Glauben verstehen - Protestantismus und Theologie

Wolfgang Huber

Hauptvortrag beim 30. Deutschen Evangelischen Kirchentag in Hannover am Donnerstag, dem 26. Mai 2005, um 19.00 Uhr
Halle 16, Messegelände

I. Glauben und Verstehen

„Glauben verstehen“: Dieses Thema lässt aufhorchen. Denn war die Verbindung von Glauben und Verstehen im Protestantismus nicht aus dem Blick geraten?

„Glauben und Verstehen“: Das hatte sich vor einem halben Jahrhundert beispielsweise der große Theologe Rudolf Bultmann auf die Fahnen geschrieben, der als Urheber des Programms der „Entmythologisierung“ bekannt geworden ist. Den Glauben zu verstehen, hieß für ihn: seine Quellen zu deuten und zugleich das Selbstverständnis des Glaubenden zu erhellen. Existenzdeutung und Quellenauslegung vollzogen sich in einem Akt.

Seit den sechziger Jahren wurde es still um dieses Programm. „Glaube und Handeln“ hieß nun das Stichwort. Nicht den Glauben zu verstehen, sondern mit dem Glauben die Welt zu verändern, erschien als die entscheidende Aufgabe. Auch die Kirchentage wurden von dieser Neuorientierung geprägt. Sie standen für einen Glauben, der zur Aktion drängt. Sie forderten ein glaub-würdiges Christentum; und das war ein Christentum der Tat. Ein Nein ohne jedes Ja zu Massenvernichtungsmitteln, eine klare Absage an die Politik der Apartheid, das Eintreten für Gerechtigkeit, Frieden und die Bewahrung der Schöpfung waren die Kristallisationspunkte für dieses Christentum der Tat.

Von dieser Zuwendung des christlichen Glaubens zur Wirklichkeit der Welt ist nichts zurückzunehmen. Auch heute stehen wir für einen Glauben, der seine gesellschaftliche Verantwortung ernst nimmt. Auch die Mächtigen unserer Zeit sollen wissen, dass sie mit den Christen rechnen müssen – und rechnen dürfen. Wenn Mammon zum Götzen wird, duldet das auch heute kein Schweigen. Wenn Arbeitslosen unterstellt wird, sie seien an ihrem Schicksal selber schuld, kann das auch heute keinen Christen ruhig lassen.

Wieso also gerade jetzt das Thema „Glauben verstehen“? Das ist meine erste Frage an diesem Abend. Ich beantworte sie mit einem Blick auf einen neuen Film. „Königreich des Himmels“ heißt er. Es ist der jüngste Film von Ridley Scott, dem Altmeister des großen Hollywoodkinos. Der Film spielt im Hochmittelalter, in der Zeit der Kreuzzüge. Orlando Bloom als Balian und die Kreuzritter kämpfen gegen Saladins arabische Truppen um Jerusalem. Die Wahl des Themas kennzeichnet die geistige Situation unserer Tage. Hollywood funktioniert wieder einmal als Seismograph der Gegenwart.

Der Film  findet eindrückliche Bilder für die Begegnung der Religionen. Beide Seiten, Christen und Muslime, werden in ihrem Kampf um Jerusalem gleichermaßen fair und gefährdet dargestellt. Auf beiden Seiten gibt es Scharfmacher, die den Anderen vernichten, zerschlagen, vertreiben wollen, Hassprediger, die das berechtigte Anliegen des jeweils Anderen nicht verstehen wollen. Aber auf beiden Seiten gibt es auch Menschen, die Versöhnung und Ausgleich suchen.

Eine Schlussszene inszeniert dies eindrücklich: Nach dem für Hollywoodfilme unvermeidlichen Kriegsgetümmel stehen sich die beiden Heerführer am Rande des Schlachtfeldes gegenüber. „Was ist Jerusalem wert?“ fragt der christliche Heerführer sein muslimisches Gegenüber. „Nichts“, antwortet dieser – „und alles“, fügt er verschmitzt hinzu. Die beiden Kontrahenten einigen sich auf freien Abzug der Christen, das Morden hat ein Ende. Aber die heiligen Stätten der Christenheit werden von den Muslimen für christliche Pilger offen gehalten. Für einen kleinen Moment entsteht tatsächlich so etwas wie ein „Königreich des Himmels“, ein Innehalten im Respekt vor einander. Am Ende wenigstens fängt der Film ein Stück des Friedens zwischen den Religionen ein, der bis in unsere Tage hinein oft gesucht und so oft vermisst wird.

Der Film knüpft an eine historische Begebenheit an. Im Jahr 1228 wurde Kaiser Friedrich II., der Enkel des berühmten Kaisers Barbarossa, von Papst Gregor IX. gedrängt, einen neuen Kreuzzug zur Befreiung Jerusalems aus der Hand der Ungläubigen anzuführen. Doch dieser in den islamischen Wissenschaften bewanderte Herrscher beschritt einen für mittelalterliche Verhältnisse sensationellen Weg. Er reiste nach Jerusalem und erreichte durch geschickte Diplomatie für Christen den freien Zugang zu den heiligen Stätten unter dem Schutz der Muslime. Friedrich II. – von der Nachwelt als „stupor mundi“, als „Staunen der Welt“ bezeichnet – brachte mit seinen Verhandlungen mehr zustande als alle drei vorangehenden Kreuzzüge mit ihren Gewalttaten zusammen. Der Papst aber war verstimmt.

Es sind ebenso das Thema wie seine historischen Anklänge, die diesen Film aus Hollywood zum Symbol für unsere Tage werden lassen. Die Begegnung der Religionen steht wieder auf der Tagesordnung. Diese Begegnung nötigt, um im Bild zu bleiben, dazu, sich wieder den Zugang zu den heiligen Stätten zu bahnen. Die Begegnung mit dem Fremden fordert zum Verstehen des Eigenen heraus. Wer Brücken zum andern Ufer bauen will, muss sich darum kümmern, dass der Pfeiler auf der eigenen Seite stabilen Grund hat. Menschen fangen wieder an zu fragen, wo sie zu Hause sind. Auch nach dem eigenen Glauben wird so gefragt. Und dabei merken viele, wie fremd ihnen das ist, wo sie sich doch zu Hause wähnten. „Irgendwie sind wir doch alle christlich geprägt“, sagen sie. Das „Irgendwie“ signalisiert, dass da „irgend etwas“ nicht stimmt. Das Eigene ist unvertraut; dadurch wirkt das Fremde erst recht bedrohlich.

