Statement des EKD-Ratsvorsitzenden bei der Pressekonferenz anlässlich der Vorstellung der EKD-Denkschrift „‘Und unseren kranken Nachbarn auch!‘ Aktuelle Herausforderungen der Gesundheitspolitik“, Düsseldorf

Nikolaus Schneider, Vorsitzender des Rates der EKD

Seit Anfang der 90er Jahre beobachten wir eine zunehmend wettbewerbliche Ausrichtung des Gesundheitswesens. Hilfsangebote werden als Dienstleistungen begriffen. Versicherte werden als Kunden betrachtet, die mit ihrer Suche nach Qualität den Wettbewerb um die beste Versorgung befördern. Die Eigenverantwortung der Bürgerinnen und Bürger wird immer mehr in den Mittelpunkt gerückt. Im Krankenversicherungssystem wird zwischen solidarisch abgesicherten Grundleistungen und privaten Ergänzungsleistungen unterschieden. Einzelne Risiken werden privatisiert, gesetzlich Versicherte müssen immer mehr Zusatzkosten tragen.

Der Ruf nach Eigenverantwortung trifft die besonders hart, die jetzt schon belastet sind. Wir wissen, dass Menschen in prekären Lebensverhältnissen sich besonders schnell ausgeschlossen fühlen und resignieren, weil sie nicht über innere und äußere Ressourcen verfügen, die sie stark machen. Dazu gehören nicht nur tragfähige soziale Netze, sondern auch Bildung, auskömmliche Arbeit und gute Wohnverhältnisse. Gesundheit ist eben nicht nur eine Frage des Gesundheitswesens. Sie betriff Bildungs- wie Sozialpolitik, aber auch Kirche und Zivilgesellschaft.

In biblischen Zeiten war Kranksein eines der größten Hindernisse für soziale Teilhabe und führte schnell zum Ausschluss aus der Gemeinschaft. Dass sich das im Lauf der Geschichte geändert hat, ist nicht zuletzt eine Konsequenz der Kultur unseres Landes, die wesentlich von Diakonie und Caritas geprägt wurde. Hospize und Mutterhäuser, Gemeindeschwestern und christliche Politiker haben dafür gesorgt, dass die Hilfe für Kranke und Pflegebedürftige und die materielle Absicherung gegen Krankheitsrisiken seit Jahrzehnten ganz selbstverständlich zur sozialen Verfasstheit unserer Gesellschaft gehören. Dabei müssen familiäres und nachbarschaftliches Engagement, sozialstaatliche Daseinsfürsorge und Selbstsorge Hand in Hand gehen. Eigenverantwortung kann staatlich organisierte Solidarität nicht ersetzen.

Dieser Zusammenhang ist in der christlichen Soziallehre im Verhältnis von Personalität und Solidarität beschrieben worden. Dabei schließt Solidarität heute auch den gerechten Ausgleich zwischen den Generationen und den Respekt vor Menschen mit Behinderungen oder psychischen Erkrankungen ein.

Die Denkschrift, die wir heute vorlegen, erinnert an die theologischen und sozialethischen Grundlagen unseres Gesundheitswesens. Sie erinnert an den Zusammenhang von Gottesebenbildlichkeit und Menschenwürde, an die Verschränkung von Gottes- und Nächstenliebe, wie sie im Gleichnis vom Weltgericht zum Ausdruck kommt: „Was ihr getan habt einem von diesen meiner geringsten Brüder (heute würden wir sagen „Geschwister“), das habt ihr mir getan“ (Mt 25.40). Die Denkschrift erinnert an die Bedeutung sozialer Teilhabe, die in den Krankenheilungen Jesu sichtbar wird. Sie erinnert aber auch an die Notwendigkeit, die Begrenztheit unseres Lebens und unserer Kräfte anzuerkennen und der Versuchung zu widerstehen, unsere Endlichkeit mit allen Mitteln überwinden zu wollen. Denn die Achtung vor der Würde des Menschen kann sich darin zeigen, dass Heilungsmöglichkeiten genutzt werden – aber auch darin, dass Endlichkeit angenommen wird, Nur so ist zu vermeiden, dass der Kampf gegen Krankheit, Sterben und Tod eine Eigendynamik entwickelt, die dem menschlichen Maß nicht entspricht.

Das Maß nicht aus dem Blick verlieren – das gilt selbstverständlich auch im Blick auf die begrenzten wirtschaftlichen Ressourcen. So problematisch und auch fehlsteuernd eine rein ökonomische Steuerung des Gesundheitswesens ist – so sehr muss unterstrichen werden, dass die Forderung nach Effektivität und Effizienz der Leistungserbringung gerade im Blick auf solidarisch erbrachte Mittel notwendig ist.

