"Sozialer Protestantismus und soziale Gerechtigkeit" - Rede zur Eröffnung des Friedrich Karrenberg Hauses der EKD in Hannover

Nikolaus Schneider

Meine sehr geehrten Damen und Herren, liebe Schwestern und Brüder,

ich freue mich, Sie hier heute anlässlich eines besonderen Ereignisses begrüßen zu können: wir eröffnen das Friedrich Karrenberg Haus der EKD. Es ist schön, dass es gelungen ist, hier die Kirchlichen Dienste für Arbeitswelt und Wirtschaft und für Kirchen- und Religionssoziologie zusammen zu führen – in einem neuen Zentrum des Sozialen Protestantismus, dem Haus für Evangelische Sozialethik.

Friedrich Karrenberg, dessen Namen wir diesem Haus gegeben haben, ist eine der großen Gestalten des Sozialen Protestantismus und der Evangelischen Sozialethik vor und nach dem Zweiten Weltkrieg gewesen. Sein Wirken ist vor allen Dingen in der Rheinischen Landeskirche zu verorten – dort ist er bislang wohl auch bekannter, aber er hat weit darüber hinaus in die sozialethische Arbeit der EKD hineingewirkt. Friedrich Karrenberg, als Sohn eines mittelständischen Unternehmers in Velbert geboren, studierte Nationalökonomie und kam schon früh mit religiös-sozialen Bewegungen in der Weimarer Republik in Kontakt. Er begegnete Günther Dehn, Paul Tillich und Karl Barth und hat sich im Rahmen seiner ökonomischen Forschung ausführlich mit dem religiösen Sozialismus auseinandergesetzt. Während der Zeit des Nationalsozialismus gehörte er zur Bekennenden Kirche und stand im engen Dialog mit Vertretern des Freiburger Kreises, der entscheidend für die Schaffung der Grundlagen der Sozialen Marktwirtschaft nach Ende des Krieges gewesen ist. Karrenberg gehört zu den Gründern des Sozialethischen Ausschusses der Rheinischen Kirche, dessen Vorsitzender er bis zu seinem Tod war. Unter seiner Leitung entstanden Stellungnahmen zur Freiheit des Eigentums, der Mitbestimmung und der wirtschaftlichen Ordnung. Er hat die Kammer für soziale Ordnung der EKD mit ins Leben gerufen; ebenso die Evangelische Akademie in Mühlheim und das Sozialwissenschaftliche Institut der EKD in Bochum, das sich heute hier im neuen Zentrum befindet. Ebenso begründete er das Evangelische Soziallexikon, das mittlerweile in achter Auflage erschienen ist.

Sozialkammer, Soziallexikon, Sozialwissenschafliches Institut – Friedrich Karrenberg ist eine herausragende Gründungsgestalt der sozialethischen Arbeit in der EKD. Und so freue ich mich als Rheinischer Präses und als Ratsvorsitzender der EKD, dass das neue Haus hier in Hannover, das sich in dieser Tradition versteht, nun seinen Namen trägt. Inhaltlich steht Karrenberg in der Nähe des deutschen Ordo-Liberalismus und in der Tradition der Begründer der Sozialen Marktwirtschaft wie Alexander Rüstow oder Walter Eucken die ebenfalls durch die Ideenwelt des Sozialen Protestantismus angeregt waren. Der Soziale Protestantismus bildet weiterhin einen wichtigen Rahmen zur Erarbeitung aktueller sozialethischer Beiträge zu wirtschafts- und gesellschaftspolitischen Fragestellungen, wie sie auch hier erarbeitet werden.