Dabei kann es nicht bleiben. Deshalb machen sich viele auf einen Weg, auf dem ihnen der eigene Glaube wieder zur Lebensgewissheit werden kann. Dazu ist zweierlei erforderlich: dass er geübt und dass er verstanden wird. Dem Geheimnis des Glaubens nähert man sich nur durch Übung, durch Begegnung mit der heiligen Schrift und Gebet, allein und gemeinsam mit anderen. Die Gewissheit des Glaubens kann mein Leben nur bestimmen, wenn sie sich in diesem Leben verwurzelt. Was nicht geübt wird, verliert sich. Wenn das eigene Gebet nicht geübt wird, erscheint es bald als unmöglich. Wenn die Beteiligung am Gottesdienst nicht geübt wird, wirkt dieser Gottesdienst so fremd, dass man diese Erfahrung lieber gleich entzieht.

Doch zugleich muss der Glaube verstanden werden. Wir wollen uns aneignen, was am christlichen Glauben bleibend wichtig ist und wie er auf die Fragen unserer Zeit antwortet. Die evangelische Gestalt des christlichen Glaubens steht in besonderer Weise für verstandenen Glauben. Schon für das Neue Testament bedeutet „zum Glauben kommen“ so viel wie „zur Erkenntnis der Wahrheit kommen“. An diese Wahrheitsverpflichtung knüpft die Reformation an. Deshalb ist sie von Anfang an auf theologische Erkenntnis ausgerichtet. Die reformatorische Bewegung ist von Anfang an eine theologische Bewegung. Wer das reformatorische Erbe bewahren will, braucht vor allem eins: gute Theologie. Deshalb fechten wir als evangelische Kirche für die Freiheit der Theologie und für ihren selbständigen Ort an der Universität. Die Luft der Wissenschaft tut der Theologie gut. Und gute Theologie fördert die Wissenschaft im Ganzen. Universitätspräsidenten und Finanzminister sollten das beherzigen.

Doch diese unlösliche Verbindung von Glauben und Verstehen hat sich oft mit einem großen Missverständnis verbunden. Man dachte nämlich, dem verstandenen Glauben wohne kein Geheimnis mehr inne. „Groß ist das Geheimnis des Glaubens“ – so könne ein Protestant doch gar nicht sagen; dementsprechend war dieser Satz für lange Zeit aus der evangelischen Abendmahlsliturgie verbannt.

So ist es jedoch nicht. Das Verstehen hebt das Geheimnis nicht auf, sondern bringt uns in seine Nähe. Den Glauben zu verstehen, bedeutet, sich seinem inneren Zusammenhang anzunähern. Dass der Glaube uns in unserem Leben ergreift, dass Jesus Christus unser Leben verwandelt, bleibt ein Geheimnis. Wo immer Glaube sich ereignet, ist dies ein Wunder. Aber dieses Wunder drängt auf Verstehen. Wir wollen die Bündigkeit des Glaubens begreifen.

Beim Verstehen des Glaubens geht es nicht anders zu als beim Verstehen eines Menschen. Einen Menschen verstehe ich nicht, wenn ich diese oder jene Tat erklären, diesen oder jenen Satz wiederholen kann. Ich verstehe ihn, wenn ich erfasst habe, was ihn als Person ausmacht; dann kann ich seine Reaktionen einordnen und unter Umständen sogar voraussagen. Meine Sympathie bleibt ihm auch dort erhalten, wo mir manches an ihm rätselhaft ist. Ähnlich ist es mit dem Verstehen des Glaubens. Wenn es mir gelingt, den inneren Kern des christlichen Glaubens zu erfassen, kann ich eigenständig nachvollziehen, was er für die großen Fragen meines Lebens bedeutet. Meine Sympathie für diesen Glauben bleibt auch dort erhalten, wo mir manches an ihm rätselhaft bleibt. Das Verstehen des Glaubens zeigt sich also nicht an der Menge der Glaubenssätze, die ich für mich selbst als richtig anerkenne. Es zeigt sich an der Gewissheit, in der dieser Glaube mein eigenes Leben bestimmt.

Ohne Verstehen gibt es keine Toleranz. Toleranz gehört zu den großen Forderungen unserer Zeit. Wer diese Forderung ernst meint, muss Möglichkeiten zum Verstehen schaffen. Man muss den inneren Kern in den Überzeugungen eines andern begreifen, wenn man wirkliche Toleranz für ihn aufbringen soll. Alles andere ist verschleiertes Desinteresse, nicht wirkliche Toleranz. Im Feld der Religionen gibt es wirkliche Toleranz nur auf der Grundlage gelebter Religion. Denn Religion ist ohne Religiosität nicht zu verstehen. Das hat Auswirkungen bis hin zum Religionsunterricht. Wenn er dem Verstehen von Religion dienen soll, sind Lehrerinnen und Lehrer vonnöten, denen Religion selber wichtig ist. Deshalb ist es ein Irrweg, wenn in meiner Heimatstadt Berlin jetzt ein staatliches Pflichtfach für alle eingeführt werden soll, das dem interreligiösen Lernen so dienen will, dass alle Religionen aus dem gleichen Abstand betrachtet werden. So entsteht kein wirkliches Verstehen. So bildet sich keine wirkliche Toleranz. Beides aber brauchen wir. Deshalb finden wir uns als Kirchen mit den Berliner Plänen nicht ab.

Die Frage nach „Glauben und Verstehen“ meldet sich neu. Wir leben in einer veränderten Situation. Sie ist bestimmt durch die Wiederkehr der Religion. Angesichts dieser Wiederkehr merken wir, dass der eigene Glaube seine Selbstverständlichkeit verloren hat. Deshalb müssen wir ihn neu verstehen. Aber auch die uns fremde Religion will verstanden sein. Was wir über die Grenzen der Religionen und Kulturen hinweg gemeinsam tun können, wissen wir erst dann, wenn wir einander besser verstehen. Die Zeit, in der „Glaube und Handeln“ an die Stelle von „Glaube und Verstehen“ treten konnte, ist vorbei. Heute gehört beides zusammen. Ich sehe darin eine große Chance.

