Festrede zum 60. Geburtstag von Landesbischof Prof. Dr. Martin Hein, Landeskirchenamt Kassel

Nikolaus Schneider

Es gilt das gesprochene Wort!

„Warum ist protestantische Theologie von ihrem Wesen her ökumenisch?“

Sehr verehrter Herr Landesbischof Prof. Dr. Hein, lieber Martin,

von Herzen gratuliere ich Dir ganz persönlich und im Namen des Rates der EKD zu Deinem 60. Geburtstag. Für Dein neues Lebensjahr wünsche ich Dir Gottes Geleit und Gottes Segen – sowohl für Deinen Dienst in unserer Kirche wie auch für Dein ganz privates Leben mit Ruth, Deinen Töchtern, Deinen Freundinnen und Freunden.

Du bist, lieber Martin, ein überzeugter und überzeugender protestantischer Theologe. Du bist leitender Geistlicher und theologischer Lehrer. Du reflektierst und gestaltest Dein kirchliches Leitungshandeln und Dein theologisches Lehren in der Überzeugung, dass beides einander bedingt und sich gegenseitig durchdringt. Aus theologischer Überzeugung bist Du als Bischof und als Professor ein leidenschaftlicher Ökumeniker. Vielfältige Partnerschaften mit Kirchen weltweit prägen "Deine" Landeskirche. Und Du selbst bist – auch für alle Gliedkirchen unserer EKD – im Ökumenischen Rat der Kirchen tätig. Gerade bist Du erneut von der Vollversammlung des Ökumenischen Rates der Kirchen in den Zentralausschuss als einem wesentlichen Leitungsorgan für die weltweite Ökumene gewählt worden. Mit großem Engagement hast Du Dich im "Ständigen Ausschuss für Konsens und Zusammenarbeit" engagiert, und Du wirst dies vermutlich auch in der nun begonnenen Legislaturperiode tun. Immer wieder war Deine Landeskirche Gastgeberin für Tagungen des ÖRK, die in bester Kooperation mit der EKD durchgeführt wurden. In Anlehnung an Luthers Feststellung "Erfahrung macht den Theologen" gilt für Deine Person der Satz: "Gelebte Ökumene macht den Ökumeniker!"

Im Blick auf Dein ökumenisches Leben will ich in meinem Festvortrag anlässlich Deines Geburtstages der Frage nachgehen: "Warum ist protestantische Theologie von ihrem Wesen her ökumenisch?" Ich will zwei Antworten auf diese Frage skizzieren, indem ich zunächst einen ökumenisch-theologischen Gedanken Martin Bucers aufnehme (I.) und dann auf die christologische Grundlegung der Barmer Theologischen Erklärung eingehe (II.).

I. Respekt vor dem bleibenden Geheimnis der Wahrheit Gottes öffnet protestantische Theologie für eine Ökumene der Gaben

Der Reformator Martin Bucer, einer der "Kirchenväter" dieser Landeskirche, hat ökumenischer gedacht und agiert als viele andere Reformatoren seiner Zeit. Er hat das Marburger Religionsgespräch von 1529 eingefädelt, um Zwingli und Luther zu einer der ökumenischen Grundfragen ins Gespräch zu bringen, die bis heute auf der Agenda ökumenischer Verständigung steht. Es ging um die Frage des Verständnisses der Präsenz Christi im Abendmahl. Wir wissen, dass eine Verständigung damals nicht gelang. Und auch heute steht sie noch aus zwischen den großen Konfessionsfamilien.

Für Martin Bucer war der Dissens in der Abendmahlsfrage, wie er urteilte, ein "Streit mehr in Worten als in der Sache". Dieses Urteil Bucers verweist uns auf die von unserer Sprache und unserem Verständnis nicht völlig erfassbare "Sache", die sich im Abendmahlsgeschehen ereignet. Vom "Geheimnis des Glaubens" spricht deshalb bis heute unsere Abendmahlsliturgie. Es ging Bucer und es geht heute um die Unverfügbarkeit des Handelns Gottes in den Sakramenten und damit um den von Seiten des Menschen unüberbrückbaren Unterschied zwischen Gott und Mensch. Bucer‘s Urteil zum Abendmahlstreit interpretiere ich so: In Anerkenntnis des "Geheimnisses des Glaubens" wird die nur begrenzte Möglichkeit einer rationalen und verbalen Erklärung des Abendmahlsgeschehens anerkannt. Und damit wird der theologischen Auseinandersetzung um das Abendmahl auch nur eine begrenzte Sinnhaftigkeit zugestanden. Mit dieser Anerkenntnis menschlicher Begrenztheit im Blick auf eigene theologische Wahrheitserkenntnis wird Gott die Ehre gegeben und eine Ökumene der Gaben ermöglicht.

