Herausforderungen für die Zukunft - Laudatio zur vierzigsten Verleihung des Theodor-Heuss-Preises in Stuttgart

Wolfgang Huber

I.

Wer eingeladen ist, die Laudatio zur vierzigsten Verleihung des Theodor-Heuss-Preises zu halten, hat Anlass, zunächst ein Loblied auf den Preis selber anzustimmen, bevor er auf die zu sprechen kommt, die diesen Preis erhalten. Der Theodor-Heuss-Preis  stellt uns Beispiele für Bürgermut und demokratisches Verantwortungsbewusstsein vor Augen, die ansteckend wirken sollen. Der heute nötige Bürgermut muss muss in einem pointierten Sinn Mut zur Zukunft sein. In einer Zeit des Wandels muss sich unsere Verantwortung auf die Zukunft richten. Dafür setzt die heutige Preisverleihung ein deutliches Zeichen.

Herausforderungen für die Zukunft – so heißt deshalb in diesem Jahr das Thema des Theodor-Heuss-Preises. Über die Formulierung bin ich zunächst gestolpert. Nicht „Herausforderungen der Zukunft“, sondern „Herausforderungen für die Zukunft“ – die sprachliche Spannung, die in dieser Formulierung steckt, enthält eine deutliche Parteinahme. Für die Zukunft wird Partei genommen. Jener Haltung wird der Abschied gegeben, die um der erlebten Gegenwart willen die Zukunft aufs Spiel setzt. Jene Haltung wird in Frage gestellt, die einer künftigen Generation die Lebensmöglichkeiten vorenthält, die den gegenwärtig Lebenden als selbstverständlich gelten. Ein Verhalten wird auf den Prüfstand gestellt, das der Parole folgt „Erlebe dein Leben jetzt“, weil von der Zukunft ohnehin nichts zu erwarten sei.

Denn wir Deutschen sind in wachsendem Maß von Unzufriedenheit und Zukunftsangst bestimmt. Nicht einmal jeder dritte Bürger glaubt heute, dass man in fünf bis zehn Jahren noch gut in Deutschland leben kann. Die traditionell hohe Zufriedenheit mit dem Leben zwischen Kiel und München, zwischen Stuttgart und Berlin geht in großen Schritten zurück. Fast jeder zweite Deutsche sorgt sich um seinen Arbeitsplatz. Und sechzig Prozent der Bürgerinnen und Bürger rechnen damit, dass sich ihre persönliche finanzielle Situation verschlechtern wird. So heißen die Ergebnisse der neuen Umfrage „Perspektive Deutschland“, die gestern veröffentlicht wurden. Das sind deutliche Signale für Zukunftsverdrossenheit.

Nicht einfach Politikverdrossenheit ist ein Grundproblem unserer Zeit, sondern eher das, was ich Zukunftsverdrossenheit nennen will. Auf die Politik wird dann projiziert, was uns an unserer Lage insgesamt beunruhigt. In Deutschland ist es üblich geworden, von der Zukunft nicht allzu viel und jedenfalls nichts Gutes zu erwarten. Unsere Erwartungssicherheit haben wir in einem so hohen Umfang an die ständige Steigerung des materiellen Wohlstands geknüpft, dass schon Stagnation wie eine Katastrophe erlebt wird. An keinem Indikator zeigt sich diese Zukunftsverdrossenheit deutlicher als an dem mangelnden Mut zu Kindern. Sie werden als zusätzliche Wohlstandsgefährdung angesehen. Die Zeit, die Kinder brauchen, gerät in Kollision zu dem von vielen empfundenen Druck, eine Ausbildung abzuschließen und sich auf dem enger gewordenen Arbeitsmarkt zu behaupten. Sehr häufig ungewollt geraten insbesondere akademisch ausgebildete Frauen in die Situation, dass sie dem Kinderwunsch erst dann Raum geben können oder wollen, wenn es zu spät ist.