Dieser Chance will ich mich so annähern, dass ich in einem nächsten Schritt die Wiederkehr des Religiösen in unsere moderne Welt zum Thema mache. Dann will ich überlegen, warum in unserem persönlichen Leben die Glaubensfrage eine neue Rolle spielt und wie die evangelische Antwort auf diese Frage aussieht. Grundlinien für ein erneuertes protestantisches Selbstbewusstsein stelle ich an den Schluss.


II. Die Wiederkehr der Religion

Es gibt kaum einen kulturellen oder gesellschaftlichen Bereich, in dem man nicht Zeichen für eine Wiederkehr des Religiösen beobachten kann.

Gemessen an gängigen Urteilen ist das selbst schon eine Sensation. Über Jahrzehnte war es in unserer Gesellschaft eine Art „säkularer Glaubenssatz“, dass Glaube und Religion ihre Zeit gehabt hätten. Die Abgesänge auf das Christentum und auf die Religionen insgesamt waren nicht zu überhören.

Aber die so genannten Groß- oder Metaerzählungen der Neuzeit, die das Ende des Christentums ankündigen oder nachweisen wollten, beherrschen die geistige Szenerie nicht mehr. Ob Sie nun an den neuzeitlichen Fortschrittsoptimismus denken mit seiner These, mit der Zeit würden Gott und Glauben schlicht überflüssig werden, oder an den Anspruch der Wissenschaften, die Welt auch ohne die Hypothese „Gott“ erklären zu können: inzwischen ist die Fraglichkeit der einen wie der anderen Position offenkundig geworden. Ob Sie sich an die Utopie einer klassenlosen Gesellschaft erinnern und an ihre Voraussage, die Religion als „Opium des Volkes“ werde sich von allein erledigen, wenn denn nur die Verhältnisse gerecht geworden seien, oder ob Sie an die pseudowissenschaftlich-darwinistische Weltanschauung der Nazi-Zeit denken mit ihrem Ziel, nicht nur das Judentum auszurotten, sondern auch den schwächlichen Geist des Christentums: solche totalitären Ideologien haben sich selbst widerlegt. Auf andere Weise ist es auch um die Großerzählung des Projektes Aufklärung still geworden; denn auch eine sich selbst überlassene Vernunft, eine ohne Wertebindung existierende Rationalität überschreitet die Grenzen ihrer Zuständigkeit, wenn sie sich selbst absolut setzt.

Dieses Ende der Meta- oder Großerzählungen, welches die Philosophie der Postmoderne beschrieben hat, trifft natürlich, wiederum auf besondere Weise, auch die christliche Großerzählung; denn auch Gott und Glaube, Jenseits und Hoffnung gelten nicht mehr allgemein als plausibel. Der christliche Glaube hat gerade in der europäischen Entwicklung der letzten zwei Jahrhunderte seine Selbstverständlichkeit eingebüßt. Zwar wird inzwischen wieder verstärkt nach der Verwurzelung unserer Kultur in der jüdisch-christlichen Tradition gefragt. Aber dazu, diese Verwurzelung in einer europäischen Verfassung auch zu benennen, sind wir noch nicht im Stande. Zwar merken wir, dass menschliche Verantwortung ihre Grenzen anerkennen muss und deshalb Verantwortung vor Gott und den Menschen ist. Aber in der Präambel einer europäischen Verfassung hat das noch keinen Platz. Bei aller grundsätzlichen Zustimmung zur Europäischen Verfassung ist das eigentlich beschämend.

Manchen Zeitgenossen möchte man gern zurufen: „Völker, hört die Signale – einer religiösen Erneuerung“; denn zugleich – und dies beschreibt die innere Spannung unserer Zeit – erleben wir eine neue Zuwendung zur Religion.

Die Belege für diese Wahrnehmung beginne ich ganz bewusst nicht mit dem 11. September 2001 oder dem Anschlag in Madrid am 11. März 2004; denn diese Hinweise rücken alle Religionen, nicht nur den Islam, in ein schiefes, militantes Licht, das keiner Weltreligion gerecht wird. Die meisten Anhänger aller Weltreligionen auf unserer Erde sind friedlich gesinnt; die Wiederkehr der Religionen ist darum zuerst kein Sicherheitsproblem, sondern ein Gewissheitsproblem! Natürlich verbinden sich auch – wie in dem Hollywoodfilm von Ridley Scott gezeigt wird – Gewalt und Fundamentalismus mit der Wiederkehr der Religionen. Sich von solchem religiösen Fanatismus zu distanzieren, ist eine Grundpflicht aller. Aber es ist eine unzutreffende These selbsternannter Säkularisierungspäpste, wenn allein diese gewaltsame Seite der Religion als Kennzeichen ihrer Wiederkehr ausgegeben wird.

Ins Zentrum dieses Phänomens stoßen wir vor, wenn wir auf die Signale für eine Wiederkehr der Religion in der Sphäre der Kultur und der gelebten Frömmigkeit achten. Wer hätte vorausgesagt, dass es im Jahre 2005 in Deutschland eine Theaterlandschaft gibt, die sich auf Glaubensfragen konzentriert? Bücher mit religiösen Themen erreichen Spitzenplätze auf Bestsellerlisten und werden mit Preisen ausgezeichnet. Die „Neue Deutsche Welle“ in der Musik, so sagen mir Kundige, wendet sich den Themen von Glauben und Vertrauen, von Halt und Sinn zu. Ein rein populär ausgerichteter privater Fernsehkanal wie VOX thematisiert die Frage, wie man in Würde und Anstand mit Tod und Abschied umgeht.

Auch aus der Politik kommen vergleichbare Signale. Bundespräsident Horst Köhler beendete die Ansprache nach seiner Wahl mit den Worten: „Gott segne unser Land“. Das gab es in Deutschland noch nie. Zum sechzigsten Jahrestag des 8. Mai 1945 erbaten die Präsidenten des Bundesrats und des Bundestags von den Kirchen einen ökumenischen Gottesdienst. Auch das ist in dieser Form neu. Und dass nicht nur die mediale, sondern auch die politische Aufmerksamkeit für den Tod von Papst Johannes Paul II. und die Wahl Benedikts XVI. den Rahmen des bisher Bekannten sprengte, ist mit Händen zu greifen.

