Rede auf dem Johannisempfang: Christliche Verantwortung für ein Europa der Toleranz – Ermutigung ein Eigenes zu suchen und das Offene zu schauen

Nikolaus Schneider

Wenn ich ein Europa der Toleranz mit einem Schiff vergleiche, denke ich nicht an ein Kreuzfahrt- oder "Traumschiff". Dieses Schiff ist eher wie einst das Schiff des Odysseus. Es musste auf einem Kurs voller Untiefen und gegenläufiger Strömungen steuern. Der Sage nach wurde das Schiff des Odysseus bedroht von den Menschen-fressenden und Schiffe-vernichtenden Meeresungeheuern Skylla und Charybdis. Auch Europa muss auf einem gefährdeten Weg gesteuert werden. Mehr als zwei "Meeresungeheuer" bedrohen das Schiff und fordern die Steuer-, Ruder- und Segelkunst der Mannschaften an Bord des Schiffes "Europa der Toleranz" heraus.

Viele von Ihnen wissen sich eingebunden in die Verantwortung für den Kurs, die Fahrtüchtigkeit und die Fahrt des Schiffes Europa. Und viele von Ihnen könnten Geschichten erzählen von Bedrohungen und Gefahren, in ihrem Bemühen um ein Europa der Toleranz zerrieben zu werden.

Die Perspektive meiner Rede ist die christliche Verantwortung für ein Europa der Toleranz. In dieser Perspektive zeigt sich Skylla mit dem Gesicht einer verordneten Gleichmacherei. Skylla verunglimpft und frisst das je Eigene. Charybdis dagegen zeigt sich mit dem Gesicht der Verabsolutierung des je Eigenen. Sie verteufelt, verschlingt und zerstört alles Offene.

Ohne Eigenes aber können Menschen keine tolerante Lebenshaltung entwickeln. Und in Furcht und Kampf gegenüber allem Offenen kann Toleranz nicht gestaltet und gelebt werden. Ein Zitat Hölderlins soll heute helfen bei der Bestimmung des Kurses, um einen Weg zwischen Skylla und Charybdis zu finden.

"So komm! Dass wir das Offene schauen,
dass ein Eigenes wir suchen, so weit es auch ist",
heißt es bei Hölderlin.

In Anlehnung an dieses Zitat konkretisiere ich im Folgenden das Thema "Christliche Verantwortung für ein Europa der Toleranz" unter den beiden Aspekten "Ermutigung ein Eigenes zu suchen" und "Ermutigung das Offene zu schauen".

Zum Ersten: Ermutigung ein Eigenes zu suchen.

In Europa leben wir heute mit Menschen aus Polen, Italien und Frankreich, mit Orthodoxen, Muslimen, Buddhistinnen und Atheisten Tür an Tür. Vielleicht lebten noch nie so viele Menschen so vieler Ethnien und so unterschiedlicher kulturell-religiöser Prägung in Europa auf so engem Raum zusammen.

Die Erkenntnis, dass unsere Lebensräume in Europa sich pluralisiert haben, ist zu einer Binsenweisheit geworden. Ebenso die Erkenntnis, dass diese Pluralität nach Toleranz verlangt, wenn Menschen in einem gerechten Frieden zusammenleben wollen. Doch es reicht nicht aus, Toleranz abstrakt zu beschwören, zu bekennen und zu fordern. Wir brauchen eine unserem heutigen Kontext angemessene Begriffsklärung von Toleranz. Und wir brauchen einen gesellschaftlichen Diskurs zu den Fragen nach ihren Zielen, Grenzen und konkreten Implikationen. Mit dem Themenjahr "Reformation und Toleranz" stellt sich die EKD diesen Fragen. Und ich nehme mit Freude wahr, wie in der Perspektive christlicher Verantwortung die Gliedkirchen und Partnerkirchen der EKD sich an diesem Diskurs beteiligen.

Der Toleranzbegriff hat sich historisch von einer Duldungs-Toleranz im Blick auf religiöse Minderheiten hin zu einer Respekt-Toleranz entwickelt. Diese zielt auf die wechselseitige Achtung unterschiedlicher Lebens- und Glaubensüberzeugungen. Eine Respekt-Toleranz kämpft nicht gegen Pluralisierung. Sie stellt sich vielmehr der Aufgabe, in versöhnter Verschiedenheit in und mit dieser Pluralität zu leben.

So formulierte die Synode der Evangelischen Kirche in Deutschland schon im Jahr 2005 zu dem Schwerpunktthema "Tolerant aus Glauben" als erste von zehn Thesen: "Als evangelische Christinnen und Christen nehmen wir den Pluralismus in unserer Gesellschaft als Chance und Herausforderung an. Dabei wollen wir unseren Glauben offen bekennen, leben und für ihn werben. Glaubensgewissheit und Toleranz gehören für uns zusammen."

