Zehn Jahre Hanna-Jursch-Preis - Würdigung anlässlich der akademischen Feier zur Preisverleihung an PD Dr. Regina Sommer in Marburg

Nikolaus Schneider

Seit 10 Jahren vergibt die EKD den Hanna-Jursch-Preis für herausragende wissenschaftlich-theologische Arbeiten aus der Perspektive von Frauen. Der Rat der EKD hatte den Preis 1999 ins Leben gerufen. Im Jahr 2000 wurde er zum ersten Mal ausgeschrieben und 2002 erstmals verliehen. Der Rat nahm mit dieser Initiative eine Anregung der Synode auf, nicht nur die Gleichstellungsbemühungen in der Kirche voranzutreiben, sondern auch Frauen in der Wissenschaft zu fördern, indem für Arbeiten aus feministischer Theologie, theologischer Frauenforschung und Gendertheorie eine besondere Auszeichnung als Anreiz geschaffen wurde. Fünf Mal wählte die Jury seither aus zahlreichen qualifizierten Einsendungen jeweils ein Buch aus, das Maßstäbe setzt sowohl in seiner wissenschaftlichen Qualität als auch in seiner Relevanz für die Praxis der Kirche und des christlichen Lebens. Und nach 10 Jahren darf ich für den Rat der EKD resümieren: Die Geschichte des Hanna-Jursch-Preises ist eine Erfolgsgeschichte.

Die EKD schuf diesen Preis, um die Position von Frauen an den Theologischen Fakultäten und in der theologischen Forschung überhaupt zu stärken. Die Fähigkeiten der Wissenschaftlerinnen, die Themen und die Perspektiven der Frauen sollten in der Wissenschaft ebenso zur Geltung kommen können wie die der Männer. Das war ein durchaus ungewöhnlicher Vorgang, denn einen Wissenschaftspreis der EKD hatte es bis dahin nicht gegeben, und es gibt auch seither keinen weiteren. Die Neuerung war nicht unumstritten; es gab den Argwohn, dass hier eine unzulässige Einmischung der Kirchen in die Freiheit der Fakultäten zu befürchten sei. Aber es ging nicht um Einmischung, sondern um Anreiz und öffentliche Aufmerksamkeit für wissenschaftliche Arbeiten, deren Spezifik im universitären Umfeld nicht selten auch von Ressentiments begleitet war.

Die Entscheidung für die Frauenordination und die rechtliche Gleichstellung von Pfarrerinnen werden innerkirchlich und in der Öffentlichkeit zunehmend als eine Stärke im Profil der Evangelischen Kirche bewertet, die sie von anderen Kirchen positiv unterscheidet. Entsprechend ist es aus kirchenleitender Perspektive genauso wünschenswert, dass die Forschungsleistungen der Frauen als notwendige und bereichernde Inhalte der theologischen Forschung insgesamt Anerkennung finden. Nicht zuletzt sollen Frauen ermutigt werden, als Lehrende ihren Beitrag zur theologischen Ausbildung zu leisten. Denn Evangelisch-Sein zeigt sich nicht allein, aber auch nicht zuletzt darin, dass Frauen wie Männer das Lehramt auf den verschiedenen Ebenen kirchlichen Handelns wie auch in der Universität in gleicher Weise wahrnehmen. Das ist theologisch so im Priestertum aller Gläubigen angelegt und hat seine Wurzeln im biblischen Zeugnis und in der am reformatorischen Schriftverständnis orientierten Interpretation einzelner biblischer Aussagen im hermeneutischen Zusammenhang der ganzen Schrift. Wir müssen zugeben: Es hat auch in der evangelischen Kirche lange gebraucht, bis diese Erkenntnis sich durch durchsetze und zu den notwendigen Konsequenzen führte. Es besteht also kein Anlass zum Hochmut, wohl aber dazu, diesen evangelischen Standpunkt jetzt selbstbewusst zu vertreten.

