„Aufwachsen in Deutschland – ungleiche Chancen von Anfang an?!“

Nikolaus Schneider, Vortrag anlässlich des Kommunalkongresses der Bertelsmann-Stiftung

Die mir gestellte Frage nach der Existenz von ungleichen Lebenschancen von Jugendlichen und Kindern in Deutschland lässt sich relativ schnell und eindeutig mit einem deutlichen Ja beantworten. Es ist in der Tat so, dass ihr Aufwachsen sich sehr ungleich gestaltet. Die Förderung durch Elternhaus und Schule, die musische oder sportliche Ausbildung oder die Verlässlichkeit des tragenden, häuslichen Netzes ist von großer Ungleichheit geprägt. Und diese Ungleichheit steigt, bedingt durch eine wachsende soziale Ungleichheit insgesamt, in den letzten Jahren auch noch an.

Etwa 23% aller Kinder unter 15 Jahren lebt im unteren Einkommensbereich (1). Allein schon damit sind deutliche Herausforderungen für ein politisches, ein zivilgesellschaftliches und auch ein kirchliches Handeln gegeben, die ich mit Ihnen im Folgenden bedenken möchte.

Aber lassen Sie mich ein bisschen weiter ausholen. Das Aufwachsen von Kindern in Deutschland geschieht zunächst einmal im Raum der Familie. Kulturpessimistische Pauschaldiagnosen von Familie heute ergeben ein unvollständiges Bild. Entgegen mancher Krisenszenarien, die von Zerfall der Familie oder verschärfter Individualisierung auf ihre Kosten sprechen, ist bei längerfristiger Analyse eine erstaunliche Kontinuität von Familienstrukturen festzustellen. Auch zeigen neuere Studien, insbesondere die Shell-Jugendstudie, dass das Einvernehmen zwischen Kindern, Jugendlichen und ihren Eltern insgesamt gesehen überraschend groß und die Familienstrukturen in dieser Hinsicht recht stabil sind. Unter diesem Gesichtspunkt leisten die Familien nach wie vor Enormes, was die Begleitung des Aufwachsens von Kindern und Jugendlichen, ihre Sozialisation und ihre anfängliche Befähigung zur umfassenden Teilhabe an der Gesellschaft anbetrifft. Etwa 77% aller Kinder und Jugendlichen wachsen so gesehen in gesicherten Verhältnissen auf. Dies bedeutet allerdings nicht, dass es in diesem Bereich keinerlei Probleme geben würde. Familien bedürfen der gesellschaftlichen Zuwendung und der Förderung, damit sie auch weiterhin entsprechende Leistungen erbringen können.

Gleichzeitig nimmt nämlich auch die Diversität des Familienlebens deutlich zu. Zwar sind noch drei Viertel der Familien Ehepaare mit Kindern, aber angesichts einer Scheidungsrate von mittlerweile 42 Prozent verbergen sich hinter dem Begriff "Ehepaar mit Kindern" häufig Familienneugründungen und Patchworkkonstellationen, die die familiale Lebensführung deutlich verändern. In Scheidungsfällen bleibt das Sorgerecht in neun von zehn Fällen bei beiden Eltern, und alternative Familienformen wie Alleinerziehende und nichteheliche Lebensgemeinschaften haben in der Vergangenheit deutlich zugenommen. In den Großstädten machen alternative Familienformen mittlerweile knapp die Hälfte aller Familien aus. Insbesondere in den neuen Bundesländern gibt es immer mehr Alleinerziehende.

Entscheidend ist zudem, dass sich die sozialen Milieus in Deutschland in hohem Maße auseinanderentwickeln. Besonders gravierend ist die Polarisierung sozialer Lebenslagen zwischen Ein- und Zwei-Verdiener-Haushalten, vor allem aber zwischen denen, die für Kinder sorgen und denen, die keine Kinder zu versorgen haben. Besonders bedenklich ist, dass es überdurchschnittlich viele Alleinerziehende sind, die von Einkommensarmut betroffen sind. Alleinerziehende sind zu 40 Prozent armutsgefährdet, wohingegen bei Paarhaushalten die Armutsrisikoquote bei nur zehn Prozent liegt.

