„Kirche und Zivilgesellschaft“

Wolfgang Huber

Berlin

„Der Beitrag der Kirchen zum Aufbau der Gesellschaft im Serbien des 21. Jahrhunderts"

Ein Gespräch, wie dasjenige, das heute hier geführt wird, ist in sich selbst ein Beitrag zur Zivilgesellschaft. Deswegen bedaure ich selber sehr, dass ich nur an diesem Teil des Gesprächs Teil nehmen kann und will die Gelegenheit zunächst nutzen, Sie sehr herzlich Willkommen zu heißen. Ich bin stolz darauf, dass dieses Gespräch in Berlin stattfindet und bin froh darüber, dass Sie alle hierher gekommen sind und dadurch ein Zeichen dafür setzen, dass der Beitrag der Kirchen zur Zivilgesellschaft notwendigerweise ein grenzüberschreitender Beitrag ist.

Das, was wir als Kirchen zur zivilgesellschaftlichen Entwicklung in Europa leisten können, beruht darauf, dass wir uns als eine grenzüberschreitende Lerngemeinschaft verstehen, dass wir Gelegenheiten wie diese schaffen und nutzen, um aufeinander zu hören, voneinander zu lernen und Beiträge zu leisten dafür, dass die europäische Zivilgesellschaft, die wir brauchen, der Wirklichkeit  näher kommt.

Es gehört zu den großen Überraschungen der letzten zwölf Jahre, dass der Begriff der Zivilgesellschaft zu einem der Schlüsselbegriffe der gesellschaftlichen Orientierung überhaupt geworden ist. Erst angesichts dieser Situation hat man zurückgefragt: „Woher stammt eigentlich dieser Begriff? Welche Tradition prägt sich in ihm aus?“ Und man hat sehr leicht den Weg zurückgefunden bis zur politischen Philosophie der Griechen und damit zu einer Quelle, die das östliche und westliche Christentum miteinander zu verbinden vermag. Die politische Gemeinschaft, die politike koinonia, von der Aristoteles spricht, wurde wiederentdeckt als der Wurzelgrund derjenigen Begriffe, die sich in der westlichen Tradition als societé civile, als civil society, weiterentwickelt haben. Nämlich die Grundauffassung, dass das Miteinander der Menschen darauf beruht, dass sie diesem Miteinander auch eine tragfähige Gestalt geben. Und zwar eine Gestalt, die sie selber prägen, die ihnen nicht einfach nur von außen aufgenötigt wird, eine zivile Gestalt, die nicht einfach aus politischem Zwang oder aus wirtschaftlicher Macht sich erklärt.

In Deutschland haben wir mit dieser Tradition erhebliche Schwierigkeiten. Denn über den Begriff der Zivilgesellschaft hat sich in der deutschen Tradition der Begriff der bürgerlichen Gesellschaft gelegt. Der Philosoph Hegel gilt dafür als Bürge. Und diese Gesellschaft ist so zu sagen eine Stufe in der Organisation des Gemeinwesens zwischen der Familie und anderen Korporationen auf der einen Seite und dem Staat als derjenigen Instanz, die der bürgerlichen Gesellschaft übergeordnet ist, auf der anderen Seite. Dadurch haben wir uns in der deutschen Tradition an eine Verhältnisbestimmung von Gesellschaft und Staat gewöhnt, nach welcher die Gesellschaft die Sphäre der privaten Interessen ist und der Staat der Vertreter des allgemeinen Interesses, des Gemeinwohls. Und es hat sich insbesondere im 19. Jahrhundert in Deutschland die Vorstellung durchgesetzt, der Staat  als Anwalt des Gemeinwohls müsse dieses Gemeinwohl gegen die Gesellschaft als Sphäre der privaten Interessen durchsetzen. Es besteht eine innere Spannung zwischen dem Konzept der Zivilgesellschaft und dem Konzept der bürgerlichen Gesellschaft, wie es sich gerade in Deutschland entwickelt hat.

Der Begriff der Zivilgesellschaft selber ist neu entdeckt worden angesichts der Tatsache, dass eine Zivilgesellschaft fehlte. Das ist das Paradox, das die gegenwärtige Diskussion prägt. Das Konzept der Zivilgesellschaft ist wiederentdeckt worden in der Wendezeit der späten 80er Jahre, als Bürgerrechtsgruppen und andere darauf aufmerksam wurden, dass es in den südost- und mittelosteuropäischen Ländern an einer staatsunabhängigen Öffentlichkeit fehlte, dass der Raum den Menschen und den gesellschaftlichen Korporationen vorenthalten wurde, in dem sie sich selbst organisieren und artikulieren konnten - ein Raum, der  nicht nur ein Raum für den Austausch von Interessen, sondern auch für den Austausch von Ideen ist. Die Kirchen sind auf die eine oder andere Weise in dieser Zeit in eine Stellvertreterfunktion eingerückt für das, was es nicht gab, nämlich eine Zivilgesellschaft.