Es entsteht ein neues Gespür dafür, dass ein komplett diesseitiges, rein wirtschaftstaumeliges und radikal konsumzentriertes Leben zu banal, zu äußerlich und zu oberflächlich ist. Je unerbittlicher die europäische Welt auf die globalisierte Wirtschaft ausgerichtet wird, je strikter Markt und Finanzkraft, Lohnnebenkosten und Konkurrenzkampf das Leben aller bestimmen sollen, desto stärker wird nach Gegenkräften gefragt. Die meisten spüren, dass Konsum allein nicht Halt gibt, dass Wirtschaft allein nicht Sinn schenkt, dass Funktionieren allein nicht Bedeutung verleiht. Mit der Rückkehr der Religionen rebelliert die Seele der Menschen gegen ihre kommerzielle Reduktion.

Kritiklos kann diese Wiederkehr der Religion nicht hingenommen werden. Allzu triumphale Töne machen für die eigenen Fehler blind. Religion, die nur vertröstet, stellt den prophetischen Impuls der biblischen Botschaft still. Religion, die das Bündnis mit der Aufklärung aufkündigt, verweigert sich einem kritischen Wahrheitsanspruch. Fanatismus und Gewaltbereitschaft, die sich der wiederkehrenden Religion bedienen, fordern Widerspruch heraus.

Aber dazu, dass wir uns gerade in einer solchen Situation als Kirchen auf der Verliererstraße sehen, besteht überhaupt kein Anlass. Die Umgestaltungsaufgaben, die wir in unserer Kirche gegenwärtig zu bewältigen haben, sind kein Grund zu Kleingeist und Kleinmut. Auch wenn wir unter finanziellem Druck von manchem Abschied nehmen müssen, was uns wichtig und vertraut ist, erleben wir doch auch in unseren Kirchen eine Wiederkehr der Religion, eine Rückkehr der Frömmigkeit, einen Aufbruch zu neuen Ufern.

Darauf zu achten, ist heute vordringlich. Deshalb dürfen wir uns nicht in all den Finanz- und Strukturfragen verlieren, die sich so gerne wichtig machen. Schauen wir lieber auf das, was wächst und wird, was neu entsteht und lebendig ist. Und entwickeln wir Zutrauen zu den neuen und überraschenden Wegen, auf denen das geschieht.

Es gibt Gemeinden, die herrlich wachsen, in denen Kinder sich tummeln, in denen Familien gerne ein- und ausgehen und in denen die Senioren dazugehören wollen, weil sie dort nicht älter gemacht werden, als sie sich fühlen. Es gibt viele Pfarrerinnen und Pfarrer, die ihren Beruf mit Liebe zum Menschen ausfüllen, Kirchenmusikerinnen und Kirchenmusiker, denen man gebannt zuhört, Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in der Diakonie, auf die man stolz sein kann. Vielerorts entstehen neue missionarische Initiativen. Unsere eindrücklichen Kirchenräume werden neu gewürdigt; es bilden sich Fördervereine, die sie erhalten wollen. Kirchenpädagogische Initiativen bereichern das kirchliche Bildungsangebot. Wiedereintrittsstellen bieten Gespräche und Informationen an. Kirchliche Jugendfestivals  lösen mit ihrer Frische und Dichte nachhaltige Wirkungen aus. In den großen Städten entstehen Netzwerke, die einzelne Kirchen mit besonderem Profil unterstützen und sich gemeinsam der drängenden sozialen Aufgaben annehmen. Auf dem Lande finden sich kräftige Gemeinden, die wie Leuchttürme mitten im Dorf stehen. Neue Erlebnis- und Erfahrungsräume entstehen wie die „Lange Nacht der Kirchen“, zu der wir am Sonnabend dieses Kirchentags eingeladen sind – eine Idee, die sich innerhalb weniger Jahre in ganz Deutschland ausgebreitet hat. „Advent ist im Dezember“ heißt eine EKD-weite Aktion, die ein neues Bewusstsein für die Bedeutung der christlichen Feiertage befördert. Neue Initiativen sozialer Zuwendung wie missionarischer Präsenz, beispielsweise das Zentrum Lehrter Straße in Berlin, finden den Weg zu den Menschen, die „ganz unten“ sind, dort aber nicht allein bleiben sollen.

Zu all dem gibt es auch Gegenbeispiele, ich weiß. Aber niemand hat uns Evangelische dazu verpflichtet, immer nur Sorgenfalten im Talar zu tragen und in negative Beispiele verliebt zu sein. Der deutsche Protestantismus ist nicht erschöpft, sondern er lebt! Er wandelt sich, er zieht aus mancher vertrauten Wohnung aus und benutzt auch wieder einfachere Zelte und Unterstände. Das belastet und macht auch Kummer. Aber wir haben keinen Grund, Trübsal zu blasen. Es gibt eine heilsame Wiederkehr des Religiösen in unseren Kirchen. Dass wir keinen unkritischen „Produktstolz“ entwickeln, versteht sich ja für Evangelische von selbst. Aber ein aufrichtiges Selbstbewusstsein in eigener Sache ist an der Zeit. Wir haben nämlich kein Recht dazu, die „Marke evangelisch“ schlecht zu reden. Wir verfehlen unseren Auftrag, wenn wir es nach der Selbstsäkularisierung auch noch zu einer Selbstdemoralisierung kommen lassen. Zu den vordringlichen „Hausaufgaben“ gehört deshalb auch die Erneuerung unseres Verhältnisses zur eigenen Kirche. Protestanten verwechseln leicht die nötige Kritik an der Kirche mit einer Abwertung der eigenen Kirche. Viele unter uns reden von der eigenen Kirche sehr viel schlechter, als sie es verdient. Aber wie wollen wir eigentlich Menschen motivieren, in unserer Kirche mitzumachen, wenn wir sie selbst schlecht reden? Wen soll das überzeugen? Kritik an der Kirche ist nötig – nicht damit sie madig gemacht, sondern damit sie besser gemacht wird. Deshalb muss in solcher Kritik immer die Liebe zur Kirche erkennbar sein. Zugleich sollten wir uns unbefangen an dem freuen, was in der Kirche gelingt und was wir an ihr nicht missen möchten. Unsere Kirche braucht und verdient Menschen, die zu ihr halten, die gut von ihr reden, die sie mittragen und mitgestalten.

Dafür brauchen wir vor allem eines, nämlich die Orientierung an der Mitte des eigenen Auftrags, das Eintauchen in das Zentrum des Glaubens. Uns selbst müssen wir den Geist zusagen lassen, den wir dann auch mit anderen teilen wollen. Von ihm sagt das Neue Testament: „Gott hat uns nicht gegeben den Geist der Furcht, sondern der Kraft und der Liebe und der Besonnenheit“ (2 Timotheus 1, 7). Oder mit den Worten des Psalmisten: „Mit meinem Gott kann ich über Mauern springen“ (Psalm 18,30).