Erhebliche Anstrengungen werden inzwischen unternommen, um Deutschland wieder zu einem kinderfreundlicheren Land zu machen. Betreuungsangebote sollen verbessert und finanzielle Hilfen sollen verstärkt werden. Das alles ist von großem Gewicht. Doch gerade dieses Beispiel zeigt, dass die Überwindung der Zukunftsverdrossenheit nicht nur eine ökonomische, sondern ebenso, ja vielleicht sogar in höherem Maß eine kulturelle Aufgabe ist. Meinhard Miegel hat einmal darauf hingewiesen, dass es nicht nur einen Wohlstand um uns, sondern auch einen Wohlstand in uns gibt. Eine neue Zukunftsgewissheit entsteht nicht allein dadurch, dass wir Menschen aufgehen in der Welt um uns her. Wir müssen auch wieder die Fähigkeit entwickeln, um noch einmal Meinhard Miegel zu zitieren, „einzugehen in die Welt, die in uns ist.“

Dafür müssen Menschen überhaupt die Möglichkeit haben, eine innere Welt aufzubauen. Die Sehnsucht nach dieser inneren Welt ist allerorten zu spüren. Die Bereitschaft, sich auf sie einzulassen, wächst. Man kann auch die außerordentliche Reaktion auf den Wechsel im Papstamt der römisch-katholischen Kirche in diesem Zusammenhang sehen. Dass Traditionsverlust in sich selbst schon ein Freiheitsgewinn ist, glauben inzwischen nur noch wenige. Dass Zukunftsgewissheit sich wesentlich aus Quellen des kulturellen Gedächtnisses speist, tritt wieder ins Bewusstsein. Dass Bildung nicht nur auf die Beherrschung von Techniken zielt, mit deren Hilfe wir uns in der äußeren Welt orientieren, wird allmählich wieder eingesehen. Wir brauchen Bildungsprozesse, durch die wir eine innere Welt aufbauen können. Aber ein Bildungssystem, das dem Orientierungswissen den gleichen Rang einräumt wie dem Verfügungswissen, haben wir gegenwärtig – noch – nicht.

II.

Der Mut zur Zukunft muss und kann erneuert werden. Heute wird dies am Beispiel von zwei Menschen und einer Institution erwiesen, die beides zeigen: warum es nötig ist und wie es gelingen kann. Gemeinsam ist allen drei Preisträgern vor allem eines: Sie wecken den Mut zur Zukunft nicht dadurch, dass sie über diese Zukunft Illusionen verbreiten.

Illusionen werden vielmehr zerstört, wenn Meinhard Miegel voraussagt, dass der Sozialstaat dem Untergang geweiht ist – falls die Frage der Überalterung der Gesellschaft nicht anders angegangen wird als derzeit. Illusionen werden zerstört, wenn er schon seit vielen Jahren beschreibt, wie ein auf die Spitze getriebener Individualismus die kulturellen Voraussetzungen aufzehrt, auf denen er beruht: nämlich dass eine Gemeinschaft auf dem Gedanken der Freiheit aufgebaut werden kann.

Illusionen werden zerstört, wenn Human Rights Watch immer wieder neu darauf aufmerksam macht, wo und wie die Menschenrechte mit Füßen getreten werden: in Indien oder in Sierra Leone, im Kosovo oder in Tschetschenien. Illusionen werden zerstört, wenn unsere Berufung auf die Menschenrechte daran gebunden wird, dass wir sie weltweit anerkennen und zur Geltung bringen.
 
Illusionen werden auch zerstört, wenn Klaus Töpfer darauf hinweist, dass sich weltweit die Umweltprobleme weiterhin dramatisch verschärfen und mehr als eine Milliarde Menschen keinen Zugang zu sauberem Trinkwasser hat. Illusionen werden ebenso zerstört, wenn er den unzureichenden Charakter unserer Reformbemühungen beschreibt. Wir sind mit Anpassungsreformen beschäftigt – so sagt er – , wo wir doch Gestaltungsreformen brauchen – und das angesichts einer globalisierten Welt.

Der Mut zur Zukunft erfordert die Bereitschaft, sich nüchtern mit dem zu beschäftigen, was auf uns zukommt, um einzusehen, dass wir die Hände nicht in den Schoß legen und den Dingen nicht ihren Lauf lassen können.

III.

Etymologisch leitet sich das Wort „Zukunft“ her vom althochdeutschen „zuochumft“, was „das auf jemanden Zukommende“ bedeutet. Wenn wir uns mit Zukunft beschäftigen, beschäftigen wir uns mit dem, was auf uns zukommt.

Dann beschäftigen wir uns mit der Überalterung der Gesellschaft – und dass sie auf uns zukommt, hat Meinhard Miegel aufgezeigt. Und er hat davor gewarnt, diese Wirklichkeit zu verdrängen. Als eine „deformierte Gesellschaft“ bezeichnet Miegel eine Gesellschaft, die das, was auf sie zukommt, nicht als Teil ihrer Wirklichkeit wahrnimmt.