1,82 Mio. Kinder und Jugendliche sind von Armut bedroht. Die Armutsrisikoquote liegt bei Kindern und Jugendlichen bei 17,1 Prozent und damit beträchtlich höher als in der Gesamtbevölkerung (= 14 %). Der Anstieg der Armut von Kindern und Jugendlichen in zehn Jahren beträgt nach Angaben des SOEP 2008 4,6 Prozent. Im aktuellen SGB II Bezug leben nach neuen Angaben des IAB für 2010 13, 8 % aller Kinder (=1,51 Millionen). Von den 23% aller Kinder, die im weiteren Sinne im unteren Einkommensbereich leben,

  • sind gut 8% in Haushalten unterhalb der Armutsschwelle lebend,
  • knapp 6% können durch die SGB II Leistungen über die Armutsschwelle gehoben werden,
  • und weitere etwa 9% beziehen keine SGB II Leistungen stufen, sich selbst aber als armutsgefährdet ein.

Es ist deutlich, dass sich in von Armut bedrohten Familien Unterversorgungslagen finden. Das betrifft Bildung und Berufsbildung, aber auch insbesondere gesundheitliche Beeinträchtigungen. Wenn diese in materieller Armut groß gewordenen Kinder selber Eltern werden, sind sie häufig durch ihre frühen Deprivationserfahrungen geprägt und weisen dann geringere Beziehungskompetenzen auf. Sie haben häufig Ausgrenzungserfahrungen und das Gefühl von Wertlosigkeit gemacht, das sie dann auch an ihre Kinder in der einen oder anderen Weise weitergeben. Die Folge ist - auch dies zeigt die Shell-Jugendstudie deutlich auf -, dass Kinder aus sozial benachteiligten bzw. einkommensschwächeren Familien mit ihrem Familienleben deutlich weniger zufrieden sind als andere. Die Unzufriedenheit und das sich Nicht-Wohlfühlen im eigenen Familienkontext ist aber in der Regel ein deutlicher Indikator für eine mangelhafte Befähigungssituation insbesondere in den frühkindlichen Jahren.

Fächert man die möglichen und tatsächlich eintretenden Benachteiligungen von Kindern in von Armut bedrohten oder betroffenen Familien weiter auf, lassen sich eine ganze Reihe von Problemkomplexen identifizieren:

  • Zum einen natürlich der auffälligste Indikator, nämlich die materielle Armut. Sie führt ganz offensichtlich dazu, dass Kinder aus armen Familien bereits von frühester Kindheit an in der Reichweite ihrer Teilhabemöglichkeiten gegenüber anderen benachteiligt sind. Dies kann ganz praktisch dazu führen, dass Kindergartenkinder, die sich das Mittagessen nicht leisten können - was es natürlich längst nicht mehr geben sollte - mit dem Argument "Zu Hause schmeckt es mir besser" vom Mittagessen fernbleiben und auf diese Weise Sozialkontakte verlieren. Andere Kinder weigern sich an Klassenreisen teilzunehmen, wenn diese nicht von der Arbeitsagentur finanziert werden können, da sie nicht auf Kosten der Klassenkasse oder des Elternvereins reisen wollen und ihre Armut dann für alle anderen Kinder offensichtlich wird. Materielle Armut alleine reicht aus, um Schamgefühle bei den Kindern zu erzeugen, die ihre Entwicklung ein Leben lang beeinträchtigen können.
  • Gesundheitliche Probleme. Eltern aus von Armut betroffenen oder bedrohten Familien sind oftmals nicht so wie andere Eltern in der Lage, ihren Kindern bei gesundheitlichen Problemen unter die Arme zu greifen. Man kann sich dies insbesondere an Fällen von Diabetes im Kindesalter deutlich machen, bei denen die Insulineinnahme kontinuierlich überwacht werden muss und dafür die Eltern im Blick auf Kinder natürlich vollkommen unersetzlich sind. Arme Kinder bleiben mit ihren Problemen nicht selten allein und tragen auf diese Weise dauerhaft gesundheitliche Schäden davon.
  • Bildungsbenachteiligung. Wie auch im Fall der gesundheitlichen Fürsorge durch die Eltern kann es gut sein, dass die betreffenden Eltern im Rückblick auf ihr eigenes Bildungsengagement für ihre Kinder zurückhaltender sind als andere Eltern. So lässt sich leicht nachweisen, dass diese Eltern Elternabende und Elternsprechstunden kaum besuchen und sich nicht so sehr wie andere Eltern für ihre Kinder im Bildungsbereich engagieren. Auch die Unterstützung bei Nachhilfe oder Hausaufgabenerledigung fällt deutlich geringer aus. Auch dies kann man ebenso wenig wie die mangelnde Unterstützung im gesundheitlichen Bereich den Eltern vorwerfen, es führt aber zu der Überlegung, ob nicht im Bildungsbereich klassische Ansätze kompensatorischer Erziehung wieder sehr viel stärker aufgegriffen werden müssen.
  • Erfahrungen von Machtlosigkeit. Kinder aus benachteiligten Familien erfahren schon früh die Machtlosigkeit ihrer Eltern bzw. auch die eigene Machtlosigkeit in spezifischen Lebenssituationen. Ganz deutlich wird diese Machtlosigkeit dann, wenn es um die Übergänge in höherwertige Schulbereiche o. ä. geht. An diesen Stellen können sich Bessergebildete und Eltern aus höheren Einkommensschichten sehr viel stärker für ihre Kinder einsetzen -und auch mit Erfolg einsetzen-, als dies bei den möglicherweise längst entmutigten Eltern der Fall ist. Den Elternwillen bei der Wahl der weiterführenden Schulen allein ausschlagebend zu machen, ist sicher nicht im Interesse dieser Kinder. Es können Situationen eintreten, in denen die betreffenden Kinder sich für ihre Eltern schämen und diese Scham in sich hineinfressen.

