„Die Kraft des Zweifels. Warum evangelische Freiheit einer Gesellschaft gut tut.“ - Vortrag zum Reformationstag

Nikolaus Schneider

Sehr geehrte Damen und Herren, liebe Schwestern, liebe Brüder,

von der „Kraft des Zweifels“ zu reden in einer Zeit, in der wir alle uns nach Klarheit, Eindeutigkeit und Sicherheit sehnen, kann das uns und unserer Gesellschaft „gut tun“? Sollten wir uns nicht lieber darauf besinnen, was unserem Leben in diesen unsicheren Zeiten Halt und Verlässlichkeit gibt – gerade hier, in einer Kirche, und gerade heute, an dem Tag, an dem wir die Reformation Martin Luthers vergegenwärtigen?

„Gib mir einfach nur ein bisschen Halt.
Und wieg mich einfach nur in Sicherheit.
Hol mich aus dieser schnellen Zeit.
Nimm mir ein bisschen Geschwindigkeit“,

so heißt es in einem Lied der Musikgruppe Silbermond.

Es ist ein leises Lied, und in den Worten „wieg mich einfach nur in Sicherheit“ schwingen Sehnsucht und Fragen mit, die auch das Glauben, Hoffen und Lieben von uns Christenmenschen prägen: Wo und wie finde ich Halt und Sicherheit? Wo und wie bin ich fraglos und bedingungslos angenommen? Wo und wie wird mein unübersichtliches Leben mit all seinen Brüchen und dunklen Seiten ganz und heil?

Und auf unsere Gesellschaft bezogen: Wo und wie finden wir endlich klare und überzeugende Antworten auf die Frage nach einer tragfähigen und sozialgerechten Finanz- und Wirtschaftspolitik, auf die drängenden Fragen des Klimawandels, auf die immer neuen Bedrohungen durch Terror, Krieg und Gewalt?

Im Blick auf diese – auch mich „umtreibenden“ – Fragen, wäre es nahe liegender und plausibler gewesen, heute über die „Kraft des Vertrauens“ oder die „Kraft der Hoffnung“ zu reden und nicht über die „Kraft des Zweifels“. Manchmal aber, das ist meine Erfahrung, tut es uns selbst und auch unserer Gesellschaft gut, nahe liegenden Plausibilitäten in Frage stellen zu lassen.

Stellen wir uns also der In-Frage-Stellung durch das Thema des Vortrags: „Die Kraft des Zweifels. Warum evangelische Freiheit einer Gesellschaft gut tut.“

In drei Schritten will ich der Kraft des Zweifels nachspüren und dabei aufzeigen, inwiefern evangelische Freiheit auch eine Freiheit des Zweifelns ist und dass eben diese Freiheit nicht nur einzelnen Christenmenschen und der Kirche, sondern auch der Gesellschaft gut tut.

Zum Ersten:
Einige klärende Anmerkungen und Zuspitzungen zum „Zweifel“ und zur „Freiheit“, die ich meine.

Im Jakobusbrief heißt es unter der Überschrift „Der Christ in der Anfechtung“: „Er bitte aber im Glauben und zweifle nicht; denn wer zweifelt, der gleicht einer Meereswoge, die vom Winde getrieben und bewegt wird.“ ( Jak 1,6 )

Zweifel wird hier nicht als Kraft und Teil des Glaubens verstanden, sondern als eine zerstörerische „Gegenkraft“: Menschen, die zweifeln, verlieren gleichsam den festen Grund ihres Gottvertrauens und damit auch das Fundament evangelischer Freiheit. Ohne die Möglichkeit, auf Richtung und Ziel ihres Lebens selbstbestimmend und getrost Einfluss zu nehmen, sind die Zweifelnden „vom Wind getriebene“, haltlose Menschen.

Auch für Martin Luther schlossen Glaube und Zweifel sich gegenseitig aus. Der Zweifel ist und macht aus Luthers Sicht die Menschen „Gott-los“. Der zweifelnde Mensch begebe sich gleichsam auf Augenhöhe zu Gott, indem er in Frage stelle, ob Gott existiere oder nicht. Mit diesem auf Gott selbst gerichteten Zweifel maßt der Mensch sich an, zu „sein wie Gott“ und das ist für den Reformator der Sündenfall des Menschen.

Martin Luther erlebte und verstand Zweifel als „Anfechtung“, als eine „böse Macht“, die das Gottvertrauen und den Glauben eines Menschen rauben will.