Wenn wir uns mit dem beschäftigen, was auf uns zukommt, dann beschäftigen wir uns mit der Verletzung von Menschenrechten – und wer die Berichte von Human Rights Watch liest, kann kaum daran zweifeln, dass solche Menschenrechtsverletzungen auch weiterhin auf uns zukommen werden. Im Gegenteil: wer unsere innere und äußere Haltung zur Entwicklung im Sudan und der humanitären Tragödie in Darfur vergleicht mit den Berichten, die Human Rights Watch zugänglich macht, erkennt das Ausmaß, in dem wir diesen Teil unserer Wirklichkeit verdrängen – trotz der Bilder, die uns diese Wirklichkeit vor Augen stellen.

Wenn wir uns mit dem beschäftigen, was auf uns zukommt, dann beschäftigen wir uns mit der Zerstörung unserer Umwelt – und angesichts der Schwierigkeiten, mit denen sich Klaus Töpfer bei seinem Kampf gegen den globalen Klimawandel auseinandersetzen muss, ist kaum daran zu zweifeln, dass die ökologische Bedrohung zu dem gehört, was auf uns zukommt.

IV.

Die Theodor-Heuss-Stiftung hat sich in den letzten vierzig Jahren große Verdienste dadurch erworben, dass sie Bürgermut und Bürgerverantwortung in unserem Land ermutigt und bestärkt hat. Sie hat von Anfang an Frieden und Versöhnung in Europa zu ihrem Thema gemacht und die Aufmerksamkeit auf die Entwicklung einer europäischen Bürgergesellschaft gelenkt. Heute unternimmt die Stiftung einen weiteren Schritt. Sie nötigt uns dazu, Zukunftsverantwortung in einen globalen Horizont zu stellen. Weder Deutschland noch Europa können wir wie Inseln betrachten, für die wir die Wertentscheidungen reservieren, die uns wichtig sind. Wir sind nicht in der Lage der Siegerländer Pietisten, die vor Jahrhunderten dichteten: „Mag die Welt auch noch so brausen, wir wollen hier im Stillen hausen.“

Ob unsere elementaren Wertentscheidungen bei uns selbst eine Zukunft haben, hängt auch davon ab, ob wir für ihre Beachtung andernorts eintreten. Wenn wir uns zur Verbindlichkeit der Menschenrechte bekennen, dann müssen wir unsere Stimme auch zu der Gewalt erheben, unter der Frauen aus der Kaste der Unberührbaren in Indien leiden; Human Rights Watch hat das in beeindruckender Weise getan. Denn von Menschenrechten kann man in einem ernsthaften Sinn erst dann reden, wenn die Menschenrechtsverletzung, die an einem Ort geschieht, an allen Orten der Welt wahrgenommen wird. Immanuel Kant hat dies schon vor mehr als zweihundert Jahren als entscheidende Voraussetzung dessen bezeichnet, was er „Weltbürgerrecht“ nannte. Heute haben wir die Möglichkeit, dieses „Weltbürgerrecht“, dieses Bekenntnis zur weltweiten Geltung elementarer Menschenrechte zum praktischen Leitfaden unseres Handelns zu machen. Human Rights Watch zeigt, wie das gehen kann.

Auch Nachhaltigkeit braucht globale Förderung. Diese fängt vor Ort an. Klaus Töpfer hat durch sein Engagement für Raumordnung und Umweltschutz in der Wissenschaft wie in jahrzehntelanger landes- und bundespolitischer Verantwortung Beispiele dafür gegeben. Auch sein eigener politischer Beitrag ist deshalb einzubeziehen, wenn er im Blick auf die ökologische Bilanz der Industrieländer heute zu einer verhalten positiven Bilanz kommt, Die beträchtlichen Investititionen in die Wasserreinhaltung und in Kläranlagen nennt er dafür ebenso als Beispiel wie die Fortschritte im Kampf gegen Schadstoffe oder die verbesserten Recyclingquoten. Aber auch die Industriestaaten haben Anteil an einer globalen Situation, die sich verschlechtert. Deshalb ist es kein Zufall, dass Klaus Töpfer seit 1998 all seine Energie auf die internationale Ebene verlegt hat und zu einer Schlüsselperson für das weltweite Bemühen um Nachhaltigkeit geworden ist. Die Herausforderungen, vor denen dieses Bemühen steht, sind groß. Zu diesen Herausforderungen tragen auch die Industrienationen bei – zum Beispiel durch ihren exorbitanten Energieverbrauch, insbesondere auch durch ihre ständig wachsenden Mobilitätsansprüche. Aber die dramatische Umweltsituation zeigt sich in besonderer Weise in Ländern der Dritten Welt. Die sanitäre Situation der Menschen hat Klaus Töpfer bei solchen Überlegungen genauso im Blick wie den weiteren Anstieg des Kohlendioxid-Ausstoßes und die wachsenden Probleme bei extremen Wettersituationen.

