Statement anlässlich der Kundgebung „Steh auf! Nie wieder Judenhass!“ in Berlin am Brandenburger Tor

Nikolaus Schneider

Es gilt das gesprochene Wort.

Sehr geehrter Herr Bundespräsident, sehr geehrte Frau Bundeskanzlerin,
lieber Herr Graumann,  liebe Teilnehmerinnen und Teilnehmer,
es ist toll, dass so viele hier sind!

In den letzten Wochen haben wir die schlimmsten antisemitischen Slogans auf deutschen Straßen seit der Nazizeit gehört.[1] – ich zitiere Sie, lieber Herr Graumann.

In Berlin, in Dortmund, in Frankfurt und in anderen Städten wurden in den vergangenen Wochen antisemitische Parolen gebrüllt. In Wuppertal wurde ein Brandanschlag auf die Synagoge verübt. Jüdinnen und Juden, und auch Demonstranten mit Israel-Fahnen wurden tätlich angegriffen.

Das ist nicht durch eine Empörung über den eskalierten Konflikt in Gaza und Israel zu erklären. Wer in Deutschland eine Synagoge anzuzünden versucht, der kritisiert dadurch in Wahrheit nicht die Politik der israelischen Regierung. Offenbar liefert der Gaza-Krieg einigen einen willkommenen Anlass, ihren Antisemitismus öffentlich auszuleben.

Die muslimischen Verbände in unserem Land haben sich in dankenswerter Klarheit von jeder Form des Antisemitismus distanziert. Dennoch haben es sich viele leicht gemacht und die Eskalationen zunächst nur auf unsere muslimischen Mitbürger geschoben. Dagegen warnt Jesus: „Was siehst du aber den Splitter in deines Bruders Auge und nimmst nicht wahr den Balken in deinem Auge?“ (Mt. 7,3)

Der Antisemitismus war in der deutschen Bevölkerung selbst nach den Nazi-Verbrechen niemals vollständig überwunden. Jüdische Einrichtungen müssen seit jeher rund um die Uhr von der Polizei geschützt werden – was mich immer wieder neu mit Scham erfüllt.

Die "Beschneidungsdebatte" hat uns in den letzten beiden Jahren noch einmal sehr deutlich vor Augen geführt, dass es beim Thema Antisemitismus beileibe nicht nur um den Nahen Osten geht. Muslime und Juden standen gemeinsam am Pranger. Antisemitische und islamophobe Vorurteile brachen sich gemeinsam Bahn, mitten aus unserer Gesellschaft heraus.

Dagegen stehen wir auf! Wir wollen uns mit 20% latentem – und dann immer wieder akut aufloderndem! – Antisemitismus in unserer Gesellschaft nicht abfinden. Auch unsere Kirche muss immer neu erkennen und aufarbeiten, dass sie zur Judenfeindschaft beigetragen hat. Ein Überlegenheitsbewusstsein gegenüber dem Judentum seit nahezu 2000 Jahren hat den Weg zur Ideologie „rassischer Überlegenheit“ begünstigt. Es hat viel zu lange gedauert, bis wir als Kirchen erkannt haben: Antisemitismus ist wie jede Form des Rassismus menschenverachtend. Antisemitismus ist "Sünde gegen den Heiligen Geist", um mit dem Schweizer Theologien Karl Barth zu sprechen.[2] Antisemitismus ist Gotteslästerung.

Lassen Sie mich vor allem zwei Bereiche benennen, in denen wir heute als Kirchen im Kampf gegen Judenhass besonders gefordert sind:

1. Die Regierungspolitik Israels kann ebenso kritisiert werden, wie die Politik jedes anderen Landes. Auch ich habe immer wieder betont, dass ich die Siedlungspolitik für rechtswidrig und für falsch halte. Ich teile auch das Erschrecken über die hohe Zahl der Opfer im Gaza-Krieg. Wir müssen uns aber klarmachen: Wer Waffen durch Menschen schützt, will diese Opfer. Und er will Bilder dieser Opfer zur Beeinflussung der öffentlichen Meinung einsetzen. – Jeder Dämonisierung des jüdischen Staates und der Delegitimierung Israels müssen wir daher entschieden entgegentreten. Antisemitische Vorurteile und die Infragestellung des Existenzrechts Israels dürfen sich nicht als Friedensethik ausgeben!

2. Wenn Christen Juden vorschreiben wollen, wie sie sich als Juden zu verstehen haben und was sie in ihrer jüdischen Tradition zu tun oder zu lassen haben, dann bedroht das jüdisches Leben in unserem Land. In der "Beschneidungsdebatte" wurde unter dem Deckmantel eines humanitären Anliegens die Möglichkeit jüdischen Lebens in Frage gestellt. Das war für mich zutiefst schockierend. Und ich bin froh über den Weg, den der Deutsche Bundestag in dieser Frage gefunden hat. Und ich will daher an dieser Stelle der Politik auch noch einmal ausdrücklich danken, dass die rechtliche Situation so schnell und einmütig geklärt werden konnte.

"Wir tragen unser Judentum nicht als Last, sondern mit unbeugsamem Stolz!"[3] Diesen Satz haben Sie, lieber Herr Graumann, unlängst gesagt. Sie haben dabei deutlich gemacht, dass Sie sich als jüdische Gemeinden in Deutschland von den antisemitischen Anfeindungen nicht unterkriegen lassen.

Wir, Ihre nicht-jüdischen Mitbürgerinnen und Mitbürger in diesem Land, hören das mit großer Erleichterung und mit Freude. Und wir sind heute hier, um Ihnen zuzurufen: Auch wir stehen unbeugsam für jüdisches Leben in Deutschland ein! Auch wir sehen in jüdischem Leben in unserer Nachbarschaft keine Last, sondern eine Bereicherung. Es erfüllt uns mit tiefer Dankbarkeit, dass dies nach der Shoa wieder Realität in Deutschland wurde! Das war keineswegs selbstverständlich. – Deshalb wird jegliche Form des Judenhasses in unserem Land unseren Widerspruch und Widerstand erfahren.

Danke für Ihre Aufmerksamkeit!

Fußnoten:

  1. Vgl. Dieter Graumann, FAZ Interview vom 05. August 2014 (http://www.zentralratdjuden.de/de/article/4926. schauderhafte-schockwellen-von-antisemitismus.html).
  2. Karl Barth, Die Kirche und die politische Frage von heute (1938), in: ders., Eine Schweizer Stimme. 1938-1945, Zürich 1985, 69–107, S. 90.
  3. Vgl. Dieter Graumann, FAZ Interview vom 05. August 2014.