Neben den Prinzipien von Personalität und Solidarität hat auch das Prinzip der Subsidiarität unseren Sozialstaat geprägt. Die Kirchen gehen davon aus, dass die beste Hilfe da geleistet wird, wo zunächst die Verantwortung vor Ort gestärkt wird; wo Schulen, Betriebe, Städte das Ihre tun, damit Menschen gesund leben können und auch die Leistungserbringenden ihr Handeln auf dem Hintergrund ihrer fachlichen Erfahrung selbst verantworten. Wirtschaftliche Kalküle alleine reichen nicht aus, wenn es um die Gestaltung von Gesundheitspolitik geht.

Der Dialog zwischen Ärztinnen und Patienten, zwischen Dienstleistenden und Hilfebedürftigen nimmt an Bedeutung zu, weil nicht nur die Eigenständigkeit,  sondern auch die Verschiedenheit der Menschen Berücksichtigung finden muss, wenn es gerecht zugehen soll. Alte Menschen brauchen eine andere Medizin und soziale Versorgung als jüngere, Frauen eine andere als Männer – nicht nur, was die klassische Gynäkologie angeht-, Sterbende brauchen keine curative, sondern eine palliative Medizin, Kinder sind eigenständige Patienten. Bei der Sorge für behinderte Menschen spielt Kommunikation eine Schlüsselrolle, gar nicht zu reden von der wachsenden Zahl von Migranten aus anderen Kulturkreisen, die in unserem Land leben. Gesund zu bleiben oder wieder gesund zu werden, aber auch mit Krankheiten zu leben, ist immer auch eine Frage der sozialen Beziehungen, der kulturellen Erwartungen und damit auch des Glaubens und der Religion.

Deshalb muss im Arzt-Patienten-Verhältnis ebenso wie in den Arbeitsabläufen der Pflegekräfte der Stellenwert der Beziehungszeit gestärkt und diese Stärkung auch ökonomisch gewollt werden. Derzeit haben sich, gerade auch in der Pflege, die Arbeitsabläufe so verdichtet, dass immer weniger Zeit für das persönliche Gespräch, für Anteilnahme und Begleitung bleibt. Das ist nicht nur in Deutschland ein Thema. Soeben haben Pamela Hartzband und Jerome Groopman im „New England Journal of Medicine“ einen Artikel veröffentlicht, in dem es heißt, die wichtigen psychologischen, spirituellen und humanistischen Aspekte der Beziehung zum Patienten, Altruismus und Barmherzigkeit, drohten verloren zu gehen- dabei hätten sie die Medizin für viele erst zur Berufung gemacht.

Das gilt, wie mir scheint, in noch höherem Maße für die Pflege. Angesichts des Altersaufbaus der Bevölkerung erhält die Ausgestaltung der Pflege eine immer größere gesellschaftliche Bedeutung. Neue Instrumente zur Ermittlung des Pflegebedarfs und der Qualitätssicherung müssen schrittweise eingeführt werden. Der Pflegebedürftigkeitsbegriff muss endlich so beschrieben werden, dass er auch soziale und kommunikative Aspekte und psychische Notsituationen zum Beispiel bei einer Demenzerkrankung angemessen berücksichtigt. Deshalb muss die Pflegeversicherung finanziell so dynamisiert werden, dass die gesetzlichen Leistungen bei steigenden Tariflöhnen und der allgemeinen Preisentwicklung verlässlich bereitgestellt werden können, und sie muss alle Einkommensarten einbeziehen. Die notwendige Aufstockung des Kapitalstocks der Pflegeversicherung muss solidarisch, gegebenenfalls auch aus Steuermitteln erfolgen. Künftige Gesetzgebungsschritte sollten allerdings dabei nicht stehen bleiben, sondern eine gesamtkonzeptionelle Lösung der Versorgung pflegebedürftiger, behinderter und alter Menschen anstreben.

In Matthias Claudius‘ Abendlied „Der Mond ist aufgegangen“ heißt es am Ende: „Verschon uns, Gott, mit Strafen und lass uns ruhig schlafen und unsern kranken Nachbarn auch.“ Eine zukunftsfähige Gesundheitspolitik wird sich daran messen lassen müssen, dass nicht nur wir selbst, sondern auch unsere „kranken Nachbarn“ ruhig schlafen können.

Es gilt das gesprochene Wort.