 
III. Glaube als Vertrauen

Auf die Wiederkehr der Religion können wir nur aus dem Kern des christlichen Glaubens antworten. Aber worin besteht dieser Kern? Glaube ist in seinem Kern Vertrauen. Er hat es damit zu tun, dass wir in unserem Leben nicht nur auf die eigene Kraft bauen, sondern unseren Ort in der Welt wie unser persönliches Leben als Gabe empfangen. Glaube ist Vertrauen, weil er sich auf Gott richtet, der sich uns in Jesus Christus liebend zuwendet, bevor er etwas von uns fordert. Dieses Vertrauen bestärkt uns darin, mit unserer Gegenwart im Licht der Hoffnung umzugehen und uns die Zukunftsgewissheit nicht durch widrige Umstände aus der Hand schlagen zu lassen. Und schließlich enthält dieses Vertrauen die Kraft zur Umkehr aus den Todesverhängnissen unserer Zeit, aus den Sackgassen unseres Lebens, aus den Haltlosigkeiten der persönlichen Biographie. Schöpfung, Liebe, Hoffnung und Umkehr: so lassen sich die vier zentralen Motive eines Glaubens beschreiben, der in seinem Kern Vertrauen ist. Viele bezeugen es, dass dieses Vertrauen ihnen einen neuen Anfang möglich gemacht hat.

Dass Glaube in seinem Kern Vertrauen ist, entdecken wir in einer Situation, die durch nichts so sehr geprägt ist wie durch gestörtes Vertrauen. Die Erosion des Vertrauens nistet sich in unseren Seelen ein, wie sie auch unsere ganze Gesellschaft durchzieht. Misstrauen entwickeln wir nicht nur gegen die Verhältnisse um uns her. Misstrauen weckt nicht nur eine Welt, in der Gewinninteressen wichtiger sind als ethische Verantwortung, Einschaltquoten wichtiger als die Wahrheit, Machterhalt wichtiger als der moralische Grundkonsens. Die Erosion des Vertrauens vollzieht sich zugleich auf biographischer Ebene.

Das Selbstvertrauen vieler Menschen ist in Frage gestellt. Wie sollen sie Vertrauen in sich und ihre Kräfte entwickeln, wenn sie keine Arbeit haben? Wie sollen junge Menschen Vertrauen entwickeln, wenn ihnen von der vorangehenden Generation kollektiv Schulden für einen Lebensstil aufgehalst werden, den sie selbst kaum werden erreichen können? Wie soll Vertrauen wachsen in einer Gesellschaft, in der die Hoffnung auf Glück nicht mehr am Aufwachsen von Kindern erkennbar sein soll, sondern nur am beruflichen Erfolg oder am materiellen Konsum, am kurzfristigen Erleben oder an haltloser Vordergründigkeit? Dabei wissen wir im Grunde genau, dass all das kein Ersatz ist für ein Vertrauen, aus dem eine Zukunftsgewissheit wächst, mit der wir leben können.

Deshalb ist es so wichtig, im Vertrauen ein Grundwort christlicher Existenz neu zu entdecken. Wenn Jesus die niedergedrückten Menschen, auf die er traf, wieder aufrichtete, so war das Entscheidende das Vertrauen, das er in ihnen wachrief: „Dein Glaube hat dir geholfen; geh hin in Frieden“ (Lukas 7, 50). Der Glaube, den er den Menschen zusprach, ist in seinem Kern Vertrauen. Jesus weckte das elementare Zutrauen dazu, dass Gott für das Leben Gutes will. Gewiss ist das Gute nicht immer identisch mit dem Erwarteten. Aber der Blick auf das Gute, das Gott will, macht frei für die Zukunft. Biblisches Vertrauen ist in seinem Kern Gottvertrauen, nicht Vertrauen auf das eigene Selbst.

Darum besteht der erste und wichtigste Beitrag, den wir als Kirche zum Gedeihen des Vertrauens in unserer Welt leisten können, in der Stärkung des Gottvertrauens. Wir belassen es nicht dabei, den Verlust an Vertrauen zu beklagen und die Vorgänge zu benennen, die zur Erosion des Vertrauens beitragen – obwohl auch das immer wieder nötig ist, ohne falsche Scheu und Zurückhaltung. Doch Klage und Anklage allein schaffen noch kein Vertrauen. Sie zeigen im günstigsten Fall, warum es fehlt. Stärkung des Gottvertrauens aber geschieht in der Stärkung gelebten Glaubens, in gottesdienstlichen Feiern, sei es vor Ort in den Gemeinden, sei es in der großen ermutigenden Gemeinschaft eines Kirchentags.

Wenn wir unseren Glauben als Vertrauen zu Gott leben, können wir auch das Vertrauen um uns her erneuern. Wir können Vertrauen erneuern, indem wir von unserer Freiheit einen verantwortlichen Gebrauch machen und den Wahn beenden, dass Genuss auf Kosten anderer die höchste Form der Freiheit sei. Wir können Vertrauen erneuern, indem wir Solidarität unter denen und mit denen üben, die zu Opfern einer gesellschaftlichen Umverteilung von unten nach oben werden. Wir können Vertrauen erneuern, indem wir im menschlichen Miteinander verlässlich sind. Vertrauen wächst, wenn wir gegebene Versprechen in den persönlichen Lebensbeziehungen von Ehe und Familie ernst nehmen und uns um eine Atmosphäre bemühen, in der die Freude an Kindern und die Bereitschaft, für sie Verantwortung zu übernehmen, wieder wachsen. Denn Vertrauen in die Zukunft ist immer Vertrauen in die nächste Generation. Wir können dem Glauben einen Ort im eigenen Leben wie in unserer Gesellschaft geben, indem wir zeigen: Gottvertrauen, Vertrauen in unsere Mitmenschen und Selbstvertrauen gehören zusammen.


IV. Glauben verstehen  - drei Grundlinien protestantischen Selbstbewusstseins

Aus evangelischer Perspektive gibt es auf die Sehnsucht nach Vertrauen wie auf die Wiederkehr der Religion eine einfache Antwort. Sie liegt in der bewussten Zuwendung zum Kern evangelischen Glaubens. Das ist keine Rückwendung, sondern ein Schritt nach vorn. Es ist kein restauratives Programm, sondern ein Programm des Aufbruchs. Drei Dimensionen dieses Programms will ich ansprechen: das Ja zu guter protestantischer Theologie, das Ja zu gelebter Frömmigkeit und das Ja zu einer selbstbewussten evangelischen Kirche.