Glaubensgewissheit und Toleranz gehören zusammen – diese Behauptung steht quer zu dem verbreiteten Urteil, schon die Suche nach Glaubenswahrheit und erst recht jede Glaubensgewissheit seien ein Nährboden von Intoleranz.

Ich halte dagegen: Die Gefahr, bei der Suche und Wahrung des Eigenen von Skylla verschlungen zu werden, wird umso größer, je weniger sich Menschen angstfrei in ihrem Glauben oder anderen Überzeugungen aufgehoben und beheimatet wissen. Fundamentalismen nehmen zu, wo Unsicherheit und Ängste regieren. Übrigens: auch laizistisch-szientistische Weltbilder können fundamentalistisch benutzt werden.

Die Forderung nach einem staatlich verordneten Laizismus und nach Ausgrenzung der Religionen aus dem öffentlichen Raum fördert gerade nicht eine Respekt-Toleranz in weltanschaulich pluralen Gesellschaften. Leben mit dem bleibend Anderen können wir gerade nicht lernen, wenn wir die Suche nach Glaubenswahrheit und Glaubensgewissheit in die Hinterhöfe und in private Zirkel verbannen.

Der Kurs eines Europas der Toleranz wird allerdings auch gefährdet, wenn Religionen und Weltanschauungen ihr Eigenes von jeder kritischen Reflexion und In-Frage-Stellung abschotten. Religiöse Überzeugungen und Glaubensgewissheiten, die sich nicht kritischer Rationalität aussetzen und Aufklärung zu ihrem Feind erklären, sind ein Nährboden von Intoleranz. Hier lauert Charybdis, um das Schiff der Toleranz zu verschlingen.

Respekt-Toleranz zu lernen und zu üben bleibt deshalb für alle weltanschaulichen und religiösen Gruppen ein Dauerthema – auch für unsere evangelische Theologie und unsere evangelischen Kirchen. Zu deren "Eigenem" gehört die Einsicht, dass uns in der Bibel Gottes- und Menschenwort untrennbar verbunden begegnen. Auch die beste Exegese vermag nicht eindeutig zu sagen, wo Gottes ewiges Wort und wo zeitlich bedingtes Menschenwort uns anspricht. In diesem Bewusstsein können wir in respektvoller Toleranz auch mit verschiedenen ethischen Optionen in Christus verbunden bleiben.

Das zeitlos "Eigene", das wir als Christinnen und Christen immer wieder neu suchen, wahren und öffentlich einbringen wollen, liegt in der Gewissheit:

Jesus Christus ist das lebendige Wort Gottes, das den Himmel öffnet, Himmel und Erde miteinander verbindet, Menschen Anteil gibt an Gottes Wahrheit, eine Hoffnung über den Tod hinaus schenkt und die Lebensangst nimmt.

Dieses Eigene will das ganze Leben der Glaubenden durchdringen, also auch ihr öffentliches Reden, Entscheiden und Handeln. Dem entspricht, dass das Grundgesetz eine Freiheit zur Religion im öffentlichen Raum garantiert.

Zugleich aber stattet dieses Wort Gottes die Glaubenden mit selbstkritischer Demut aus. "Jetzt erkenne ich stückweise", sagt Paulus (1. Korinther 13, 12). Das bedeutet: Zum menschlichen Maß gehört niemals eine absolute und vollkommene Wahrheitserkenntnis. Unsere je eigene Wahrheitserkenntnis und Glaubensgewissheit werden immer partikular und kontextuell sein. Ob und wo Gottes Geist auch den uns fremden und oft so befremdlich Anderen Gottes Wahrheit zu-Teil-werden lässt, steht nicht in unserer Macht – Gott sei Dank!

In respektvoller Toleranz das Eigene zu suchen und zu wahren, bringt also mit sich, die eigenen Glaubensgewissheiten auch in öffentlichen Diskussionen mit Verstand und Sachverstand zur Sprache zu bringen, selbstkritisch zu reflektieren und in Frage stellen zu lassen. Auf der Basis einer Respekt-Toleranz widerspricht dem keineswegs, wenn auch wir das je Eigene der Anderen, also ihre Glaubenswahrheiten und Lebensgewissheiten, respektvoll prüfen und kritisch befragen.