Diese Einsicht ist bis heute von elementarer Bedeutung für das protestantische Verständnis von Ökumene. Macht sie doch deutlich, dass keiner, auch keine Kirche, in absoluter und letztgültiger Erkenntnis von Gott und von Gottes Handeln sprechen kann. Und genau dies weist uns als Kirchen aneinander. Jede Kirche benötigt gerade in ihrem Erkennen und Verkündigen der Wahrheit Gottes die Ergänzung durch die anderen Kirchen. In dieser protestantisch-ökumenischen Grundhaltung wurde Martin Bucer zu einem Vermittler zwischen den Konfessionen. Zu einem Theologen, der unterschiedliche Positionen miteinander ins Gespräch brachte. Zu einem Kirchenreformator, der mit seinen Lösungen den verbindlichen Anliegen unterschiedlicher Glaubensrichtungen gerecht zu werden suchte, ohne diese Anliegen zu relativieren.

Auch für heutige protestantische Theologie halte ich dies im ökumenischen Miteinander für unverzichtbar: in Anerkenntnis der eigenen Begrenztheit auf den anderen zuzugehen und zu unterstellen, dass auch er aufrichtig nach Wahrheit sucht und dass auch ihm Wahrheitserkenntnis zuteilwird.

Ein Beispiel für diese ökumenische Haltung aus dem Wirken Martin Bucer‘s ist die für die Kurhessische Landeskirche besonders bedeutungsvolle "Ziegenhainer Zuchtordnung". In ihr suchte Bucer mit der Einführung der Konfirmation einen Weg für die Verständigung mit der Täuferbewegung. Konfirmandenunterricht wurde und wird als nachgeholter Taufunterricht verstanden. Und die Konfirmation als bewusste Zustimmung des Getauften zur Taufentscheidung der Eltern.

Ich halte es für ein bemerkenswertes Beispiel historischer Kontinuität, dass Du, Martin, als Leiter der GEKE-Delegation wesentliche Verantwortung für ein theologisches Gespräch (2002-2004) zwischen der GEKE und den Nachfahren der Täuferbewegung, der Europäischen Baptistischen Föderation (EBF), über die Taufe trugst. Daraus entstand ein gemeinsamer Text mit dem schönen Titel: "Der Anfang christlichen Lebens und das Wesen der Kirche"[1].

Wenn man auf gegenwärtige ökumenische Prozesse schaut, kann man weitere Fortführungen der Verständigungsbemühungen Martin Bucers finden: Da sind zum einen innerprotestantische Dialoge, die zur "Leuenberger Konkordie" geführt haben. Zum anderen sind die theologischen Gespräche mit der "Church of England" im "Meissen-Prozess" zu nennen. Beide Prozesse haben auch die Gemeinschaft im Abendmahl zur Folge gehabt.

Fazit: Bucers Respekt vor dem bleibenden Geheimnis der Wahrheit Gottes öffnete unsere protestantische Theologie für eine Ökumene der Gaben. Denn das Bewusstsein der Begrenztheit eigener Wahrheitserkenntnis schafft den ökumenischen Raum für die Wahrheitserkenntnisse anderer Konfessionen. Protestantische Theologie ist von ihrem Wesen her ökumenisch, weil das Bewusstsein der Begrenztheit ihrer eigenen Erkenntnisse zu einem Prinzip der theologischen Arbeit wurde.

II. Die Konzentration auf Christus ermöglicht eine ökumenische Einheit in versöhnter Verschiedenheit

Es gehört zu den Kennzeichen der Reformation, dass sie die zentrale Bedeutung Christi für alles theologische Denken und Lehren betonte. "Solus Christus" steht über "Sola Gratia", "Sola Scriptura" und "Sola Fide". Das Reformationsjubiläum 2017 kann und muss deshalb als "Christus-Fest" gefeiert werden.

Die Konzentration auf Christus war grundlegend für die "Barmer Theologische Erklärung". Sie ermöglichte es, dass Theologen lutherischer, reformierter und unierter Prägung eine gemeinsame Erklärung ihres Glaubens formulieren konnten. In den Thesen 1 und 2 wird präzise und unnachahmlich ausdrückt, um welche "Sache" es der protestantischen Theologie vor allem geht:

"Jesus Christus, wie er uns in der Heiligen Schrift bezeugt wird, ist das eine Wort Gottes, das wir zu hören, dem wir im Leben und im Sterben zu vertrauen und zu gehorchen haben." (Barmen I)

Und: "Wie Jesus Christus Gottes Zuspruch der Vergebung aller unserer Sünden ist, so und mit gleichem Ernst ist er auch Gottes kräftiger Anspruch auf unser ganzes Leben; durch ihn widerfährt uns frohe Befreiung aus den gottlosen Bindungen dieser Welt zu freiem, dankbaren Dienst an seinen Geschöpfen." (Barmen II)

Diese christologische Konzentration führt zu ökumenischer Weite, weil sie sich unter Zurückstellung kirchlicher Selbstdefinitionen ganz dem souveränen Wirken Christi anvertraut. Der Protestantismus setzt Christus und sein Wirken an die erste Stelle und ordnet dem das menschliche Wirken der eigenen konfessionellen Kirchen nach. Christus, das eine Wort Gottes, ist die Voraussetzung, der Grund und die Bedingung, unter der alle christlichen Kirchen existieren. Christus, dem Herrn der Kirche, haben wir mit  unserem Kirchen-Verständnis und allen unseren historischen Gestalten von Kirche zu folgen.