Von solchen Erfahrungen schrieb auch Dietrich Bonhoeffer im Mai 1943 aus dem Gefängnis an seine Eltern: „Allerdings ist mir nie so deutlich geworden wie hier, was die Bibel und Luther unter „Anfechtung“ verstehen. Ganz ohne jeden erkennbaren physischen und psychischen Grund rüttelt es plötzlich an dem Frieden und an der Gelassenheit, die einen trug, und das Herz wird ... das trotzige und verzagte Ding, das man nicht ergründen kann; man empfindet das wirklich als einen Einbruch von außen, als böse Mächte, die einem das Entscheidende rauben wollen.“
( D. Bonhoeffer, Widerstand und Ergebung, Gütersloh 1998, S.70 )

Ich kann und will in diesem Vortrag nicht den im Jakobusbrief angesprochenen und von Luther und Bonhoeffer beschriebenen zerstörerischen Zweifel verharmlosen oder gar schönreden. Auch ich denke: Ein ganz grundsätzlich an Gott, am Leben, am Glauben, Hoffen und Lieben zweifelnder Mensch muss letztlich verzweifeln. Solch grundsätzlicher Zweifel steht im Widerspruch zur evangelischen Freiheit und tut weder den Einzelnen noch der Gesellschaft gut.

Mir geht es in diesem Vortrag um das konkrete Zweifeln von Menschen, etwa an dem Diktat von „das wurde immer so gemacht und deshalb ist es gut“, an vermeintlichen Sachzwängen, an bequemen Vereinfachungen, an herrschenden Mehrheits-Meinungen und auch an kirchlichen Traditionen und überlieferten und dogmatisch festgeschriebenen Glaubenswahrheiten.

Mir geht es um den konkreten Zweifel, den Hanns Dieter Hüsch, der theologische Kabarettist vom Niederrhein, einmal so beschrieben hat:

„Sie sagen
Idealismus ist ein Intelligenzdefekt.
Ich glaube es nicht.

Sie sagen
Die Bergpredigt wäre nicht so gemeint.
Ich glaube es nicht.

Sie sagen
Du sollst nicht töten ist so zu verstehen, dass...
Ich glaube es nicht.

Sie sagen
Bei etwas gesundem Menschenverstand
Müsste doch jeder...
Ich glaube es nicht.

Sie sagen
Selbst Christus würde, wenn er heute...
Ich glaube es nicht.

Und wenn man mir Berge
Schwarzen und roten Goldes verspricht
Ich glaube es nicht.“

( Hanns Dieter Hüsch, Das Schwere leicht gesagt, Freiburg 1994, S.18 )

Dieser konkrete Zweifel, dieses fragende, kritische, streitbare und manchmal auch bestreitende Nachfragen und Nachdenken verstehe ich als Teil – und nicht als Gegenkraft – einer lebendigen und vertrauensvollen Gottesbeziehung.

Dieser konkrete Zweifel ist für mich Ausdruck – und nicht Widerspruch – der evangelischen Freiheit eines Christenmenschen! Die Bindung an Gottes lebendiges Wort nämlich befreit Menschen von Selbstzwängen und Sachzwängen. In der Bindung an Gottes Wort können Menschen ihr menschliches Maß akzeptieren:

  • die Begrenztheit, die Zeitbedingtheit und die Vergänglichkeit alles Irdischen - im persönlichen Leben wie auch in allen Ordnungen und Strukturen;
  • die Fehlbarkeit des menschlichen Denkens, Planens, Entscheidens und Handelns – auch bei den Mächtigen dieser Welt und auch bei kirchenleitenden Menschen und Gremien;

aber auch:

  • die Fähigkeit des Menschen zum Fragen und Zweifeln, zur Umkehr, zu Veränderung und Neuanfang.

Martin Luther ging es darum, dass Christenmenschen vor Gott ihre Höllen-Angst verlieren und vor Gott und Menschen ihre Glaubens-Freiheit entdecken. Und dass sie in dieser Freiheit ihre Verantwortung vor Gott und für die Welt und ihre Mitmenschen wahrnehmen. Teil eben dieser evangelischen Freiheit und Verantwortung ist für mich in allen Lebensbereichen die Absage an blinden Gehorsam und der Mut zu konkretem Zweifel.

Zum Zweiten:
Ohne konkretes Zweifeln wird unser Glaube zu einer naiven und lebensfremden Sektiererei.