Die Namensgeberin des Preises, Hanna Jursch, hatte ihre wissenschaftliche Karriere in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts unter schwierigsten Bedingungen erkämpfen müssen. Sie war die erste Frau, die sich 1934 an einer deutschen theologischen Fakultät – nämlich in Jena – habilitierte. Aber erst 1956 erhielt sie dort nach mancherlei Demütigungen und Umwegen auch einen ordentlichen Lehrstuhl – ein Jahr übrigens, nachdem sie für ihr wissenschaftliches Werk hier in Marburg durch die Verleihung der Ehrendoktorwürde der Philipps-Universität geehrt worden war. Im Vergleich mit den Erfahrungen dieser Generation war die Arbeit von Frauen in der theologischen Wissenschaft bei der ersten Ausschreibung des Hanna Jursch-Preises vor 10 Jahren bereits vergleichsweise selbstverständlich geworden.

Aber eigenständig und spezifisch sind nach wie vor in vielen Fällen die Themen und die Herangehensweisen, mit denen die Forscherinnen sich ihrem Gegenstand nähern. Wenn man die fünf Bücher Revue passieren lässt, die bisher mit dem Hanna-Jursch-Preis ausgezeichnet wurden, kann man in fachlicher Hinsicht eine große Breite erkennen: Zwei Bücher stammen aus dem Bereich der Kirchengeschichte, eines aus der Sozialethik, eines aus der Religionspädagogik und eines aus der Praktischen Theologie. Zugleich aber repräsentieren sie wissenschaftliche Profile, die in gewisser Hinsicht als typische und spezifische Perspektiven von Wissenschaftlerinnen erkennbar sind. Typisch – das soll hier nicht so verstanden werden, als wäre es ausgeschlossen, dass auch Männer vergleichbare Sichtweisen entwickeln könnten - , wohl aber so, dass sie Frauen im heutigen kulturellen Kontext offenkundig immer noch näher liegen.

Woran ist dabei genauer zu denken? Vier Aspekte möchte ich benennen:

  • Zum ersten: Zwei der Bücher erhellen die Geschichte und das Engagement bedeutender Frauen in der Vergangenheit. Die Studie über Katharina Staritz, für die Hannelore Erhart, Ilse Meseberg-Haubold und Dietgard Meyer den ersten Hanna-Jursch-Preis erhielten, würdigt den mutigen Widerstand evangelischer Frauen in der Zeit des Nationalsozialismus. Britta Konz zeigt in ihrem Buch über Bertha Pappenheim, wie diese jüdische Frauenrechtlerin durch ihre Religion und ihren Glauben in ihrem gesellschaftlichen Handeln bestärkt und motiviert wurde. – Die Geschichte der Frauen aufzuarbeiten, ihre Bedeutung in Kirche und Gesellschaft zu dokumentieren und auch ihren Beitrag zur Theologie zu würdigen, ist ein wichtiges Thema der Forschung, das vor allem durch Frauen in den letzten Jahren vorangebracht wurde. Nach wie vor gibt es auf diesem Feld viel zu tun.
  • Ausgezeichnet wurden – zweitens – Bücher, die sich mit Themen auseinandersetzen, die aus der Lebenswelt von Frauen erwachsen. Dabei ist vor allem zu denken an die theologische Arbeit zum Schwangerschaftsabbruch von Christiane Kohler-Weiß, die die Situation der Frauen und ihre Beziehung zum werdenden Kind zum Ausgangspunkt ihrer Überlegungen macht. Auch das Thema "Mit Gefühl gegen Gewalt" in der religionspädagogischen Arbeit von Elisabeth Naurath ist in seiner spezifischen Akzentuierung als Perspektive einer Frau zu erkennen.
  • Alle Bücher, die den Preis bisher erhalten haben, zeichnen sich – drittens – durch das Interesse aus, Probleme und Fragestellungen des Alltags aufzunehmen und sie in ihrer religiösen und theologischen Valenz zu diskutieren. So ist es auch in der im letzten Jahr prämierten Arbeit von Regina Sommer zur Kindertaufe in Elternperspektive. Sie greift nicht nur ein zentrales Thema christlicher Praxis und Identität auf, dem in der Kirche zur Zeit besondere Aufmerksamkeit gilt. Sie fragt auch nach der Verbindung zwischen Lebenserfahrungen, religiösen Selbstdeutungen der Taufeltern und theologischer Tradition und zielt damit auf eine Theologie, die sich zu den lebensgeschichtlichen Fragen der Menschen in Beziehung setzt.
  • Und schließlich: Sämtliche Bücher, die den Preis bisher erhalten haben, sind nicht nur für die wissenschaftliche Gemeinschaft geschrieben, sondern sie zeichnen sich aus durch eine ebenso differenzierte wie gut lesbare Sprache. Sie haben ein Vermittlungsinteresse. Sie wollen wissenschaftliche Theologie in die christliche und kirchliche Lebenspraxis hinein transferieren. Auch diese Verbindung halte ich für wichtig: Das kirchenleitende Handeln und die kirchliche Praxis überhaupt brauchen nicht nur die Verbindung zur Wissenschaft, um sich fundiert zu orientieren, sie sind auch Konkretionen wissenschaftlicher Theologie.