Zieht man diese Faktoren zusammen, so lässt sich deutlich konstatieren, dass vor allem im Blick auf Prozesse der Selbstaktualisierung der Kinder und Jugendlichen bzw. der Erfahrungen ihrer eigenen Selbsttätigkeit große Defizite bereits sehr früh erkennbar sind. Für das Aufwachsen von Kindern und Jugendlichen sind die Entfaltungsmöglichkeiten der eigenen Fähigkeiten - wenn man so will: von ihren ihnen von Gott gegebenen Gaben - die entscheidenden Bildungserlebnisse.

Unser klassisches Bildungsideal besteht ja geradezu darin, den Kindern bei der Entfaltung dieser in ihnen angelegten Fähigkeiten unterstützend zu helfen. Erziehung und Ausbildung gleichen dann einer Ent-Faltung bzw. einer Ent-Wicklung dieser Gaben. Sie tragen so dazu bei, dass die Menschen sich von ihren eigenen Kräften und Dimensionen her entfalten können und in der Entfaltung ihrer eigenen Fähigkeiten Sinn erfahren.

Armutserfahrung hemmt diese elementaren Bildungserfahrungen von vornherein. Sie ist eine Beeinträchtigung solcher Entfaltungsmöglichkeiten und blockiert die Potenziale dieser Kinder und Jugendlichen von Anfang an. Dabei stellen solche Blockaden eine elementare gesellschaftliche Ungerechtigkeit dar, denn es ist durch nichts bewiesen, dass Kinder aus armen Familien über weniger Begabungen und Möglichkeiten verfügen würden als Kinder aus bessergestellten Familien. Die am Indikator der materiellen Armut erkennbare Benachteiligung der betreffenden Familien und Kinder und Jugendlichen reduziert sich mithin nicht auf das Materielle, sondern überträgt sich auf Lebensperspektiven und Entfaltungsmöglichkeiten insgesamt.

Und nicht zuletzt schlägt Armut auch auf den Körper der Betreffenden. So gehört es zum Idealbild der bürgerlichen Familie dazu, dass in ihr den Lebensrhythmen genügend Spielraum zur Verfügung gestellt wird, nicht zuletzt den Rhythmen der eigenen Körper, ihres Alters und ihrer Regenerationsbedürftigkeit.

Dabei gibt es Konflikte, weil Paare Zeiten für sich brauchen. Aber Eltern möchten auch mit ihren Kinder spielen, reden, sie betreuen, bilden und erziehen. Kinder wollen ihre Eltern für sich, um ihnen etwas zu erzählen, um ihre Aufmerksamkeit, Nähe und ihre Liebe zu spüren. Ebenso wollen Kinder wie Erwachsene für sich und unter sich sein.

Familienzeit bedeutet die Chance, sich als Familie zu erfahren und die Qualität der gemeinsamen Zeit zu genießen. All dies gilt eben auch für von Armut bedrohte und betroffene Familien. Die Lebens- und Familienideale unterscheiden sich kaum. Nur fällt es ihnen unter den restriktiven Bedingungen, unter denen sie leben, sehr viel schwerer, entsprechende Vorstellungen zu realisieren.