Dabei werden wir auch an die Grenzen der Toleranz stoßen. In dem Roman "Der Zauberberg" von Thomas Mann belehrt der atheistische Freimaurer Settembrini den Ingenieur Hans Castorp: "Prägen Sie sich immerhin ein, dass Toleranz zum Verbrechen wird, wenn sie dem Bösen gilt." (Thomas Mann, Der Zauberberg, Frankfurt 1974, S. 713)

Auch wenn ich der Voraussetzung Settembrinis nicht zustimme – er sieht in metaphysischen Überzeugungen den Wurzelgrund des Bösen und will Gott aus dem Denken der Menschen streichen –, das Böse als Grenze der Toleranz haben wir immer wieder neu zu bedenken und zu benennen. Die Aufdeckung der Mordserie der neo-nationalsozialistischen Zwickauer Zelle und der jetzt laufende Prozess in München machen deutlich: Toleranz muss da ihre Grenze haben, wo die Würde und das Leben anderer Menschen auf dem Spiel stehen. Toleranz gegen menschenfeindliche Ideologien, gegen Antisemitismus, Rassismus und Fremdenfeindlichkeit darf es nicht geben. Toleranz wird zum Verbrechen, wenn wir unbeteiligt zusehen, wie andere Menschen verunglimpft, angegriffen, verletzt und ermordet werden.

Christliche Verantwortung für ein Europa der Toleranz ermutigt dazu, "ein Eigenes" zu suchen und zu wahren, solange es nicht auf Kosten der Anderen und nicht mit dem Ziel der Eliminierung des Anderen einhergeht. In dieser Überzeugung hat der Rat der EKD im Oktober 2012 ein Wort zur Stärkung des Europäischen Zusammenhalts veröffentlicht. Darin heißt es:

"Die Vision einer versöhnten Verschiedenheit kann nicht nur den Kirchen helfen, Zusammenhalt in Unterschieden zu gestalten. Aus der ökumenischen Erfahrung erwächst auch ein gemeinsamer Auftrag in der Welt. Wir setzen uns für eine politische Ordnung ein, in der Vielfalt und Respekt vor unterschiedlichen Identitäten als Stärke erlebt werden, eine Ordnung, in der Solidarität als bereichernder Prozess der Teilhabe erfahren und nicht als Einbahnstraße empfunden wird."

Die Bindung an Gottes Wort schenkt uns Menschen die Angstfreiheit, "Eigenes" zu suchen und zu wahren in respektvoller Toleranz gegenüber unseren Mitmenschen. Und diese Freiheit lehrt uns, in der Gewissheit des Eigenen mit Pluralität zu leben. Unsere Toleranz muss nicht an der alles Eigene verunglimpfenden Skylla oder an der alles Offene verschlingenden Charybdis scheitern. Wir können mit Fremdem und mit Fremden in versöhnter Verschiedenheit leben.

Zum Zweiten: Ermutigung das Offene zu schauen.

In Deutschland und Europa ist mittlerweile eine ganze Generation herangewachsen, für die Grenzkontrollen und Zollstationen, der Umtausch von Währungen und die Benutzung eines Reisepasses Dinge sind, die zu einer Fernreise in exotische oder weit entfernte Länder gehören. Diese "Generation Schengen" (so z.B. Der Stern, 29. Mai 2013) nimmt das Überschreiten von Staatengrenzen in Europa zuerst auf dem Handy wahr – wenn der Auslandstarif mit der sms angekündigt wird: "Willkommen in…".

Wir erfreuen uns an offenen Grenzen, offenen Märkten, offenen Bildungssystemen. Es ist eine Dynamik entstanden, die kaum jemand ernsthaft umkehren will. Diese Offenheit Europas gilt allerdings nicht an seinen Außengrenzen. Und innerhalb Europas auch nicht für die Flüchtlinge, die es nach Europa geschafft haben. Die Lage für viele Flüchtlinge ist verheerend und entspricht nur wenig den rechtsstaatlichen und menschenfreundlichen Prinzipien und Standards, auf die wir in Europa Wert legen und mit Recht stolz sind.

Wie kann und muss ein "Europa der Toleranz" seine Verantwortung für Flüchtlinge konkret gestalten? Viele Gemeinden und Landeskirchen in der EKD mahnen an, dass Menschen, die in der Hoffnung auf ein menschenwürdiges Leben ihre Heimat verlassen und nach Europa kommen, nicht zu Objekten restriktiver Politik werden dürfen. Es widerspricht unseres Erachtens einer Respekt-Toleranz, dass in Deutschland Flüchtlinge davon abgehalten werden, Sprachkurse zu besuchen, eine Berufsausbildung zu machen oder eine Arbeit anzunehmen. Es beschwert uns, dass viele der gut integrierten Flüchtlinge nur "geduldet" bleiben und kein Aufenthaltsrecht erhalten. "Kettenduldungen" sind kaum zu überschätzende Belastungen für die betroffenen Menschen!

Wir verkennen nicht, dass der Bundesinnenminister, die EU-Innenministerkonferenz und auch die Innenminister unserer Bundesländer angesichts der Flüchtlingsfragen vor schwierige und nur begrenzt lösbare Aufgaben gestellt werden. Die Gefahren von Missbrauch der Freizügigkeitsrechte und von Sozialbetrug sind nicht zu leugnen. Und wenn das je Eigene mit Integrationsunwilligkeit verbunden wird, kann das Einheimische an die Grenzen ihrer Toleranz führen. Für Schutzsuchende müssen die Grenzen aber offen stehen. Die vielzitierten Werte, die unseren Staatenbund zusammenhalten, müssen sich auch in unseren Entscheidungen zur Flüchtlingspolitik niederschlagen.