An den Beginn stelle ich die Bejahung guter protestantischer Theologie. Worin besteht ihr Kern? Ich nehme noch einmal eine Filmszene zu Hilfe. In Eric Tills erfolgreichem Luther-Film Film findet sich eine Szene, die den Kern der reformatorischen Einsicht veranschaulicht: Der junge Mönch Martin Luther beerdigt einen Selbstmörder und predigt einer ängstlichen Gemeinde aus Totengräbern und zufälligen Zuhörern von Gottes unendlicher Barmherzigkeit, die größer ist als all unser weltliches Urteilen. Dieses knappe Bild veranschaulicht den entscheidenden reformatorischen Durchbruch, der zur Triebfeder für den Aufbruch in die Moderne wurde. Jedem Menschen wird von Gott eine ebenso unverdiente wie unantastbare Würde zugesprochen.

Die Reformation erkennt dem menschlichen Selbst einen ganz neuen Rang zu, weil sie die Würde des einzelnen in der Beziehung zu Gott wurzeln lässt und nicht in den Leistungen des Menschen, seinem Stand, seiner Herkunft, seiner Rasse oder seiner Nation. Die Aufhebung des religiösen Leistungsgedankens entzieht der positiven Bewertung von Leistungen keineswegs den Boden; aber sie misst sie mit menschlichem Maß. Es geht in diesen Leistungen um den verantwortlichen Umgang mit den Gaben, die einem anvertraut sind. Es geht nicht um die Seligkeit. Aus der uns anvertrauten Würde leben wir; wir stellen sie nicht selber her. In dieser unantastbaren Würde des Menschen sind die Gewissensfreiheit und der Glaubensmut verankert, für welche die Reformation ein unvergessliches Symbol geschaffen hat, nämlich Martin Luthers Auftreten auf dem Reichstag in Worms 1521, als er sich vor Kaiser und Reich zur freien Erkenntnis des Glaubens nach bestem Wissen und Gewissen bekennt:  Hier stehe ich, ich kann nicht anders. Gott helfe mir. Amen.

Die reformatorische Wiederentdeckung der zentralen biblischen Botschaft ist oft in dem vierfachen Allein gebündelt worden: allein Christus, allein die Schrift, allein die Gnade, allein aus Glauben. Immer wieder hat protestantische Theologie sich neu um eine solche Konzentration bemüht. Mit besonderer Klarheit und orientierender Standhaftigkeit tat dies die Bekennende Kirche, die in der Barmer Theologischen Erklärung von 1934 jene reformatorische Erkenntnis neu zur Sprache gebracht hat. Sie hat damit den einen, zentralen Glutkern der reformatorischen Erkenntnis freigelegt und neu formuliert.

Allein Christus  bekennen wir als das Wort Gottes, „das wir (wie es im Barmer Bekenntnis heißt) zu hören, dem wir im Leben und im Sterben zu vertrauen und zu gehorchen haben.“ Allein die Schrift erkennen wir als Erkenntnisquelle von Gottes Offenbarung an. Allein die Gnade betont Gottes Barmherzigkeit als die Mitte unseres Glaubens – mit der Folge, um wieder Barmen zu zitieren, dass „die Botschaft von Gottes freier Gnade auszurichten ist an alles Volk.“ Allein aus Glauben verweist auf die Würde und Unverwechselbarkeit jedes Menschen, den Gott als sein Ebenbild anredet und dem er die Fähigkeit verleiht, auf diese Anrede zu antworten. In diesem vierfachen Allein haben wir es bis heute mit einer Mitte, einem Kern, einer Glut zu tun, die vielleicht unter mancher Asche verborgen ist, die aber nach wie vor ein beträchtliches Feuer zu entfachen vermag.

Freimütig und deutlich sage ich: Mir fehlt das Verständnis, wenn evangelische Theologen, die als Universitätsprofessoren das Verstehen des Glaubens zum Beruf haben,  oder auch in den Medien tätige Kollegen uns als evangelischer Kirche raten, diese theologischen Schwergewichte in den Einsichten der Väter und Mütter zu Fliege(n)gewichten zu machen. Sie meinen, möglichst mundgerecht zu reden, wenn sie alle vermeintlich sperrigen Glaubensaussagen aufgeben. Nach ihrer Auffassung genügt es, die religiöse Landschaft zu beobachten und nur noch das zu sagen, was sich von selbst versteht und was sich deshalb auch jeder selbst sagen kann.

Dem will ich die Warnung von Søren Kierkegaard entgegenhalten, wer sich mit dem Zeitgeist verheirate, finde sich schnell als Witwer vor. Es ist ein großes Missverständnis,  wenn man aus Martin Luthers Rat, den Leuten aufs Maul zu schauen, schließt, man solle ihnen nach dem Munde reden. Gegen ein schlichtes Anschmiegen an den Zeitgeist sind dem Protestantismus zwei Widerlager mitgegeben: die Bindung an die biblische Botschaft und die Verpflichtung auf gute Theologie. Die Qualität des Glaubenswissens wie die Qualität gefeierter Gottesdienste sind evangelische Markenzeichen, deren verpflichtende Bedeutung wir heute neu entdecken. Ich bin davon überzeugt, dass Menschen heute nicht allgemeine religiöse Sätze, nicht generelle Richtigkeiten oder banale Selbstverständlichkeiten allgemeinreligiöser Art suchen, sondern geistliche Tiefe, spirituellen Gehalt und theologische Klarheit.

Neben einer profilierten protestantischen Theologie gibt es ein zweites Stichwort, das uns hilft, auf die Wiederkehr der Religionen zu antworten; ich meine die Stärkung eines persönlichen, innigen Glaubens. Manche von uns haben diese Dimension lange vernachlässigt, weil wir den Glauben so stark mit dem Handeln verknüpft haben. Die öffentliche Meinung hat uns darin bestärkt: Diakonische Werke finden mehr Anklang als Gottesdienste, soziales Engagement ist beliebter als Beten. Aber diese Verengung haben wir verinnerlicht und angenommen, dass sich am Handeln die „Glaubwürdigkeit“ unserer Gottesbeziehung ablesen lasse. Darüber haben wir bisweilen verlernt, in Gott zu ruhen, in seiner Liebe einzukehren und seine Gegenwart zu erahnen. Nun aber fangen viele wieder an, dem Einkehren in Gottes Licht, dem Heimkehren in seinen Geist, dem Staunen vor seinem Geheimnis Raum zu geben. Gute Theologie kann dabei helfen, dass diese neue Spiritualität eine klare biblische Orientierung behält und dass christliche Existenz in ihrer Gänze gesehen wird: in der Einheit von Beten und Tun des Gerechten, wie Dietrich Bonhoeffer auf unüberholte Weise gesagt hat.