Dabei reichen die Wurzeln des Sozialen Protestantismus weit zurück ins 19. Jahrhundert bis zum Reformprogramm der Inneren Mission, in dem Johann Hinrich Wichern und andere die soziale und gesellschaftliche Programmatik der Reformation wieder entdeckten. Wichern und die Fliedners oder Wilhelm Löhe und Gerhard Uhlhorn hoben die Bedeutung ehrenamtlichen und sozialen Engagements für das protestantische Selbstverständnis hervor, sie regten neue Initiativen an, gründeten Schulen und Vereine zur Krankenpflege, Kindererziehung und Erneuerung der Stadtteile. Diese diakonischen Unternehmungen entstanden samt und sonders neben der damaligen Staatskirche, sie lebten vom gesellschaftlichen Engagement einzelner Pfarrerinnen und Pfarrer, aber auch von Unternehmern und Kaufleuten, die mit Spenden, Krediten und Bürgschaften wie mit ihren guten Kontakten zum Gelingen beitrugen. Kaufleute wie Victor Aimé Huber, Gustav Werner oder Friedrich Wilhelm Raiffeisen waren es dann später, die mit der Gründung neuer Genossenschaften für Selbstbestimmung und Selbstverwaltung eintraten. Zur Zeit Bismarcks wurden dann die Ideen eines christlich begründeten Staatssozialismus prägend. Theodor Lohmann zum Beispiel, der an einer Reihe von Sozialreformen unter Bismarck arbeitete, war ganz in der Linie Wicherns der Auffassung, die Kirche habe die Aufgabe „das ganze irdische Leben, insbesondere auch die wirtschaftliche und gesellschaftliche Seite desselben mit dem Sauerteige des Evangeliums zu durchdringen“. „Nach christlicher Auffassung“, schreibt er, sei „jeder irdische Besitz und ebenso die Arbeitskraft eine Gabe Gottes, für deren Verwaltung und Verwertung. der Inhaber vor Gott verantwortlich ist.“[1] Diese Traditionslinien bündelten sich seit 1890 im Evangelisch-Sozialen Kongress, dem wichtigsten Diskussions- und Aktionsforum des Sozialen Protestantismus. Das Diskussionsspektrum blieb dabei höchst plural: von betont konservativen patriarchalischen Traditionen, in denen viele auch Johann Hinrich Wichern verorten über den sozialliberalen Protestantismus eines Friedrich Naumann bis zur christlich-sozialistischen Bewegung in der Weimarer Republik. Hier finden sich linke und liberale genauso wie konservative Denker. Große Namen von Friedrich Naumann bis zu Werner Eucken. Keine Frage: für die sozial- und wirtschaftspolitische Entwicklung Deutschlands wie für die Entwicklung der Zivilgesellschaft mit ihren Vereinen und Verbänden hat der Soziale Protestantismus prägende Bedeutung gehabt.

Die Herausgeber des Jahrbuchs Sozialer Protestantismus, das auch das Jahrbuch des VKWA und des Sozialwissenschaftlichen Institutes ist, machen deutlich, welche Rolle diese Traditionslinien bis heute spielen: Sie schreiben in einem Grundlagenpapier: „Sozialer Protestantismus erfährt seine Identität in den Grundentscheidungen der Reformation: in Gottes Freispruch jedes einzelnen Menschen von allen Mächten und Gewalten jenseits aller seiner eigenen Werke und Verdienste. In diesem Freispruch ist seine Würde begründet, die er nicht verlieren kann, weil er sie nicht selbst konstituiert. Armut beeinträchtigt sie nicht und Reichtum fügt ihr nichts hinzu; vor Gott sind alle Menschen gleich. Allerdings gibt es Lebenssituationen in Armut, die der Würde des Menschen Hohn sprechen, sowie ein falsches Streben und Vertrauen auf Reichtum, das im Widerspruch zu dieser Würde steht.“ Und weiter heißt es dort: „Aus diesen Bestimmungen fließen Leitbilder für eine im christlichen Sinn gerechte Gesellschaft, an deren Gestaltung Christen mitwirken sollen. Eine solche Gesellschaft muss so gestaltet sein, dass alle gesellschaftlichen Institutionen nicht nur die Würde aller Menschen achten und respektieren, sondern die Erweiterung der Freiheit der Einzelnen zum Ziel haben.“ Die Herausgeber fordern, dass alle Menschen ihre von Gott gegebenen Gaben aktiv in die Gesellschaft einbringen und so an der Gestaltung des gemeinsamen Lebens teilhaben können. Angestrebt wird eine Gesellschaftsordnung, die die Würde jedes und jeder Einzelnen respektiert, durch eine gestaltete Wettbewerbsordnung für ein effizientes Wirtschaften sorgt und durch eine verlässliche Sozialordnung sozialen Friedens ermöglicht.