Ein Beispiel für diese Werte zeigt sich im Engagement der Bundesregierung in Syrien: Nicht nur dass Deutschland die Nachbarländer Syriens großzügig finanziell unterstützt – die Bundesregierung hat sich auch entschieden, 5000 Flüchtlingen in Deutschland Aufnahme zu gewähren. Dies tragen alle Fraktionen im Bundestag. Einmütig hat sich der Bundestag dazu entschieden, einen interfraktionellen Antrag auf den Weg zu bringen, der sogar die Bundesländer ermutigt, über das Kontingent hinaus Familienangehörige nach Deutschland zu holen. Dafür möchten wir uns herzlich bedanken!

Eigenes zu wahren und Offenheit nicht zu fürchten stehen in einer nicht auflösbaren Spannung zueinander, die manche konkrete Zerreißprobe zu bestehen hat. Eine grenzenlose Offenheit kann Eigenes verschlingen. Die Öffnung aller Grenzen und eine unbegrenzte Zuwanderung in die europäischen Staaten würden die einheimische Bevölkerung und die Kommunen überfordern, wohl auch Heimat zerstören und Beheimatung verhindern. Eine engherzige Angst vor Offenheit aber wird unser Eigenes pervertieren. Der Ausbau einer "Festung Europa" und unmenschlicher Umgang mit Flüchtlingen in Europa machen unser "Europa der Toleranz" zur Illusion.

Schlussbemerkung

Als Kirchen nehmen wir unsere Verantwortung für ein Europa der Toleranz wahr durch unsere Arbeit vor Ort in den Gliedkirchen und unsere Vertretungen in Berlin und Brüssel. Dabei sehen wir die Aufgabe der Kirchen nicht allein darin, konkreten Menschen konkrete diakonische und humanitäre Hilfe zu leisten. Und deshalb verstehen wir unsere öffentlichen Verlautbarungen etwa zur Religionsfreiheit und zur Flüchtlingspolitik, zur Sozial-, Familien- und Wirtschaftspolitik nicht als übergriffige politische Anmaßungen, sondern als theologisch begründete Diskursbeiträge, die aus Gottes Wort und Weisung orientierende Kraft entfalten.

Das gilt auch für die Orientierungshilfe "Familie als verlässliche Gemeinschaft stärken", die die EKD kürzlich vorgestellt hat. Die Schrift legt den Akzent auf die biblischen Werte Vertrauen, Verlässlichkeit, Verbindlichkeit, Fürsorge und Gemeinschaftsgerechtigkeit. Die rechtlichen Formen familiären Zusammenlebens haben diese Werte zu schützen und zu fördern. Dabei bleibt die traditionelle lebenslange Ehe und Familie das Leitbild unserer Kirche, aber nicht mehr die einzige Form, die auf den Segen Gottes hoffen kann. Wir haben daher bewusst eine Ausweitung und einen Wechsel der Perspektive vorgenommen, aber keinen Kurswechsel. Wir freuen uns über die rege Diskussion, die die Veröffentlichung dieses Textes in allen Bereichen der Öffentlichkeit ausgelöst hat, denn das Thema ist ein wichtiges und sollte breit diskutiert werden. Übrigens: heute ist der Jahrestag der Hochzeitsfeier Martin Luthers mit Katharina von Bora – ein hoch diskutiertes Ereignis zu seiner Zeit. Dem Reformator verdanken wir die Einsicht, dass die Ehe "ein weltlich Ding" und kein "Sakrament" ist – eine Einsicht, die Freiheit und Toleranz stärkt.

In christlicher Verantwortung beteiligen wir uns am öffentlichen Diskurs über die Frage, wie ein Europa der Toleranz politisch gestaltet werden kann. Gemeinsam mit der Deutschen Bischofskonferenz, der Konferenz Europäischer Kirchen und dem Kommissariat der Bischofskonferenzen der Europäischen Gemeinschaft werden wir im kommenden Frühjahr in Brüssel in einer ökumenischen Kirchenkonferenz ein Zeichen ökumenischer Verbundenheit zur Europa setzen.

"Furcht ist nicht in der Liebe, sondern die vollkommene Liebe treibt die Furcht aus." – so heißt es in der Bibel im 1. Johannesbrief (1. Joh. 4,18). Diese Gewissheit richtet unseren Kompass aus, um ein Europa der Toleranz auf seinem Weg zwischen Skylla und Charybdis erfolgreich zu steuern.