Seit zehn Jahren wird der Hanna Jursch-Preis ausgeschrieben, zehn Jahre, in denen sich manches verändert hat im Verhältnis der Geschlechter. Frauen erfahren vermehrt wissenschaftliche Förderung. Die Zahl auch der theologischen Wissenschaftlerinnen und Professorinnen wächst, wenn auch nur langsam. Feministische Forschung bzw. – wie heute meistens bevorzugt formuliert wird – Gendertheorie differenziert sich immer mehr aus. Die Auseinandersetzung mit der Frage der Bedeutung des Geschlechterverhältnisses im Kontext theologischer Wissenschaft ist außerordentlich komplex geworden. Braucht die Kirche noch einen Preis, der die theologische Wissenschaft von Frauen besonders fördert?

Ich meine Ja. Und das nicht in erster Linie wegen der bloßen Zahlenrelationen, die nach wie vor eine Förderung weiblicher Wissenschaftlerinnen nahe legen.

Wichtiger ist mir aus der Perspektive der Kirchenleitung der Blick auf die inhaltliche Qualität der prämierten Arbeiten. Welche Art von Theologie braucht das kirchliche Handeln? Welche Perspektiven des theologischen Nachdenkens sind nötig, um den religiösen Fragen und Konflikten in der Gesellschaft standzuhalten und das Evangelium von der freien Gnade allem Volk weiterzusagen?

Ein christliches Selbst- und Weltverständnis ist in unserer Gesellschaft nicht mehr selbstverständlich. Die Kommunikation religiöser Gehalte ist schwieriger geworden. Darum ist eine differenzierte theologische Reflexions- und Kommunikationskompetenz erforderlich, die Evangelium und Alltag überzeugend zueinander in Beziehung setzt und die sich mit den Fragen der Zeit und mit den Lebensproblemen der Menschen auseinandersetzt. Nicht zuletzt brauchen wir eine theologische Sprache, die verstanden wird und die den theologischen Binnendiskurs überschreitet.

Es ist selbstverständlich nicht nur die wissenschaftliche Perspektive von Frauen, die diesen Anforderungen gerecht wird. Aber der Blick auf zehn Jahre Hanna-Jursch-Preis zeigt, dass Frauen in diesem Zusammenhang eine eigene und eine unverzichtbare Stimme haben. Diese Stimme zu stärken und öffentlich hörbar zu machen, soll und wird auch in Zukunft die Aufgabe dieses Preises bleiben. Im Namen des Rates der EKD danke ich allen, die sich in den vergangenen Jahren um diese Aufgabe verdient gemacht haben und die Zukunft des Hanna-Jursch-Preises verantwortlich mitgestalten.