Grund, dankbar zu sein.

Freiheit ist zuerst und zuletzt von Gott selbst geschenkte Freiheit. Wer in der Freiheit bestehen will, muss dies anerkennen. Und er hat deshalb Grund, dankbar zu sein für das Geschenk der Freiheit, das wir empfangen haben durch die friedliche Revolution. Christen und Christinnen sehen in ihr Gott selbst am Werk und richten ihren Dank an ihn, der der Grund ihres Seins und ihrer Freiheit ist.