Weil diese Schwierigkeiten vorhanden sind, finden sich immer wieder Beispiele, dass die betreffenden Familien in der Erziehung und Sozialisation ihrer Kinder Probleme haben oder auch gar nicht zurechtkommen. Die Vernachlässigung von Kindern häuft sich deswegen bei sozial schwächeren Familien mit zum Teil fürchterlichen Folgen. Die entsprechenden skandalösen Beispiele aus der Vergangenheit braucht man gar nicht mehr im Einzelnen aufzuzählen. Oftmals haben allerdings auch nicht nur die Familien bzw. die Eltern, sondern auch die entsprechenden staatlichen Stellen Jugend- und Sozialämter in ihrer Fürsorgepflicht versagt. Diese Situation muss sehr ernst genommen werden und die soziale Fürsorge bzw. auch die soziale Kontrolle, was Kinder und Jugendliche anbetrifft, muss als Aufgabe aller - nicht nur der staatlichen Stellen, sondern auch der Zivilgesellschaft - erkannt sein, um Schlimmes zu verhüten. Es gilt die gemeinsame Verantwortung aller für Kinder und Jugendliche entschlossen wahrzunehmen. Das nachbarschaftliche Zusammenleben kann dafür in seiner Bedeutung gar nicht überschätzt werden. Ein afrikanisches Sprichwort sagt: "Es braucht ein ganzes Dorf, um Kinder groß zu ziehen". Und so ist es auch.

Diese Situation darf aber nicht dazu führen, dass man jetzt, wie es bisweilen geschieht, ärmere Familien pauschal diskriminiert, indem man sie für prinzipiell unfähig erklärt, Kinder zu haben und angemessen aufzuziehen. Die betreffenden Aussagen wären nicht nur falsch in ihrer Pauschalität, sondern sie wären auch ausgesprochen unfair gegenüber den betroffenen Eltern. Denn vielfach ist der Wunsch dieser Eltern, ihre Kinder genauso aufziehen zu können wie andere, deutlich vorhanden. Aber die objektiven Schwierigkeiten, dieses zu tun, liegen eben auch deutlich zu Tage.

Hinzu kommt die schlichte Tatsache, dass man Kindern aus armen Familien nicht gegen die eigenen Eltern helfen kann. Werden die eigenen Eltern den Kindern gegenüber als unfähig hingestellt, so sind fast alle Chancen, die Kinder unterstützend und kompensatorisch zu erziehen und zu fördern, von vornherein vereitelt. Die Liebe der Kinder zu den Eltern, ihre Bindung an sie, muss Abwehr und Verweigerung hervorrufen. Man kann den betreffenden Kindern und Jugendlichen nur dann wirklich helfen, wenn man dies mit den Eltern gemeinsam macht und in dieser Hinsicht eine umfassende Familienunterstützung gerade für diese Familien in Gang setzt.

Es braucht folglich eine fürsorglichere Sozial- und Familienpolitik. Eltern betreffender Kinder müssen beim Erziehen ihrer Kinder und Jugendlichen mehr ermutigende Unterstützung statt Ermahnungen und Vorhaltungen erfahren. Wertschätzung ist die ihnen gegenüber angezeigte Haltung. Aufmerksamkeit und Zuwendung haben sie als Gottes Geschöpfe verdient. Das ermutigt sie, Zutrauen zu den Hilfsangeboten zu fassen, vor allem aber auch Zutrauen zu sich selbst zu entwickeln. Sie müssen in einem direkten und in einem übertragenden Sinn "abgeholt" werden. Wer nicht auf seiner Seele herumtrampelt und sich selbst nicht geringschätzt, der wird frei, sich anderen zuzuwenden, stabile Beziehungen aufzubauen, zu fördern und Grenzen zu setzen und zum Wohl - zum Segen - für seine Familie zu werden. Das muss das Ziel aller Begleitung und Hilfe sein.

Und es braucht nicht zuletzt gezielte Maßnahmen, um in einem ausgebauten Bildungssystem, das sich auch im öffentlichen Schulwesen gezielt um die Befähigung der einzelnen Schüler kümmert, die offensichtlich vorhandene soziale Vererbung schlechter Chancen zu unterbrechen. Nach wie vor haben wir in Deutschland ein Bildungssystem, in dem in einem zu hohen Ausmaße Bildungs- und damit spätere Karriere- und Einkommenschancen vererbt werden. Die individuelle Förderung in der Schule durch eine deutlich verbesserte Schüler-Lehrer-Relation, der konsequente Ausbau der Ganztagsangebote, die Erschwinglichkeit des Schulessens und eine institutionelle kostenfreie Hausaufgabenhilfe würden die Situation sozial schwacher und benachteiligter Familien deutlich verbessern und die Chancengleichheit erhöhen. Es darf nicht sein, dass das Bildungssystem schlicht die soziale Ungleichheit in der Gesellschaft noch einmal verdoppelt, ja durch die Bildungsabschlüsse faktisch sanktioniert! Wir waren gerade in dieser Hinsicht in den siebziger und achtziger Jahren im Westen schon mal besser und im Osten war zumindest in dieser Hinsicht vieles besser! Dort gab es ideologisch bedingte Diskriminierungen und krasse Ungerechtigkeiten.