Er hat damit an eine alte Tradition angeknüpft: an die Einheit von Aktion und Kontemplation, von Beten und Arbeiten. Diese Tradition hat – bis hin zu kommunitären Lebensformen – auch in der evangelischen Kirche Heimatrecht. Die reformatorische Frage nach dem guten Baum, der allein gute Früchte bringt, gewinnt neue Aktualität. Die Väter und Mütter im Glauben haben immer wieder daran erinnert, dass bei einem guten Baum nicht zuerst die Früchte des Handelns und Tuns gefragt sind, sondern die Wurzeln des Hörens, des Einfindens, des Schweigens, Betens, Staunens und Singens. Nach meiner Überzeugung sollte es nicht länger als „typisch protestantisch“ gelten, dass wir das Innenleben des Glaubens, die spirituelle Landschaft im Herzen, die geistige Tiefe in der Seele vernachlässigen. Vielmehr werden wir gerade aus solcher geistigen Tiefe und theologischen Klarheit, aus dem Miteinander von theologischem Profil und spiritueller Dichte heraus auch in unseren Taten, in unserem Sagen und in unserem Trösten zu Tiefe und Klarheit kommen.

Solche Tiefe und Klarheit gewinnen wir nämlich gerade dann, wenn wir erkennen, dass unser eigenes, großes Ich nicht der Mittelpunkt der Welt ist. Wir können dann all den bedrängten, weinenden, verzweifelten Menschen, die unsere Welt trotz aller sozialen und diakonischen Anstrengung weiter kennen wird, zusagen und verheißen, dass der Glanz Gottes dem Kummer, dem Dunkeln, dem Abgründigen und Bösen nicht das letzte Wort lässt. Sollen denn die Bedrängten, Vernachlässigten, Einsamen und Gequälten nicht nur in dieser Welt verlieren, wie es ja leider oft genug geschieht, sondern auch noch in jener Welt, aus der wir kommen, zu der wir gehen, und deren Frieden die Herzen trösten kann?

Ich bin davon überzeugt, dass neben kritischer Aufklärung und dialogischer Toleranz, neben sozialem Engagement und diakonischem Tun auch eine gereifte Innerlichkeit, auch eine an Bibel und Bekenntnis orientierte Sehnsucht nach einem Ankommen bei Gott eines der kräftigsten Widerstandsnester ist gegen allen religiösen Terrorismus und Fundamentalismus.

Das dritte Stichwort für eine angemessene evangelische Reaktion auf die Wiederkehr des Religiösen heißt für mich „selbstbewusste evangelische Kirche“. Für dieses Stichwort knüpfe ich an den zentralen Satz der biblischen Pfingsterzählung an. Dort wird berichtet, dass Menschen aus den unterschiedlichsten Gegenden der damals bekannten Welt sagen konnten: „Wir hörten sie in unseren Sprachen von den großen Taten Gottes reden“ (Apostelgeschichte 2,11). Das Pfingstwunder besteht darin, dass Menschen von den großen Taten Gottes in der je eigenen Sprache hören. Darin liegt das Gegenbild zur Geschichte vom Turmbau zu Babel, wo am Schluss keiner mehr die Sprache des Anderen verstanden hat (1. Mose 11,7). Der Geist Gottes aber ermöglicht, dass die Taten Gottes in den verschiedenen Sprachen gehört werden können.

Für diese pfingstliche Möglichkeit stehen die Kirchen der Reformation in besonderer Weise ein. Denn nach der endgültigen Teilung der Christenheit in eine Ost- und eine Westkirche im Jahr 1054 bestand für ein halbes Jahrtausend im Westen jedenfalls dem Anspruch nach eine Einheitskirche. Sie wurde durch die Reformation aufgebrochen. Luther wollte zwar die eine heilige, allgemeine und apostolische Kirche reformieren. Aber seine reformatorische Zuwendung zum Ursprung der Kirche bewirkte, dass die Kirche sich zugleich ihrer bis dahin verdeckten Pluralität bewusst wurde. Die Übersetzung der Heiligen Schrift und ihre Auslegung in der Landessprache wurden deshalb zu herausgehobenen Kennzeichen der Reformation.

Reformatorische Theologie unterscheidet die eine geglaubte Kirche Jesu Christi als Grund jeder Kirche klar und unzweideutig von den verschiedenen historischen Gestaltungen der Kirche. Aus diesem Grund darf die Kirche in ihrer konkreten historischen Gestalt sich nicht zwischen Gott und den einzelnen Menschen drängen. Die Kirche dient dem Glauben der Menschen; gerade darin ist sie „Kirche für andere“. Der gemeinsame Grundsatz aller christlichen Kirchen muss deshalb heißen: Dominus Iesus – Herr ist Jesus. Er darf nicht heißen: Domina Ecclesia – Herrin ist die Kirche. Die Kirchen der Reformation sind für die Ökumene deshalb unentbehrlich, weil sie beharrlich auf diese dienende Funktion der Kirche hinweisen. Dieser ökumenische Beitrag der reformatorischen Kirchen ist auch in dem Zwei-Päpste-Jahr 2005 von unübersehbarer Notwendigkeit.

Die evangelische Kirche ist eine Gestalt und Konkretion der einen, heiligen, allgemeinen und apostolischen Kirche wie andere Kirchen auch. Wir haben Anteil an der gesamten Geschichte der Christenheit, nicht nur an den letzten fünfhundert Jahren. Unsere Grundtexte stehen in der Bibel; die frühesten Summarien unseres evangelischen Glaubens sind die altkirchlichen Glaubensbekenntnisse. Die Geschichte der frühen wie der mittelalterlichen Christenheit ist auch unsere Geschichte. Die Geschichte der Reformationskirchen beginnt also zur gleichen Zeit wie diejenige der katholischen und der orthodoxen Kirchen. Wir haben keinen Grund, uns für eine verspätete Kirche zu halten.