Dieses Denken von der Souveränität göttlichen Handelns in Christus her bestimmt auch das Verständnis der Leuenberger Konkordie vom Abendmahl: "Im Abendmahl schenkt sich der auferstandene Jesus Christus in seinem für alle dahingegebenen Leib und Blut durch sein verheißendes Wort mit Brot und Wein. Er gewährt uns dadurch Vergebung der Sünden und befreit uns zu einem neuen Leben aus Glauben. Er lässt uns neu erfahren, dass wir Glieder an seinem Leibe sind. Er stärkt uns zum Dienst an den Menschen." (Art. II,15)

Formulierungen aus der Erklärung zur Einheit der Kirche, die der Vollversammlung in Busan durch den Zentralausschuss vorgelegt wurden, kommen diesem Verständnis der Zentralität Christi sehr nahe. Auch hier wird ganz auf das Handeln Gottes in Christus abgehoben. So heißt es in der Erklärung: "Einheit der Kirche heißt nicht Uniformität; auch Vielfalt ist eine Gabe, sie ist kreativ und spendet Leben. Aber Vielfalt darf nicht so groß sein, dass die Menschen in Christus sich fremd oder zu Feinden werden und so der vereinenden Wirklichkeit des Lebens in Christus schaden."

In Christus und durch Christus können die Verschiedenheiten der Konfessionen untereinander versöhnt werden. Wir können zu Einheit gelangen, wenn wir uns versöhnen lassen. Protestantische Theologie sieht in der Konzentration auf Christus und auf sein Handeln den Weg, zu der ersehnten Abendmahlsgemeinschaft mit allen christlichen Konfessionen und Kirchen zu kommen. Protestantische Theologie hat zu der Einsicht gefunden, dass Christus selbst und primär der Einladende ist. Er ist zugleich Gabe und Geber. Daraus ergibt sich für uns die theologisch begründete Möglichkeit und Notwendigkeit, alle Getauften zum Abendmahl einzuladen.

Du, Martin, hast diese Hoffnung und "gewisse Erwartung" auf eine konfessionsübergreifende Mahlgemeinschaft in einer Predigt bei einem Abendmahlsgottesdienst mit dem Ökumenischen Arbeitskreis evangelischer und katholischer Theologen 2011 in Lingen (Ems) in folgende Worte gefasst:

"Jahrhundertelang hat es Streit gegeben, wie das mit der Gegenwart Christi in den Elementen des Abendmahls zu verstehen sei. Und bis jetzt sind die unterschiedlichen Auffassungen auf keinen gemeinsamen Nenner gebracht – mit allen traurigen Konsequenzen, die uns auch heute Morgen trennen. Immer noch sind wir ausgerechnet in dem Akt, der uns am allerengsten mit Christus vereint, untereinander und voneinander getrennt. Das müsste nicht sein, wenn wir uns daran erinnern ließen, mit wem wir es eigentlich im Abendmahl zu tun haben: eben nicht mit uns selbst, auch nicht mit etwas, über das wir verfügen, sondern mit Christus. Er geht in uns ein, vereinigt sich mit uns und verwandelt sich in uns zum Leben.

Wenn wir dies im Bewusstsein halten, ganz anschaulich, dann glaube ich, dass die anderen Fragen, über die man sich den Kopf zerbrochen hat, in den Hintergrund treten. Dann genügt es, sich sagen zu lassen: "Christi Leib, für dich gegeben"; "Christi Blut, für dich vergossen" – und es genügt, beides im Vertrauen auf Christus in sich aufzunehmen. Auch wenn es nur wenig ist, schenkt es uns Kraft genug für die Wege, die vor uns liegen. Denn es ist der ganze Christus, der in uns einkehrt."

Gerade auch dieser Auszug aus einer Deiner Predigten, Martin, macht deutlich: Protestantische Theologie ist von ihrem Wesen her ökumenisch, weil ihre Konzentration auf Christus eine ökumenische Einheit in versöhnter Verschiedenheit verlangt und ermöglicht. Als protestantischer Theologe, lieber Martin, ökumenisch zu leben, zu lehren und Kirche zu leiten, das war und das ist Deine Aufgabe. Dass und wie Du Dich dieser Aufgabe gestellt hast, dafür danke ich Dir persönlich und im Namen der EKD ganz herzlich.

Gott segne Deinen weiteren Dienst und lasse Dich und Deine Familie das Glück seiner Nähe erfahren!

Fußnote:

1 Der Anfang christlichen Lebens und das Wesen der Kirche (Leuenberger Texte 9, Frankfurt/M. 2005).