Entsprechende zusätzlich fördernde und unterstützende kompensatorische Bemühungen müssen im Blick auf die betreffenden Kinder bereits bei der Betreuung von kleinen Kindern ansetzen. Hier geht es darum, schon im Kindergartenbereich und in der Kindertagespflege insgesamt der Armutsbedrohung von Kindern entgegenzutreten. Was vor allem verhindert werden muss, ist, dass Kinder bereits in frühkindlicher Zeit die eigene Armutssituation als Diskriminierung erleben und somit die Verfestigung von schlechten Chancen bereits in dieser Zeit einsetzt. Das kann schon durch ungewollte Gesten und Blicke von Erzieherinnen und Erziehern geschehen. Auch Kinder können einander rücksichtslos beschämen. Die Ausbildung der Erzieherinnen und Erzieher muss sie befähigen, Kinder aus armen Familien zu schützen und ihre Diskriminierung zu verhindern.

Insbesondere in der Jugendarbeit bestehen sehr gute Chancen, betreffende Jugendliche und Kinder besonders zu fördern und ihnen neue Entfaltungsräume zur Verfügung zu stellen. An dieser Stelle geht es nicht so sehr um staatliche Aktivität, sondern um die Bereitschaft zivilgesellschaftlicher Akteure wie Sportvereinen, aber auch Kirchengemeinden und anderen Verbänden, sich gezielt der betreffenden Jugendlichen anzunehmen, sie im wahrsten Sinne des Wortes abzuholen und in Mannschaften, Gruppen und Kreise hineinzunehmen.

Allzu oft sind diese Aktivitäten jedoch zu bildungslastig und werden zu sehr von Gymnasiasten dominiert, so dass die betreffenden Jugendlichen sich in den Milieus nicht wohlfühlen und deswegen auch sehr schnell wieder abspringen. Deshalb sind sportliche Betätigung und körperlicher Ertüchtigung von großer Bedeutung.

Diese Aktivitäten können auch gut mit familienergänzenden und familienfördernden Angeboten, wie zum Beispiel Familienfreizeiten gekoppelt sein. Stets hängt jedoch alles davon ab, dass die Aktivitäten armutssensibel sind, dass sie die Betreffenden wahrnehmen wollen.

Die eingangs erwähnten Zahlen machen deutlich, dass sich die Situation für Kinder und Jugendliche in den letzten zwanzig Jahren in Deutschland nicht nur nicht verbessert, sondern über den gesamten Zeitraum gesehen verschlechtert hat. Einige Gegenmaßnahmen im Bereich von Bildung und Ausbildung sind eingeleitet. Sie greifen aber immer noch nicht richtig, so dass die Zahl derjenigen, die ohne einen Schulabschluss die Ausbildung verlassen, nach wie vor viel zu hoch ist. Wir sind uns alle einig, dass an dieser Stelle wichtige gesellschaftliche Potenziale nicht nur nicht erschlossen, sondern geradezu verschleudert werden. Dies kann sich unsere Gesellschaft, insbesondere angesichts der demografischen Entwicklung, natürlich nicht leisten.

Aber es geht nicht in erster Linie um eine ökonomische Kalkulation, es geht darum, dass ein jedes Kind, das Recht hat, von uns allen als ein Geschenk angenommen zu werden. Deshalb sind wir als Gesellschaft verpflichtet, Kindern aus armen Familien alle Unterstützung zukommen zu lassen, damit sie ihre Fähigkeiten und Gaben entwickeln und in das gesellschaftliche Leben einbringen können. Dazu gehört vor allem die Stärkung der Eltern, der Ausbau des Bildungssystems einschließlich der Elementarerziehung, die Förderung der Systeme zu Lasten individueller Transferleistungen und die konsequente Ausrichtung aller Maßnahmen auf Inklusion, Beteiligung und den Zusammenhalt unserer Gesellschaft. Dazu müssen Geld und Geist zusammenwirken.

Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit.

(1) Die Zahlen sind der IAB - Kurzbericht 6 /2011 (März 2011) entnommen. Titel: Bedürftige Kinder und ihre Lebensumstände