Unter dem Eindruck der aktuellen gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Veränderungen und der Transformation des Sozialstaates ist in den letzten Jahren ein neues Leitbild der evangelischen Sozialethik entwickelt worden – der entscheidende Schlüssel dabei ist die "Teilhabegerechtigkeit". In der Denkschrift "Gerechte Teilhabe" (2006), der so genannten "Armutsdenkschrift" der Kammer für soziale Ordnung der EKD, sind die wichtigsten Grundüberlegungen dazu festgehalten. Weitere Positionen zu einem gerechten Steuersystem, zur Frage der Gerechtigkeit im Niedriglohnsektor, zu unternehmerischem Handeln und anderen Feldern sind dem gefolgt. Der Grundgedanke ist stets, dass jeder und jede einzelne von Gott mit Gaben ausgestattet ist, die er oder sie in die gesellschaftliche Korporation einbringen will und soll. Damit das gelingt, sind Bildungschancen genauso nötig wie Arbeitsplätze – auch für ältere Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer und Menschen mit Behinderung, für Väter und Mütter wie für Menschen, die ihre Eltern pflegen. Trotz aller wirtschaftlichen Erfolge, über die wir uns in den letzten Jahren gefreut haben, bleibt hier noch viel zu tun: mehrfach hat sich die EKD mit den Fragen von Armutsüberwindung, mit gerechter Bildung und prekärer Beschäftigung auseinandergesetzt. Prekäre Beschäftigungsverhältnisse untergraben teilhabegerechte Strukturen. Sie verhindern, dass Menschen ihre Fähigkeiten voll entfalten und an der Gesellschaft Anteil haben können.

Noch nie hat es so hohe Managergehälter wie heute in der deutschen Wirtschaft gegeben. Die Reallohn- oder gar die Vermögensentwicklung der Masse der Bevölkerung aber stagnierte in den letzten Jahren. Vor diesem Hintergrund hat die EKD auch die Reformbestrebungen um die damalige Agenda 2010 in ihren Ansätzen zunächst durchaus wohlwollend, aber dann zunehmend kritischer begleitet. Im SGB II fehlen ermutigende und wirklich fördernde Möglichkeiten, die die Einzelnen wesentlich besser als bisher in den Stand setzen könnten, ihre Fähigkeiten zu entwickeln. Ohne den Ausbau öffentlicher Beschäftigung und eine stabile Personalentwicklung in den Jobcenters wird es nicht gehen. Dazu gehören auch gerechte Zugänge zu Bildung und Beschäftigung für alle und ein Grundeinkommen, dass Arbeit und Leistung honoriert, zugleich aber die Würde jedes und jeder Einzelnen sichert. Deshalb habe ich mich persönlich auch immer wieder für einen gesetzlichen Mindestlohn eingesetzt und freue mich, dass inzwischen in vielen Bereichen branchenbezogene Mindestlöhne verwirklicht worden sind. In einer Zeit, in der immer mehr Flexibilität von den Arbeitnehmenden erwartet und arbeitsmarktpolitisch auch umgesetzt wird, brauchen wir im Gegenzug eine breite soziale Sicherung.

Angesichts der Krise der Finanzmärkte und der neuen Herausforderungen, die damit verbunden sind, hat das Leitparadigma der Teilhabegerechtigkeit noch einmal an Aktualität gewonnen. Diese Krise hat die westliche Welt an den Rand eines Zusammenbruchs gebracht; der erarbeitete Wohlstand, der gesellschaftliche Reichtum wurde riskiert, weil unverantwortliche Risiken eingegangen wurden. In der Folge musste die Gemeinschaft, sprich der Staat, hohe Summen aufbringen, um private Risiken gesellschaftlich aufzufangen: Privatisierung der Gewinne und Sozialisierung der Verluste in ungeahntem Ausmaß. Ganz in der Tradition des sozialen Protestantismus und der Sozialen Marktwirtschaft brauchen wir dringend verantwortliche Regulierungen der Finanzwirtschaft, die dafür sorgen, dass es zu Risikobegrenzungen kommt, auch wenn dies um den Preis einer Wachstumsbegrenzung geschieht. Wachstum darf nicht länger ein Fetisch unserer Gesellschaft sein.