So betrachten wir auch mit gelassenem Selbstbewusstsein die besonderen Ereignisse der letzten Wochen in der katholischen Schwesterkirche. Wir wollen es auch in dieser Hinsicht mit Paul Gerhardts Morgenlied halten, das mit den Zeilen beginnt: „Die güldne Sonne voll Freud und Wonne bringt unsern Grenzen mit ihrem Glänzen ein herzerquickendes, liebliches Licht.“ Dort heißt es in der sechsten Strophe: „Lass mich mit Freuden ohn alles Neiden sehen den Segen, den du wirst legen in meines Bruders und Nähesten Haus.“ Den Segen im Haus unserer katholischen Brüder und Schwestern nehmen wir mit Freude wahr. Ohne Neid sagen wir: Sie haben einen Papst, wir haben keinen. Und wir fügen hinzu: Sie hatten in Johannes Paul II. einen Papst, der mit seiner geistlichen Tiefe, seiner glaubwürdigen persönlichen Frömmigkeit und mit seiner Tapferkeit im Leiden und Sterben ein eindrückliches Glaubenszeugnis abgelegt hat. Der Abschied von diesem Papst stellte in seiner Person die Würde des Menschen und in seiner Gestaltung die Würde christlicher Rituale vor Augen. Dass so viele Menschen über die Medien daran teilgenommen haben, können wir nur begrüßen. Allen Christen, ja allen Menschen guten Willens tut es gut, wenn sie sich mit einem beispielhaften Glaubenszeugen beschäftigen und neu lernen, was es heißt, von einem Menschen würdig Abschied zu nehmen – so nämlich, dass sein Name genannt und sein Leben in Gottes Hand zurückgelegt wird.

Dem dankbaren Respekt tut es keinen Abbruch, wenn katholische Christen aufs Neue um Reformen in ihrer eigenen Kirche kämpfen, die gerade dieser Papst zu verhindern wusste. Sie können dabei auf viel evangelische Sympathie rechnen. Dem dankbaren Respekt tut es ebenso wenig Abbruch, wenn wir als evangelische Christen nicht einen einzigen Nachfolger Petri und auch nicht einen einzigen Stellvertreter Christi auf Erden kennen. Herausgehoben ist dasAmt des Papstes in der katholischen Kirche. Aber nach evangelischer Überzeugung haben alle Christen sich in der Nachfolge der Apostel zu bewähren. Die apostolische Sukzession verstehen wir als die Treue der ganzen Kirche zur apostolischen Botschaft. Und auch die Stellvertretung Christi bei unseren Nächsten ist uns allen anvertraut.

Dies kommt besonders überzeugend in der Leitungskultur unserer protestantischen Kirche zum Ausdruck. Das halte ich denen entgegen, die meinen, die hierarchische Leitungsstruktur der römischen Kirche entspreche der Bildersehnsucht unseres Medienzeitalters besser. Hier in Hannover sage ich bewusst: Eine Kirche, die öffentlich von mehreren Personen und dabei besonders wirkungsvoll von Frauen in Leitungsämtern vertreten wird, braucht sich nicht zu verstecken. Und ich füge hinzu: Das Priestertum aller Glaubenden, die Kultur aktiver Beteiligung und die synodale Leitungsstruktur sind Stärken unserer Kirche. Sie haben demokratischen Mitwirkungsrechten den Weg gebahnt. Sie haben Menschen zu demokratischer Leitungsverantwortung befähigt, wie man in der Wende von 1989 sehen konnte.  Die synodale und konziliare Struktur unsere Kirche hat ihre großen Vorteile. Auf Kirchentagen sind sie übrigens immer wieder besonders deutlich zu spüren!

In diesem selbstbewussten protestantischen Geist wünschen wir auch dem neu gewählten Papst Benedikt XVI, dem ehemaligen Kardinal Joseph Ratzinger, Gottes Segen für seine wichtige Aufgabe. Wir richten als Evangelische große Erwartungen an diesen weithin geachteten und hoch gebildeten Theologen; denn er ist mit der evangelischen Theologie und den Kirchen der Reformation vertraut. Aber diese Würdigung „ohn' alles Neiden“ ändert nichts an der Überzeugung, dass die evangelische Kirche in einem geistlich vollen Sinne Kirche ist. Als evangelische Kirche halten wir fest an einem ökumenischen Grundverständnis, in dem wir uns als Kirchen in unseren Unterschieden mit gegenseitigem Respekt und in gegenseitiger Achtung wahrnehmen, um so das gemeinsame Zeugnis zu stärken. Wir wollen gemeinsam tun, was möglich ist; nach Kräften wollen wir die noch bestehende Kluft überwinden. Deshalb bleiben die wechselseitige Anerkennung der kirchlichen Ämter und die Gemeinschaft am Tisch des Herrn Aufgaben, denen wir uns nicht entziehen können.

Doch die erste ökumenische Aufgabe der evangelischen Kirche besteht nicht darin, Erwartungen an andere Kirchen zu formulieren. Unsere erste Aufgabe besteht vielmehr darin, unsere eigenen offenen Themen zu klären und den ökumenischen Dialog dadurch voranzutreiben. Das Verhältnis zwischen dem Priestertum aller Glaubenden und dem ordinierten Amt erweist sich heute als eine solche offene Frage. Die Beteiligung von nicht Ordinierten an der öffentlichen Verkündigung des Evangeliums und der Leitung des Abendmahls bedarf der Klärung. Dies muss in der pfingstlichen Überzeugung geschehen, dass wir in den verschiedenen Sprachen doch das eine Wort hören, an die eine Wahrheit gebunden sind, dem einen Herrn dienen.

Öffnen wir einander den Zugang zu den „heiligen Stätten“ unseres Glaubens. Wir brauchen keine Kreuzzüge des Glaubens, sondern das Verstehen und Üben des eigenen Glaubens und den aufrichtigen Respekt für den Glauben anderer. Es ist an der Zeit, dass wir den Wert unserer Kirche schätzen lernen und anderen liebenswert machen. Nur so können wir andere dazu motivieren, die Kirche als das zu nehmen, was sie ist: Gemeinschaft derer, die Gott vertrauen, Gehilfin des Glaubens, Verantwortungsgemeinschaft zur Weitergabe des Evangeliums,  Mund der Stummen und stumm Gemachten, Raum und Anwalt der Freiheit.