Für die Kirchen im Osten Deutschlands, in der DDR, kann man diese Entwicklung exemplarisch beschreiben. Die besondere Rolle der Kirchen in der Spätphase der DDR und der anderen osteuropäischen Staaten erklärt sich daraus, dass sie in gewissem Umfang etwas aufrecht erhalten haben, was es nach der offiziellen Staatsdoktrin nicht geben durfte, nämlich einen relativ staatsunabhängigen öffentlichen Raum.

Die Ursache für all das, was unter dem Dach der Kirchen und von den Kirchen ausgehend auf den öffentlichen Plätzen geschah, liegt darin begründet. Und man muss noch heute sagen, dass den Kirchen, die so gehandelt haben, ein großer Dank gebührt für die Rolle, die sie damals gespielt haben. Sie haben damit, genau so wie Bürgerrechtsbewegungen und andere dazu beigetragen, dass eine neue Aufmerksamkeit entstand für die Notwendigkeit einer Zivilgesellschaft, für den Aufbau eines demokratischen Gemeinwesens. Man hat an diesem Vorgang auch gelernt, worin die zentralen Merkmale einer Zivilgesellschaft liegen – nämlich insbesondere in der Achtung der Autonomie der intermediären Institutionen, die vermitteln zwischen der Lebenssituation der Einzelnen und dem Gemeinwesen im Ganzen, in der Kultur der wechselseitigen Anerkennung unter Einschluss einer Kultur der Anerkennung von Minderheiten, und schließlich, im Verhalten der Einzelnen, in Bürgersinn und Eintreten für das Gemeinwohl. Es gibt einen unlöslichen Zusammenhang zwischen Zivilgesellschaft und Zivilcourage.

Wie sieht es mit der Aufgabe der Kirche in dieser Situation aus? Ich beschreibe die Situation auf dem Hintergrund der deutschen Erfahrung und maße mir nicht an, meinerseits etwas sagen zu können über die Situation in Serbien. Bischof Kamphaus hat gesagt, die evangelische Kirche habe es leichter gehabt, sich auf ihre Rolle in der Zivilgesellschaft einzustellen, als die katholische Kirche, weil die evangelische Kirche zum Modernisierungsprozess ein unbefangeneres Verhältnis hatte. Das ist richtig, aber gerade in Deutschland wurde diese Möglichkeit der evangelischen Kirche zu einem erheblichen Maß für lange Zeit dadurch verspielt, dass sich die Kirche selber im Gegenüber zum Staat, und nicht als eine Größe in der Zivilgesellschaft definierte. In dieser Vorstellung, dass der Staat der Gesellschaft als der Sphäre der privaten Interessen gegenübersteht, hat die Kirche mit Selbstverständlichkeit gesagt: „Wir gehören auf die Seite des Staates, nämlich auf die Seite des Gemeinwohls und damit auf die Seite dessen, was für alle in gleicher Weise verbindlich ist“.

Die besondere Form, in der die evangelische Kirche unter dem Vorzeichen eines landesherrlichen Kirchenregiments organisiert existierte, trug das Ihre dazu bei. Wir haben lange gebraucht, und es war durchaus auch ein schmerzlicher Prozess, bis die evangelische Kirche verstanden hat, dass sie ihre öffentliche Aufgabe im Dreieck von Gesellschaft, Staat und Kirche, und nicht nur im Zweierverhältnis des Gegenübers von Staat und Kirche wahrnehmen muss. Manchmal zweifelt ein ungeduldiger Mensch wie ich daran, ob dieser Lernprozess eigentlich schon weit genug gediehen ist. Das gemeinsame Wort der Kirchen zur wirtschaftlichen und sozialen Lage von 1997 war für mein Lesen und Miterleben der Markstein auch für unsere Kirche, hinter den wir nicht mehr zurückkönnen. Dieses Wort hat eindeutig markiert, dass die hier redenden Kirchen, die sich gemeinsam für gesellschaftliche Solidarität und Gerechtigkeit engagieren, ihre Rolle nicht einfach im Gegenüber zum Staat verstehen, sondern als eine unverwechselbare Stimme im Gemeinwesen, in der Zivilgesellschaft. Wenn das so ist, muss diese Kirche aber auf ganz neue Weise ihre Stimme unverwechselbar machen. Es ist spannend, zu erleben, mit welchem Nachdruck auch Menschen, die unsere Kirchen aus einer gewissen Distanz beobachten, uns darauf zu verpflichten versuchen, dass wir dasjenige einbringen, was wir nur als Kirche einbringen können: die Offenheit für die Gegenwart Gottes, die Hoffnung, die aus der Verheißung des Reiches Gottes kommt, und von daher eine Form der Nächstenliebe, die die Zukunft für das Leben des anderen genau so ernst nimmt, wie die eigene Zukunft.