Wachstum und Wohlstandsentwicklung sind in der Tradition des Sozialen Protestantismus ein Mittel, gerechte Verhältnisse herzustellen. Dabei geht es heute nicht mehr nur um soziale Gerechtigkeit, sondern auch um Umweltgerechtigkeit. Die schon spürbaren Folgen der allgemeinen Klimaerwärmung zeigen, dass die Grenzen eines rein quantitativ bestimmten und am Bruttoinlandsprodukt orientierten Wachstums endgültig erreicht sind. Darauf hat die EKD immer wieder hingewiesen. Gemeinsam mit vielen anderen fordern wir neue Nachhaltigkeitskriterien, an denen sich die Entwicklung von Wirtschaft und Gesellschaft ausrichten soll. Darüber wird unter anderem auch auf dem Transformationskongress, der am 8. und 9. Juni in Berlin stattfindet, diskutiert werden. Neben dem DGB und den Umweltverbänden gehört auch das Sozialwissenschaftliche Institut zu den Trägern. Es geht darum, das Bewusstsein für einen grundsätzlichen Wandel in der Gesellschaft voranzubringen.

In diesem Zusammenhang spielt Europa eine entscheidende Rolle. Die Krise der gemeinsamen Währung in Europa muss dazu genutzt werden, um die europäische Gemeinschaft zu vertiefen – im Sinne einer Gemeinschaft, in der die einzelnen Partner tatsächlich füreinander einstehen. Dabei kommt Deutschland als dem wirtschaftlich erfolgreichsten Land in der Europäischen Union die größte Verantwortung zu. Natürlich müssen auch in diesem Kontext klare Verantwortungsstrukturen existieren, die das Eingehen von Risiken im Sinne von Verschuldungen eindeutig begrenzen. Aber klar ist auch, dass alleine über eine restriktive Anti-Verschuldungspolitik ein solidarisches Europa nicht geschaffen werden wird. Gerade die Länder des Südens brauchen in Zukunft tatkräftige Unterstützung, damit sie aus der von ihnen sicherlich auch selbst mit verschuldeten Situation wieder herauskommen können. Arbeitsplätze und wirtschaftliche Entwicklung sind dabei vordringlich, aber auch die Entwicklung einer europäischen Sozialordnung.

Sie sehen, meine Damen und Herren, wie aktuell Sozialer Protestantismus auch heute ist. Im neuen Friedrich Karrenberg Haus wird dieser Soziale Protestantismus durch den "Evangelischen Verein Kirche Wirtschaft Arbeitswelt" (VKWA) und das "Sozialwissenschaftliche Institut der EKD" (SI) repräsentiert. Die beiden Einrichtungen werden nachher noch ausführlicher vorgestellt.

Im jüngsten Freiwilligensurvey wird die immense Bedeutung deutlich, die konfessionelle und gerade protestantisch gebundene Menschen für das gesamte bürgerliche Engagement in Deutschland haben. Mehr als zwei Drittel der Engagierten sind konfessionell gebunden. Die Kirchen stehen für die Werte, aus denen unsere sozialen Traditionen leben.

Lassen Sie mich daher mit einem Gedanken Friedrich Karrenbergs schließen, der nach wie vor Gültigkeit hat: Es kann ein ernster Fehler sein, die Marktwirtschaft als ein "rein technisches Problem" zu betrachten und den Wettbewerb in ein "Organisationsprinzip wirtschaftlicher Zweckmäßigkeiten" umzudeuten. Aus der Marktwirtschaft muss eine "wirklich ‚soziale‘ Marktwirtschaft erst werden."

Dazu sind wir alle zur Mitwirkung gerufen – und ich freue mich, dass die genannten Organisationen sich dieser Aufgabe nun gemeinsam im neuen Zentrum für Sozialen Protestantismus, dem Friedrich Karrenberg Haus, stellen.

Fußnote:

1 Die Aufgabe der Kirche und ihrer Inneren Mission angesichts der wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Kämpfe der Gegenwart