Die uns in der Heiligen Schrift bezeugte Gottesebenbildlichkeit des Menschen bedeutet: Menschen sind mit Gott und zu Gott „Beziehungs-fähig“. Sie können auf Gottes Wort hören und antworten. Sie können über die Grenzen ihrer Vernunft hinaus glauben, hoffen und lieben. Und sie können Verantwortung übernehmen mit ihrem und für ihr Denken, Reden und Handeln. Wissenschaftliches Fragen, Forschen, Behaupten und Bezweifeln – ein geradezu methodisches Zweifeln - gehören zu den dem Menschen geschenkten Begabungen. Entfalten kann und soll er sie auf allen Gebieten wissenschaftlicher Arbeit, in den Naturwissenschaften, in den Geisteswissenschaften und auch in der Theologie.

Die Theologie kann dabei konkrete Fragen und konkrete Zweifel des menschlichen Verstandes nicht vorschnell als „Geheimnis des Glaubens“ „abwürgen“. Wohl gilt, dass Gott und der Glaube an Gott größer und mehr sind als menschlicher Verstand und menschliche Logik es fassen und begründen können. Aber konkrete Zweifel an überlieferten Glaubenswahrheiten und das individuelle, ganz persönliche „Verstehen-Wollen“ von Gottes Wort und Gottes Offenbarungen dürfen - um der Redlichkeit wissenschaftlicher Arbeit und auch um Gottes willen – nicht verteufelt werden.

Es gibt immer wieder Zeiten, da sehnen wir Menschen uns nach fraglosen und zweifelsfreien Glaubensgewissheiten, nach Eindeutigkeit und nach Widerspruchsfreiheit in unserer religiösen Erfahrung und in unserem theologischen Denken. Da bedauern und beklagen wir, dass Gott uns sein Wort nur in „irdenen Gefäßen“, also nur in der unlösbaren Verbindung mit vielstimmigen Menschenworten offenbart hat. Und es gibt immer wieder Zeiten, da sehnt sich unsere Gesellschaft nach einem klaren, einstimmigen und eindeutigen Wort der christlichen Kirchen, mit dem dann wahre und falsche Propheten unterschieden und mit dem politische und ethische Entscheidungen eindeutig verurteilt oder gerechtfertigt werden können.

Ich will diese Sehnsucht nach zweifelsfreier Glaubenssicherheit in mir selbst nicht verdrängen, und ich habe auch Verständnis für das gesellschaftliche Verlangen nach zweifelsfreier und eindeutige kirchlicher Lehre in unruhigen Zeiten. Aber ich behaupte: Der Verzicht auf kritisches Denken und zweifelndes Fragen führt letztendlich zu einem toten Buchstabenglauben und zu einer naiven und lebensfremden Sektiererei.

Die Freiheit zum Zweifel tut unserem persönlichen Glauben, unserem theologischen Lehren und Lernen und auch der Verkündigung und den Strukturen unserer Kirche gut. Denn: Die Freiheit zum Zweifel hält unseren Glauben lebendig, öffnet unserem theologischen Lehren und Lernen neue Horizonte und verhindert, dass unsere Kirche das sie verpflichtende Erbe Martin Luthers vergisst: „ecclesia reformata semper reformanda est“.

Und zum Dritten:
Die Freiheit zum Zweifel tut unserer Gesellschaft gut. Denn sie fördert und wagt Aufbruch, Umdenken, Neubesinnung und Veränderung in festgefahrenen Strukturen.

Historisch ist deutlich: Die in der Reformation wieder neu entdeckte evangelische Freiheit – die wie oben ausgeführt die Freiheit zum Zweifel mit einschließt – war in ihren Auswirkungen nicht auf die Kirchengeschichte beschränkt. Zunächst für den Glauben und die Kirche proklamiert, wurde der Gedanke der Freiheit eines jeden Christenmenschen mitentscheidend für den demokratischen Weg unserer Gesellschaft.

Die reformatorischen Aussagen über die Person, ihre Freiheit und Verantwortung haben eine Dynamik entfaltet, die zugegebener Maßen von unseren Kirchen selbst nicht immer begrüßt wurden. So geriet etwa die „Aufklärung“ bei ihrer Aufnahme und Weiterführung des Freiheitsgedankens durchaus auch in Spannung zu Theologie und Kirche. Wir erkennen rückblickend jedoch, dass die aufklärerische Forderung nach dem „Ausgang des Menschen aus seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit“ als eine Entfaltung der reformatorischen Einsicht in die Unvertretbarkeit jeder Person verstanden werden kann – wenn auch mit dem nicht unerheblichen Unterschied, dass dies in der Aufklärung zumeist ohne die Rückbindung an Gott propagiert wurde.