„Darf die Kirche sich einmischen?“, so wird gegenwärtig immer wieder gefragt. Mir haben neulich Menschen in politischer Verantwortung provozierend das Wort Jesu aus dem Johannesevangelium entgegen gehalten: „Mein Reich ist nicht von dieser Welt“. Ich habe ihnen nicht nur zu erklären versucht, was dieses Wort im Johannesevangelium bedeutet, sondern ich habe ihnen auch aus den Erfahrungen der letzten sechs Monate die Themenfelder vorgetragen, in denen sich meine Kirche und ich als Bischof genötigt sahen, sich öffentlich einzumischen. Ich habe die politisch Verantwortlichen gebeten, mir zu sagen, bei welchem dieser Themen wir hätten schweigen sollen. Es gibt eine Tendenz, die Kirchen unter der Überschrift des Übergangs zur Zivilgesellschaft in eine Rolle zu verweisen, die dem Satz folgt: „Religion ist Privatsache“. Und ich habe bei den vorangegangenen Ausführungen gespürt, dass Vergleichbares durchaus auch in Serbien erlebt werden kann. Der europäische Prozess wird von manchen für den Versuch genutzt, jene Vorstellung eines laizistischen Staats auch für Deutschland maßgeblich zu machen, wie sie sich etwa in Frankreich ausgeprägt hat.

Wir spüren, dass die Rolle der Kirchen in der Zivilgesellschaft überhaupt kein sicherer und selbstverständlicher Besitz ist, es ist eine angefochtene Rolle, teilweise durch Orientierungsunsicherheit der Kirche selbst, vor allem aber durch ein Verständnis der Gesellschaft, das meint, auf den Beitrag der Kirche verzichten zu können. Auch die über die christlichen Kirchen hinausgehende religiöse Pluralität, die wir in Deutschland erleben und zu gestalten haben, insbesondere die Präsenz des Islam, wird von manchen so in Anspruch genommen, dass gesagt wird, alle Religionsgemeinschaften sollen in gleicher Weise am öffentlichen Raum Anteil haben. Bassam Tibi sagt beispielsweise, er verstehe den Euro-Islam als einen Islam, der sich auf die Pflege der Religion konzentriert und sich in öffentliche Angelegenheiten nicht einmischt. Er sehe nicht ein, mit welchem Recht sich ein Bischof anmaße, sich zu politischen Fragen überhaupt zu äußern. Man muss deutlich machen, dass und warum das Selbstverständnis einer christlichen Kirche von seinem Kern her den Rückzug von den Fragen der Gesellschaft nicht erlaubt, warum es eine Verweigerung gegenüber dem Gebot der Nächstenliebe wäre, wenn wir die gesellschaftlichen Bedingungen, unter denen Menschen leben, nicht einbeziehen würden, wenn wir gesellschaftliche Ungerechtigkeit, Friedlosigkeit, die Verletzung von Menschenrechten, nicht als Themen akzeptieren würden, die uns herausfordern.

Das Selbstverständnis der Kirche ist auch noch in anderer Hinsicht Wurzel und Quelle ihres Beitrags zur Zivilgesellschaft: Die christliche Kirche versteht sich insgesamt, Bischof Kamphaus hat das mit dem Stichwort der „Laien“ angedeutet, als eine Gemeinschaft der Verschiedenen. Das Bild des Apostels Paulus vom Leib und den vielen Gliedern mit jeweils unverwechselbaren Funktionen ist für mein Verständnis das Urbild dessen, was eine christliche Kirche zur Zivilgesellschaft beizutragen hat, nämlich dass sie in sich selbst gestaltete Pluralität ist, die den Beitrag eines jeden und einer jeden zur Geltung kommen lassen will. Deshalb tritt sie auch in der Gesellschaft für eine partizipatorische Gerechtigkeit ein, für eine Welt, in der die Glieder dieser Gesellschaft einbringen können, was sie einzubringen vermögen. Gestaltete Pluralität gilt dann auch im Verhältnis der Kirchen zueinander. Ökumene als versöhnte Verschiedenheit ist ein Grundmodell, das ausstrahlen kann auch auf die Gestaltung von Pluralität in der Zivilgesellschaft. Wie dringlich die Umsetzung dieses Modells ist, wird uns erst recht deutlich, wenn wir diese Zivilgesellschaft nicht nur als eine nationale, sondern als eine europäische Zivilgesellschaft verstehen. Der Besuch einer Delegation der Konferenz Europäischer Kirchen in Brüssel [bei der Europäischen Kommission] hat uns in der Kürze der Zeit sehr eindringlich gezeigt, dass uns die gestaltete Pluralität geradezu abgefordert wird als derjenige Beitrag, den die europäischen Christen und die europäischen Kirchen leisten sollen, damit Pluralität, Verschiedenheit und das Zusammenleben von Minderheiten in Europa auch politisch gestaltet werden können.

Der Dialog, den wir hier über die Grenzen von Ländern, von früher getrennten Teilen Europas und von unterschiedlichen Konfessionsfamilien hinweg führen, ist in sich selbst ein Beitrag zu der Zivilgesellschaft, zu der wir noch unterwegs sind.