Was Max Weber als Verantwortungsethik bezeichnete, lässt sich heute nicht mehr im Rahmen des Nationalstaats beschreiben, den Weber selbst noch vor Augen hatte. Die Bretter, die der politisch Verantwortliche bohren muss – „mit Leidenschaft und Augenmaß zugleich“, wie Weber sagte – sind dadurch erheblich dicker geworden.

V.

Doch ohne Zweifel hat in der globalisierten Welt eine Verschiebung der Verantwortungsträger stattgefunden. Max Webers berühmten Vorträgen über „Wissenschaft als Beruf“ und „Politik als Beruf“ müsste heute ohne Zweifel ein weiterer Vortrag über „Wirtschaft als Beruf“ zur Seite treten. Unsere globalisierte Welt beschreiben wir vorwiegend in wirtschaftlichen Kategorien; Finanzströme und wirtschaftliche Transaktionen bilden zusammen mit der weltweiten Zugänglichkeit von Informationen die entscheidenden Triebkräfte dessen, was wir „Globalisierung“ nennen. Die Zukunftsfähigkeit dieser Welt hängt deshalb in hohem Maß daran, dass wirtschaftliche Macht nicht nur im globalen Horizont ausgeübt, sondern auch in globaler Verantwortung wahrgenommen wird. Die Marktgesetze bestimmen zwar die Art und Weise, in der mit knappen Ressourcen effektiv umgegangen wird. Aber sie geben noch keine Auskunft auf die Frage, wie wirtschaftliche Entscheidungen auf die Lebensmöglichkeiten künftiger Generationen und die Zukunftsfähigkeit unserer Gesellschaftsordnung bezogen werden.

Beim Blick auf vierzig Jahre Theodor-Heuss-Preis fällt auf, wie klein die Zahl von Menschen in wirtschaftlicher Verantwortung ist, die bisher mit diesem Preis ausgezeichnet worden sind. Demokratische Kultur und wirtschaftliches Handeln werden offenbar vergleichsweise selten miteinander in Verbindung gebracht; die Aufforderung zum „rechten Gebrauch der Freiheit“ wird nicht gerade häufig auf wirtschaftliches Handeln angewandt. Nach meiner Überzeugung sollte sich das ändern.

Auch in dieser Hinsicht setzt die 40. Preisverleihung einen besonderen Akzent. Seit nahezu drei Jahrzehnten leitet Meinhard Miegel in Bonn das Institut für Wirtschaft und Gesellschaft in Bonn. Welche Arbeitsmarktpolitik die Beschäftigungslage verbessern, welches Rentensystem die Alterssicherung gewährleisten, welche Steuerungsinstrumente das Gesundheitswesen bezahlbar halten oder welche Wohnungspolitik zu einem verantwortbaren sozialen Wohnungsbau führt – das sind Beispiele für Fragestellungen, an denen Meinhard Miegel Wirtschaft und Gesellschaft praktisch miteinander verbinden will. Möge die heutige Preisverleihung dazu beitragen, dass sein Beispiel Schule macht.

VI.

Das, was auf uns zukommt, fordert uns heraus. Es fordert uns heraus zum Denken und zum Handeln. Die Preisträger dieses Jahres setzen sich in herausragender Weise dafür ein, die Herausforderungen der Zukunft anzunehmen und sie zu gestalten. Sie achten nicht nur auf die Welt um uns, sondern auch auf die Welt in uns. Der Zukunftsverdrossenheit setzen sie Mut zur Zukunft entgegen – illusionslos, aber hoffnungsvoll. Das ist es, was wir heute brauchen.