Das reformatorische Freiheitsverständnis hat also im Lauf der Jahrhunderte weit über Kirche und Christentum hinaus in die Gesellschaft hineingewirkt. Ein Beispiel aus der Kultur: Nach evangelischer Überzeugung sollte ein zur Mündigkeit berufener Christenmensch verstehen, was er glaubt, und auch Rechenschaft über seinen Glauben geben können. Weil Glaube also auch „gebildeter Glaube“ sein sollte, wurden an vielen Orten Schulen „für alles Volk“ gefordert und gegründet. Dieser Bildungsimpuls zog die Einführung der allgemeinen Schulpflicht und eine breite Bildungsteilhabe in protestantischen Territorien nach sich, die später Allgemeingut der abendländischen Welt wurden.

Ein weiteres Beispiel aus der Politik: Die im Glauben begründete unmittelbare Stellung einer Person vor Gott schließt nach reformatorischem Verständnis aus, dass politische Institutionen Zugriff auf den Glauben der Einzelnen haben. Mit diesem Grundsatz wurde die Basis für die moderne Religions- und Gewissensfreiheit gelegt.

Zugegeben: Eine so motivierte Unterscheidung zwischen Kirche und Staat ist in der Geschichte des Protestantismus selbst nicht immer hinreichend eingehalten worden. Gerade aber im Hinblick auf die tiefgreifende Veränderung unserer Gesellschaft in Richtung multikultureller und multireligiöser Verhältnisse und auf unsere aktuelle Debatte mit dem Islam ist es unverzichtbar, diesen Grundsatz für unsere heutigen Bedingungen konkret zu entfalten.

Zusammenfassend also bleibt festzuhalten: Gesellschaftliche Strukturen, wirtschaftliches Handeln, Rechtsauffassungen, Wissenschafts- konzepte, Kultur, Kunst und Moralvorstellungen wurden und werden von dem Freiheits- verständnis der Reformation geprägt. Die Befreiung aus „klerikaler Bevormundung“ durch Luther und die Reformation ermutigte und ermutigt bis heute Christenmenschen, den Geist der Freiheit und die Kraft des Zweifels auch in nichtkirchlichen Lebensbereichen „wehen“ zu lassen. Und das, so denke ich, bewahrt eine Gesellschaft vor Verkrustungen und tut einer Gesellschaft gut!

Noch wichtiger und noch entscheidender aber ist für mich: Die Glaubensgewissheit – und das ist etwas anderes als Glaubenssicherheit –, von Gott unbedingt geliebt zu sein, in der Beziehung zu Gott aufgehoben zu sein und Gottes Liebe eben nicht durch blinden Gehorsam und duckmäuserisches Wohlverhalten oder dem Gehorsam gegenüber kirchlicher Lehrautorität verdienen zu müssen, diese Gewissheit schenkte und schenkt Christenmenschen nicht nur gegenüber Gott, sondern auch gegenüber anderen Menschen und gegenüber gesellschaftlichen Institutionen eine große Freiheit:

  • die Freiheit, Unrecht und Gewalt in unserer Gesellschaft nicht stumm erdulden zu müssen,
  • die Freiheit, Unrechtstrukturen, lebensfeindliche Lebensstile, menschenfeindliche Technik, menschenunfreundliche Bürokratie und auch lieblose kirchliche Lehrmeinungen und Strukturmaßnahmen kritisch zu hinterfragen,
  • die Freiheit, sich nicht abzufinden mit dem was ist, Zweifel zu haben und Zweifel zu äußern an dem, was Menschen sagen und tun, und damit Umdenken, Neubesinnung und Veränderung zu befördern.

Ich glaube, wenn Menschen ihre konkreten Zweifel im Gebet vor Gott bringen und in guten und schweren Zeiten in der Gewissheit leben, dass Gott den Menschen zugewandt ist und bleibt, dann kann ihnen aus dem Zweifel die Kraft erwachsen, unsere Gesellschaft auf das Reich Gottes hin zu verändern. Dann führt ihr Zweifel eben nicht zur Verzweiflung, sondern zu „Wider-Spruch“ und „Wider- Tat“ gegen böse Mächte und böse Menschen. Eingebettet ins „Beten und Tun des Gerechten“ bleibt der Zweifel so Teil und Ausdruck eines lebendigen Glaubens.

Dann gilt, so denke ich, die Jahreslosung für das vor uns liegende Jahr 2012 in etwas abgewandelter und auf den heutigen Abend zugespitzter Form: „Gottes Kraft ist in den Zweifelnden mächtig!“ ( nach 2.Kor 12,9 )

Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit!