Landschaften des Leibes - Henry Moores plastische Menschenbilder im Kontext der Plastik des 20. Jahrhunderts (1)

Petra Bahr, Heidelberg

Museum Würth

1. Die Natur des Menschen „nach der Natur“ in der Plastik des 20. Jahrhunderts

„Nach der Natur“ – denkbar knapp, ja fast lakonisch fasst der Kunstphilosoph Karl Heinz Bohrer in einem Halbsatz zusammen, was für ihn das Kennzeichen der Moderne ist: ihre Signatur ist das Ende des „Naturgemäßen“. Alle antagonistischen Stereotypen, die sonst in dem Gerangel um das, was denn Moderne zu nennen sei, angeführt werden, als hätte man die Wahl zu entscheiden, welcher geistigen, politischen und ästhetischen Strömung sich denn die Entwicklung verdanke, die um 1800 beginnt und im 20. Jahrhundert zu sich selbst gekommen ist  – Aufklärung und Romantik, Vernunft oder ihr Gegenteil, Rationalität und Irrationalität - sind in dieser Bestimmung geschickt eingebunden und gleichzeitig  überwunden: Moderne ist ein hoch ambivalentes Projekt, das vor allem durch den mehrfachen Bruch mit dem Naturgemäßen charakterisiert ist.(2)  Die natürlichen Gesetze einer als Schöpfung geglaubten Welt mit göttlichem Sinn gelten nicht mehr, ebenso wenig wie die Annahmen einer wesensmäßige Bestimmung über die Natur des Menschen. Was ehemals in diesem doppelten Sinn bezogen auf die Welt und auf den Menschen „natürlich“ war, spaltet sich nun auf: in ein Subjekt, das sich selbst stets neu erfinden muss und auf der Suche nach den guten Gründen für sein Handeln in die düstersten Abgründe seiner Möglichkeiten schaut und in eine Geschichte, die dieses Subjekt nun selbst gestalten soll, und der es doch heillos ausgeliefert ist – heillos auch deshalb, weil dem Geschichtsverlauf das Zwangsläufige oder wenigstens ein teleologischer Sinn und in diesem Verlust auch die säkularisierte Heilsökonomie der Geschichtsphilosophie abhanden gekommen ist.

Was der Moderne bleibt, so Bohrer, ist radikale „Künstlichkeit“, aus der keiner mehr entkommt. Was „nach der Natur“ kommt, ist dem modernen Menschen als technische Herausforderung im weitesten Bedeutungsradius aufgegeben, als techné in dem Sinne, wie schon Aristoteles sie bestimmt hatte, als die schöpferische Bewältigung von Selbst und Welt im Modus der „Kultur“, die noch vor aller handfesten Gestaltung der Welt mit der riskanten Technik der Interpretation beginnt. Das Bedeutsame erschließt sich nicht mehr von selbst, es gibt auch keine allgemein akzeptierten Autoritäten mehr, die die gültige Bedeutung der Welt verkünden könnten. Kultur ist dieser Umweg des Menschen zu sich selbst, den der moderne Mensch nicht mehr abkürzen kann. Kein Jargon der Eigentlichkeit, keine Unmittelbarkeitsprätention kann darüber hinwegtäuschen. Nichts ist nur gegeben, nichts unfraglich, nichts unerschütterlich, nichts gilt einfürallemal. Künstlich, also nicht vorgegeben, sondern erzeugt oder gemacht, dieses Paradigma macht selbst vor unserem Verhältnis zum menschlichen Körper und der uns umgebenden natürlicher Umwelt nicht halt– Natur und Körper begegnen uns nur in den Medien der Kultur: unser Körperverständnis, ja sogar unsere ureigensten Gefühle sind immer auch Ausdruck verschiedener Kulturtechniken – Medizin, Wissenschaft, Sport, Medien, gesellschaftliche Körper- und Geschlechterbilder -  selbst Geburt und Sterben sind der Gestaltung des „Künstlichen“ nicht entzogen.

„Nach der Natur“, diese Bestimmung der Moderne weist zuletzt ironisch einen auf den letzten und radikalen Bruch der ästhetischen Moderne mit dem Nachahmungsparadigma. Das Gelingen der Kunst misst sich nicht mehr am Grad der Imitation eines vorgefundenen oder auch idealisiert Natürlichen, diese Bedeutungsnuance des „nach der Natur“ schließt Bohrer vielmehr aus. In der Kunst steigert sich das Künstlichkeitsparadigma der Moderne noch einmal. Die Moderne kommt hier gewissermaßen zu sich selbst, in den radikalen Entwürfen, in der Suche nach der reinen Form, in der Abstraktion, die sich allen hergebrachten Bedeutungsgehalten entzieht, diese brüskiert oder auf Bedeutung im alten Sinne ganz zu verzichten bereit ist. Die moderne Kunst stellt dem Menschen aber auch einen Spiegel vor Augen, in der je nach künstlerischer Einstellung die Fratze oder das strahlende Antlitz der Moderne reflektiert wird: Sieh her, so weit hast Du es getrieben mit deiner Willkür zur Kunst, Deinem Zwang zum Entwerfen Deiner Welt, mit Deinen Techniken der Weltdistanz, der Ironie und der Kollage von allem und jedem. So selbstbezüglich bist Du geworden,  so bedeutungsfrei sind Deine Zeichen. Das selbstreferentielle Spiel der Künste, das Bilder mit Bildern beantwortet, ist für Bohrer zugleich beides: ein Mentekel des Nihilismus und  der letzte Ort, wo der Mensch sich die Frage nach der Conditio Humana in der geforderten Radikalität stellt - und damit das Humane einlöst. Die Kunst radikalisiert so auch die Frage nach dem Menschenbild: Die Frage nach dem Wesen des Menschen kann im modernen Sinne ausschließlich als Frage nach den Bildern des Menschen beantwortet werden. Ein essentielles Dahinter, das ohne Bilder auskommt, gibt es nicht. Ohne die Formen der Repräsentation zeigt sich nichts. Nicht jenseits der Bilder, nur in diesen Bildern gibt sich der homo pictor, wie der Kulturphilosoph Ernst Cassirer den Menschen in seinen Reflexionen zur Anthropologie nannte, Rechenschaft von sich selbst. Wer also die Frage nach dem Menschenbild stellt, ist bei den Künstlern an einer guten Adresse. Wer in dieser Frage nicht nur die Rede vom Menschen, sondern auch die des Bildes ernst nimmt, der hat schon einen Hinweis: das Menschenbild der modernen Kunst gibt es, und das ist ganz und ganz und gar angemessen für die Moderne, nur im Plural. Rascher Wandel, Fluktuation der Vorstellungsgehalte, Bilder, die sich gegenseitig Konkurrenz machen, Entwürfe, die wie ein Dementi der bloßen Möglichkeit des Bildermachens wirken, Bilder, die den Menschen als Menschen sogar bestreiten, die ihn lächerlich machen oder verachten – unterhalb dieser absichtlichen Verwirrung der Künste geht es wohl nicht. Die Auseinandersetzung um das, was den Menschen unter den Bedingungen eines schwankenden Bodens aus Überzeugungen, Lebensformen, und Gelingensbildern, Phantasmagorien und Albträumen ausmache, ist vielmehr selbst Teil der künstlerischen Auseinandersetzung im 20. Jahrhundert.

In dieser drastischen Vervielfältigung der Menschenbilder hat Henry Moore mit seinen weltbekannten Plastiken, von denen viele im öffentlichen Raum stehen, auch deswegen eine herausgehobene Rolle, weil seine Skulpturen auch in das populäre Formgedächtnis derer eingegangen sind, die mit Kunst nur am Rande und beiläufig in Berührung kommen. Der britische Künstler hat in seinem Werk und auch in theoretischen Kommentaren jahrzehntelang und auf eigensinnige Weise bildhauerisch mit den Bildern vom Menschen gerungen. Deshalb will ich im folgenden drei Fragen stellen, die vielleicht einen hilfreichen Zugang zu dem Ausschnitt seines Werkes anbieten, die Sie hier im Museum Würth ausgestellt sehen.

Zum einen soll gefragt werden, in welchem Kontext Moores Menschenbilder stehen. Dies geschieht im ersten Schritt durch eine kurze, unsystematische und selbstredend unvollständige Erinnerung an andere skulpturale Zugänge zum Menschen im 20. Jahrhundert, weil im Kontrast der Menschenbilder oft die Konturen um so deutlicher werden.  Zum anderen soll das Werk Moores selbst in den Blick genommen werden, und zwar unter drei Überschriften: 1. Die Lust am Archaischen. 2. Von der Gestalt der Landschaft zur Landschaft der Gestalt 3. Vom Körper zum Leib – die innere Form des Lebens. Sie ahnen vermutlich schon, dass Moores eigenwilliges Naturverständnis „nach der Natur“ mich besonders interessieren wird, weil hier seine spezifische Modernität zum Tragen kommt, die einen Schlüssel zu Moores Bildern von Menschen bietet. Einige Überlegungen zum ästhetischen Humanismus Henry Moores bilden den Abschluß meines Vortrags.


1. Der Streit der Menschenbilder in der Plastik des 20. Jahrhunderts

Es liegt nahe, die Frage nach dem Entwurf des Menschen mit Blick auf die Kunstform zu stellen, die in der Kulturgeschichte traditionell am stärksten auf die Gestalt des Menschen in seiner körperlichen und geistigen Verfasstheit hin angelegt ist: Skulptur und Plastik. Nicht nur in der abendländischen, in allen uns bekannten Kulturen gibt es plastische Auseinandersetzungen mit dem Menschen. Deshalb ist es das höchste Forschungsglück für den Archäologen oder Kulturanthropologen, wenn er neben den Spuren der Gebrauchsdinge und der Reste von Mauern und Straßen dann und wann eine kleine Tonfigur, das Fragment eines Reliefs oder gar eine Statue findet, weil hier das Selbstverständnis einer Kultur samt ihren Lebensformen am vollkommensten zum Ausdruck kommt. Die ältesten Zeugnisse bildhauerischer Menschenbilder – oder sind es Götterbilder?- die wir kennen, datieren auf etwa 20.000 Jahre vor Christus zurück.

Wo aber ist in dieser forcierten Welt der Künstlichkeit des 20. Jahrhunderts in der modernen Plastik noch Platz für den Menschen? Es wundert, nicht, dass der Mensch es schwer hat in Bildhauerei. Keine Kunstform war bis ins 19. Jahrhundert so sehr einer idealisierten Natürlichkeit der menschlichen Gestalt verpflichtet, keine Kunstform so sehr wie die dreidimensionale Skulptur noch in ihren radikaleren Stilisierungsprogrammen so stark an Konzepte der organischen Form gebunden. Der Bruch mit dem Figurativen und Gestalthaften musste deshalb in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts am radikalsten vollzogen werden. Es ist deshalb die Künstlichkeit selbst, die Thema der Plastik im 20. Jahrhundert wird: Reflex auf die Möglichkeiten und Herausforderung der Technik, die Faszination für die Form um ihrer selbst willen und die Konzentration auf das Material, das nun nicht mehr figurativen Prozessen unterworfen werden muss, sondern als es selbst künstlerisch nobilitiert werden kann. So drängt es drängt es Skulptur und Plastik des 20. Jahrhunderts zu Themen jenseits des Menschen, zumindest in seiner körperlichen Darstellung. Das Motiv ist allerhöchstens eines unter vielen. An Bedeutung scheint es weiter abzunehmen und der Kunstkritiker Wieland Schmied prognostiziert sogar kühn sein gänzliches Verschwinden. Dort, wo der Mensch noch erscheint, ist er beschädigt, deformiert oder atrophiert. Sein Bild wirkt wie aus Bruchstücken zusammengefügt, ein skeptischer Kommentar zur verlorenen Ganzheit, als passten die Teile nicht mehr zueinander, ein mal verzweifelter, bisweilen auch komischer Versuch seiner Rekonstruktion – und immer wieder dominiert das Material, als sei der menschlichen Gestalt sowieso nicht mehr zu trauen. Spielarten diese Misstrauens gibt es viele: als sei das Bild des Menschen nur noch als Zitat aus längst vergangenen Zeiten zu haben, als unwiderbringlich verlorenes, wie es Mario Ceroli in seiner 1964 geschaffenen Holzskulptur mit dem Titel „Der Mensch des Leonardo“ zum Ausdruck bringt: ganz flach stellt Ceroli diesen Menschen in den dreidimensionalen Raum einer offenen Kugel, reduziert auf die ausgesägte Umrissform, ein Schatten - das Modell des Menschen ist flüchtig.

Oder die Kunst zeigt uns den Menschen als abwesenden, wie aus der Mitte seiner Welt vertriebenen. Nur sein Zeug, seine Geräte, seine Apparate ist übrigeblieben, all die künstlichen Dinge, die  ihn auszumachen scheinen und doch an seine Stelle treten. Wie abgelegte Kleidungsstücke, deren Träger flüchtig ist. In Environments und Installationen werden die den Menschen umgebenden Räume, beschworen, die ihn mehr zu formen scheinen  als er sie, allen Thesen vom modernen Menschen als des Subjektes seiner Welt zum Trotz. So haben die Amerikaner Edward Keinholz, der Deutsche Wolf Vostell und der Russe Ilja Kabakov, um nur willkürliche Beispiele zu nennen, die Spuren und Verwüstungen  des Menschen in eindringlichen Raumbildern festgehalten. Der Mensch tritt auf als Abwesender.
Andere Versuche zeigen uns den zukunftszugewandten Maschinenmenschen. Organische und technische Formen verschmelzen untrennbar miteinander, wie die Figuren der Futuristen oder die Assamblagen von Jacob Epstein, in denen Monstergestalten entstehen, die Menschliches und Automatenhaftes zu einer Einheit verbinden. Hier gibt es durchaus eine Parallele zu Marcel Duchamp, der ja nicht nur der Erfinder des Readymades war. Er hat mit seinem 1915 begonnenen Hauptwerk, dem „Großen Glas“ etwas geschaffen, das später als „Junggesellenmaschine“, als ein in sich geschlossener erotischer Kreislauf ohne soziales Gegenüber gedeutet worden ist. Vitalität und Virilität werden nun als mechanische Abläufe gedeutet. Das Programm „nach der Natur“ ist hier mit Händen zu greifen. Schnell jedoch wird aus der Utopie, die die Möglichkeiten des Maschinenmenschen ins Unendliche transzendiert, ein Fluch. Aus der Symbiose der Roboter entlassen, bleibt des menschliche Wesen zurück als verkrümmtes Tier.

Es ist neben der Technik vor allem der Krieg, der der Plastik im 20. Jahrhundert das Entwerfen neuer Menschenbilder aufgibt. Die Zerstörungen an Leib und Seele führen z.B. bei Wilhelm Lehmbruck zu einer neuen Konzentration auf die innere Verfasstheit des Menschen, die in einer strengen Reduzierung der Form zum Ausdruck kommt. Die Figuren Lehmbrucks scheinen von einer wirkmächtigen Schwerkraft nach unten gezogen, sie stürzen, fallen und sinken, taumelnd und doch in der Elastizität einer unverkennbaren Spannung – als wehrte sich da der Mensch gegen sein Schicksal. Die Figur ist also wider da, als sterblicher Mensch. Das Material wird zum Träger einer Energie, die im Physischen das Psychische spiegelt. Das ist freilich der markante Unterschied zu den stürzenden Kriegern, gefesselten Sklaven und sterbenden Helden in den Figurenfriesen von der Antike bis ins 19. Jahrhundert: Ihnen gemeinsam ist, dass die Verletzung von außen kommt. Bei Lehmbruck kommt sie von innen.

Nach dem 2. Weltkrieg eröffnet uns Germaine Richier ein Bild des Menschen, das mit halluzinatorischen Blick alle zerstörerischen Kräfte in uns fixiert. In ihren Plastiken ist der Mensch ein unheimliches, hydraköpfiges Wesen geworden, nicht das Zwitterwesen Menschmaschine ist ihr Bild, grausige Insekten haben sich mit dem menschlichen Corpus verbunden. Spinnenbeine und Speichelfäden hat er in den Raum gespannt. Der aus dem Krieg entlassene Mensch ist, der Hölle entronnen, selbst zum Tier geworden.

Auch Giacomettis dürre Gestalten sollten eine verborgene Dimension des Daseins offenbaren. Giacometti machte eine beinahe existenzialistische Grunderfahrung zum künstlerischen Thema, die zum Gleichnis des Bildes vom Menschen werden kann: je aufmerksamer der Künstler sein Modell studierte, desto weiter rückte es fort. Versuchte er die Distanz zu überwinden und die immer kleiner werdenden, sich entziehenden Gestalten wieder gewaltsam ins Blickfeld zurückzuholen, entzogen sie sich vom neuen und wurden fadendünn. Giacomettis Figuren bringen gewissermaßen ihre Ferne mit und scheinen unbegreifbar, nur präsent im Modus des Entzugs. Als blieb dem Künstler nichts als diese Unmöglichkeit zur Darstellung zu bringen: den Abgrund, der zwischen ihm und allen lag, die er sah. Giacomettis Figuren, in ihrer Skeletthaftigkeit und konzentrierten Figürlichkeit vielleicht die größten Antipoden zu Moores fülligen Plastiken, thematisieren die Wirklichkeit des Menschen angesichts seines Verschwindens.

Damit widerspricht Giacometti vermutlich am lautesten den Arbeiten des Österreichers Wotruba, seine Figuren, von denen er einige „menschliche Kathedralen“ getauft hat, sind wie Behausungen, in der die Gestalt geborgen, vielleicht aber auch eingesperrt ist. stabil, beharrlich, quadratisch, ja zuversichtlich stehen sie, als stünde ihnen die Spanne einer Ewigkeit zu. Für seinen Schüler, Alfred Hradlicka, ist der Mensch dagegen zuerst ein fleischliches Wesen, triebhaft, konvulsivisch, energiegeladen, ein Geschundener und ein Schinder zugleich. Der Mensch erscheint im Exzess.
Ein anderes Menschenbild erscheint in der Abstraktion. Wie kein anderer hat der von Moore so geschätzte Constantin Brancusi an der unablässigen Vereinfachung gearbeitet, die in der Befreiung der Idee des Menschen vom Menschen selbst enden soll. Dieses Streben nach der vollkommenen Form des Menschen, der wie eine platonische Idee erscheint, findet im ständigen Abschleifen, Polieren und unermüdlichen Glätten seinen Niederschlag Im Ovoid, das Brancusi aus einer Kopfform entwickelt hat, indem er ihr allmählich die Gesichtszüge und damit jedes Moment der Individualität verschliff, meinte er die Urform des Lebens, ja des Universums in einem Gleichnis gefasst zu haben. Das verraten schon die Titel, die er seinen eierformigen Skulpturen gab: Das „Neugeborene“ und „Der Weltenanfang“.
Einen anderen, bedeutenden Aspekt der Abstraktion finden wir in der Plastik Picassos. Dessen plastisches Arbeiten rückt oft in den Hintergund rückt, sie finden sich allerdings in beinahe allen Phasen seines Werkes und könnten deshalb vielseitiger nicht sein, Gemeinsames Thema seiner an Dreidimensionalität orientierten Abstraktionen ist das Motiv der ständigen Wandlung, der Metamorphose, die durch eine eigene Zeitstruktur geprägt ist, die zur Signatur der condition moderne wurde: vieles gleichzeitig, am besten alles auf einmal zu tun und zu sehen, radikale Perspektivität und nur in dieser so etwas wie Ganzheit. Diese Vollständigkeit, die jede sukzessive Folge von Momenten in ein dichtes Modell der Gleichzeitigkeit bindet findet sich vielleicht am vollkommensten im Schlüsselwerk Metamorphosis I, das Moore zu eigener bildhauerischer Auseinandersetzung provoziert hat. (Composition 1931).(3)

2. Die Hinwendung am Archaischen

Gegenläufig zum den Trend der Technisierung, Existentialisierung und Formalisierung, in denen sich jeweils Bilder des modernen Menschen ausdrücken, wie ich sie gerade vorgestellt habe, scheint sich eine Entwicklung in der Plastik der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts zu stehen, an der Henry Moore selbst großen Anteil hat und die immer wieder als Gegenbewegung zur an Künstlichkeit orientierten Moderne verstanden wurde. Sieht man genauer hin, so erweist sich diese Richtung jedoch als ebenso modern wie die letztgenannten Entwicklungen und ist auch nur vor dem Hintergrund der modernen Lebenserfahrung zu verstehen: es ist die Faszination für den Primitivismus und den  - nicht nur - ästhetischen Exotismus. Von beidem gehen wichtige Impulse aus, ohne die die Wiederkehr der Figürlichkeit nach ihrem Ende nicht zu verstehen ist. „Nach der Natur“ –diese Bestimmung bekommt da einen anderen Klang, wo moderne Bildhauerei den Weg zurück über die künstlerische Beschäftigung mit der archaischen Kunst der sogenannten Naturvölker sucht. Seit dem Ende des 19. Jahrhunderts, also mit den ersten großen kulturanthropologischen Forschungsergebnissen, wird das Interesse an entlegenen Orten der Welt immer größer. Tourismus und Abenteuertum verbinden sich über Reisen in die Kolonialgebiete mit dichten Beschreibungen und ethnologischen Expeditionen, aber auch mit einem großangelegten Beutezug durch die kolonialisierten Völker und ihre kulturellen Artefakte. Die großen Nationalmuseum werden zu riesigen Aservatenkammern für Kult- und Kunstobjekte aus allen Winkeln der Welt – eine kulturpolitisch gut organisierte Ausdrucksform für die Sehnsucht nach dem Urzustand für die Stadtmenschen, die in den Sog der gigantischen Entwicklungen nervös und metaphysisch unbehaust geworden, nach  Auswegen aus der Moderne suchen. Fremde Religion und Kunst sind die Hauptattraktionen dieses Exotismus. Im Kultobjekt verbinden sich noch einmal beide Weltzugänge, die für die europäische Künstlerszenen längst als getrennte wahrgenommen werden, und zwar auf eine Weise, die den für die Plastik ansonsten formgebenden Kanon der griechischen und italienischen Klassik sprengt. So wird das Völkermuseum zum Pilgerort für Maler, Bildhauer und Schriftsteller. Nicht zuletzt die unverhüllte Sexualität in den Holz- und –Steinfiguren, die Phallus- und Fruchtbarkeitsmotive faszinieren die Boheme Europas, die mit dem Beginn der Psychoanalyse und der Erkundung innerpsychischer Vorgänge nach radikaleren Ausdrucksformen für alle bewussten, vorbewussten und unterbewussten Dimensionen der menschlichen Existenz sucht.

Moore ist also kein Einzelfall, eher wohl der späte Vertreter einer breiten Bewegung. Der Künstler hat allerdings gründlicher als andere auch mit den theoretischen Schriften der frühen Ethnologen und der außereuropäischen Kunstgeschichte beschäftigt.(4) Es ist indessen verfehlt, wenn man, wie immer wieder geschehen, Moore deshalb eine Neigung zu totemistischen, animistischen oder andere naturreligiösen Weltanschauung bescheinigt, die mit einer schroffen Abneigung gegenüber dem Christentum einhergehe. Dafür gibt es keine Belege. Im Gegenteil: Was Moore, wie viele seiner Zeitgenossen, an der sogenannten primitiven Kunst interessiert, ist zum einen die Idee einer universalen Wiederkehr von Form- und Gestaltungsbeziehungen – eine Art ästhetischer Universalismus in zeitlicher und formaler Hinsicht, der den kriegerischen Fraktionierungen, den Rassenidealen und den asymmetrischen Machtverhältnissen der Welt zu Beginn des 20. Jahrhunderts widerspricht. Diese seltsam mythische Zeitlosigkeit, die das Menschliche am Menschen zu allen Zeiten in vergleichbarer Formsprache zum Ausdruck zu bringen scheint, hat Moore exemplarisch in seiner Unesco-Figur zum Ausdruck gebracht: die Figur aus römischen Travertin weist Elemente des Prähistorischen auf: der Mensch als urzeitliches Wesen, mit gewaltigen, kurzen Gliedmaßen und einem kleinen, eidechsenförmigen Kopf von großer Wachsamkeit wird zum Symbol für das Gleichbleibende im Wandel der Zeiten. „Es gibt also keine Trennung der Vergangenheit und der Gegenwart“, schreibt Moore einmal. Und weiter bemerkt er: „In völlig verschiedenen Orten und Epochen werden durch den Einfluss instinktiver bildhauerischer Sensibilität die gleichen Gestaltungs- und Formbeziehungen für den Ausdruck gleicher Vorstellungen gebraucht, so dass man in einer Neger- und einer Wikingerplastik, einer Steinfigur von den Kykladen und einer Holzstatue von Nukuoro die gleiche Formvorstellung erkennen kann. Bei der näheren Vertrautheit mit der ganzen Sammlung im British Museum wurde mir schließlich klar, dass das im fünften vorchristlichen Jahrhundert von Griechenland ausgegangene realistische Ideal körperlicher Schönheit in der Kunst nur eine Abweichung von der großen Welttradition der Bildhauerei war, während zum Beispiel unsere Romanik und Frühgotik auf der Hauptlinie liegen.“(5). Der antiklassische Affekt, der gegen die Bilderkunst der Griechen und ihre Wirkmächtigkeit gerichtet ist, ist unüberhörbar. Was Moore an der primitiven Skulptur so in den Bann schlägt, ist entsprechend dieser Abwehr nicht „Schönheit“, sondern die Intensität und Ungebärdetheit des körperlichen und emotionalen Ausdrucks. Es ist das „Geistige in der Kunst“, um einen berühmten Titel von Kandinsky zu zitieren, das in dieser so körperlichen Kunst der Urvölker interessiert, nicht der weltanschaulich-religiöse Hintergrund dieser Völker.

Aber auch der andere Umgang mit dem Material begeistert. Bei den Bildhauern Mexikos, Ozeanie
ns und Afrikas findet Moore zum einen eine Idee wieder, die eigentlich einer zutiefst romantische Kunstkonzeption folgt – ein Indiz, dass man manchmal Umwege gehen muss, um das Eigene wiederzuentdecken - : es ist die Idee der „Materialgerechtigkeit“(6). In den Kunstwerken archaischer Zeiten oder zivilisationsferner Völker scheint das Material – der Steinblock, das Wurzelstück – der erarbeiteten Figuration ihre Form quasi aufzudrängen. Die Auszeichnung der Form geht so nicht umstandslos mit der Abwertung der Materie einher, beide bedingen sich vielmehr in einem oszillierenden Gleichgewicht. So rückt die Materialität des menschlichen Körpers wieder in die künstlerische Aufmerksamkeit. Aus der Querwurzel eines Baumes mit seiner sehnigen und faserigen Beschaffenheit wird eine schlanke, horizontale Form, aus einem Steinquader eine gedrungene, eckige Figur. Über eine präkolumbianische Steinfigur, den Chac Mool, die ihn ein Leben lang inspiriert hat, schreibt Moore in seinem Aufsatz über „primitive Kunst“: Schon bei der ersten Begegnung mit mexikanischer Plastik erschien sie mir als so wahr und richtig, vielleicht weil mir sofort ihre Ähnlichkeit mit Skulpturen aus dem 11. Jahrhundert auffiel, die ich als Junge an Kirchen in Yorkshire gesehen hatte. Ihr Steincharakter, damit meine ich ihre Materialgerechtigkeit, ihre gewaltige Kraft bei unvermittelter Sensibilität, ihre erstaunlich vielfältigen fruchtbaren Formerfindungen und ihre Einstellung zu voller dreidimensionaler Formauffassung wurden nach meiner Meinung von keiner Epoche übertroffen.“(7) 

Die Figur stellt einen auf dem Rücken liegenden Menschen mit angezogenem  Bein und zur Seite gewandten Kopf dar, die im Bauchbereich eine Höhlung aufweist, vermutlich die Darstellung eines Fruchtbarkeitsgottes. Mit dem Stichwort der Materialgerechtigkeit kommt ein anderes Element ins Spiel, das Moores Menschenbilder prägt: Auch hier wieder könnte man mit dem Bohrer-Diktum „nach der Natur“ spielen. Moore hat nämlich ein emphatisches Verhältnis zu Natur und Landschaft. Das unterscheidet ihn sicherlich von den meisten seiner Zeitgenossen und macht ihn gleichzeitig zu einem echten Engländer, der sich in die ästhetische Tradition seines Landes einreiht. Von Landschaftsformation der Natur lässt er sich nicht nur das Material vorgeben – zumindest in der ersten Hälfte seiner Schaffensperiode, also bis Ende der dreißiger Jahre, arbeitet er vorzugsweise mit Holz und Stein - er lässt sich auch in seiner Formwahrnehmung zutiefst von der Natur beeinflussen und sucht diesen Einfluss ständig zu intensivieren. Diese Emphase zeigt sich in vielen Aspekten seines künstlerischen Schaffens. Die Spuren des Primitivismus und Exotismus verbinden sich so mit etwas diesem scheinbar gänzlich fern liegenden: der englischen Tradition der Natur- und Landschaftsästhetik.

3. Von der Gestalt der Landschaft zur Landschaft der Gestalt

Die Anatomie der Landschaft verwandelt sich bei Moore durch einen Wahrnehmungsakt in eine Skulptur, der nicht mit dem wahrgenommenen Gegenstand selbst verwechselt werden darf: Die Verwandtschaft der Objekte, die Moore zugrundelegt, die er findet, die er bearbeitet, die er durch Anschauung und Modifizierung der Perspektiven immer wieder anders sieht, also die Verwandtschaft der Hügel, Täler, Schluchten und Felsklüfte, der Höhlen und Ausschwemmungen ist immer das Ergebnis einer ästhetischen Wahrnehmungssynthese und entspringt deshalb nicht der Natur, sondern einer künstlichen Natureinstellung, die der menschlichen Vorstellungskraft entspringt. Sine Plastiken entspringen ihrer Idee nach dem Moment des Umschlag der Natur- zur Kunstwahrnehmung und thematisieren so auch dies ästhetische Einstellung selbst, weil sich eben nicht das Gesehene, sondern das Sehen selbst verändert.
„Ich sehe die menschliche Figur überall. Obgleich es die menschliche Gestalt ist, die mich am stärksten interessiert, habe ich natürliche Formen wie Knochen, Muscheln, Kieseln u.s.w. immer große Aufmerksamkeit gewidmet. (...) Manchmal war ich mehrere Jahre hintereinander am selben Strand – doch jedes Jahr fiel mir eine neue Form von Kieseln ins Auge, die ich im Vorjahr, obgleich es Hunderte davon gab, übersehen hatte. Wenn ich über den Strand gehe, dann wählt mein Blick aus den Millionen Kieseln, an denen ich vorbeikomme, nur jene aus, denen mein augenblickliches Interesse gilt. (...) es gibt allgemeine Formen, auf die jeder Mensch unbewusst eingestellt ist, wenn seine Bewusstseinskontrolle sie nicht ausschließt.“(8) Achten sie auf die untergründige Nähe, die für Moore zwischen dem Primitivismus und die Naturanschauung liegt?

Es ist die Unterstellung eines vom Bewusstsein oft verstellten, universalen Formbewusstseins, das den Strandläufer des 20. Jahrhunderts und den Ozeanier verbindet. Nehmen Sie eine der liegenden Figuren, die sie hoffentlich schon gesehen haben, oder die sie nach dieser Veranstaltung noch sehen werden: Die schweren, erdgebundenen Formen sind durchhöhlt und durchschossen, als hätten starke Wellen, Wind und Sand sie langsam aber stetig abgeschunden. Von ferne wirken die Figuren im horizontalen Relief wie eine weite, hügelige Landschaft. Dann wieder scheint es, als gingen die Figuren geradewegs aus der Landschaft hervor, weil das Auge sie willkürlich von ihrem Hintergrund absetzte. Besonders faszinierend ist dieses Vexierspiel natürlich bei den Skulpturen, die wirklich in Parks und Landschaften ausgesetzt sind. Dabei verwandeln sich auch die Landschaften selbst: aus natürlichem Gelände werden abstrakte Wölbungen, Schwellungen und Bewegungen. Genaugenommen fügt sich Moore nicht den Strukturvorgaben der Naturformen. Sein konstruktiver Blick, seine Neigung, Aspekte der Landschaft – Höhlen, Hügel, Abbruchkanten – aus dem Zusammenhang herauszunehmen, also zu abstrahieren, und in einen anderen Kontext, beispielsweise den weiblichen Körper einzufügen, zeigt, dass er durchaus mit der Natur und ihren Hervorbringungen rivalisiert. Das zeigt auch sein analytischer Blick auf die Objets trouvé, auf die Kiesel, Knochen und Steine, die er systematisch sammelt und genau in Hinblick auf sein Interesse beschreibt: Sicher ist es nicht das Erhabene oder gar das Wohlgefällige: Bei Landschaftshorizonten interessiert ihn die strenge Linie der Asymmetrie, Bäume veranschaulichen ihm die Grundsätze des Wachsens, an Steinen interessiert ihn die „Art, wie die Natur den Stein bearbeitet. Glatte, vom Meer ausgewaschene Kieselsteine zeigen die abschleifende, scheuernde Behandlung des Steins. Felsen zeigen eine hackende, zuschlagende Steinbehandlung und besitzen einen ausgezackten, unruhigen Blockrhythmus“(9). Die Natur wird ihm zur meisterlichen Bildhauerwerkstatt, die keinen Meister im Sinne eines genialen Schöpfers mehr kennt, sondern eine vitale Energie des Lebens selbst zum Ausgangspunkt für alle Wachstums- und Vergehensprozesse voraussetzt. Das lässt nebenbei auch Rückschlüsse auf das Bild des Künstlers zu. Der Bildhauer ist für Moore kein genialischer Schöpfer nach Art eines alter deus, sondern Teil und Artikulationsinstanz des Lebensprozesses selbst, also des Gerinnens, Verschmelzens, Anschwellens, Verhärtens, Verwachens, dem weder mit Logik oder Bio-Logik beizukommen ist. Nicht mehr methodisch geleitete Absicht, Kontrolle oder Telos, sondern die künstlerische Arbeit an Zufall und Willkür, wenn man so will: hermeneutische Arbeit am Nichtverstehen des Lebensprozesses, so könnte man vielleicht das bildhauerische Programm Moores beschreiben.

Nimmt man Moores Transformation Drawings hinzu, die ab 1930 entstanden sind und das bildhauerische Werk nun stetig begleiten, entdeckt man einen anderen Aspekt seiner Naturbetrachtung, der die Arbeit des Bildhauers reflexiv erfasst: es ist der Sinn für die Metamorphose, für die Verwandlung der Formen von organischen Körper zur menschlichen Gestalt und zurück. Der Einfluss des Surrealismus ist unübersehbar. Dennoch schuf Moore weniger surreale als biomorphe Gestalten, deren heimliche Verbindung das Wachsen und Werden ist. Landschaft und Mensch stehen so in einem mythisch-geheimnisvollen Verhältnis zueinander, sie werden allerdings nicht wechselseitig allegorisiert, sondern nach Art einer künstlerisch-poetischen Metapher, also im prekären Vollzug der Übertragung fremd zu einander stehender Sinnzusammenhänge, aufeinander bezogen.

4. Vom Körper zum Leib – die innere Form des Lebens

Die poetische Weltdurchdringung, die Moore mit seiner „Verlandschaftlichung“ der menschlichen Gestalt gelingt, verweist auf eine Pointe seines plastischen Werkes, das mit seinem ästhetischen Humanismus in engem Zusammenhang steht: Die ästhetische Verwandlung des menschlichen Körpers in einen Leib. Alltagssprachlich werden Körper und Leib oft synomym gebraucht und durcheinander ersetzt. Genaugenommen ist der Körper eine physikalische Größe, ein konkretes Objekt, äußerlich wahrnehmbar, messbar, fassbar, eine Quantität, ein Volumen. Dagegen wäre der Leib eine eher psychische Größe, also der Bereich, der die Affektivität unserer Sinnlichkeit in Bewegung setzt, eine Art Innenraum mit Erlebnisqualität, der Ausdruck einer starken Wahrnehmung oder Grenzerfahrung ist, der durch starke Eindrucke bemerkbar wird. Einen Körper hat man, ein Leib ist man, der Leib ist nicht losgelöst von einem Selbst bestimmbar oder gar fühlbar.

Die schärfere Unterscheidung lohnt sich, will man schärfer begrifflich fassen, was Moore bildnerisch in seinen Skulpturen zum Ausdruck bringt die Metamorphose eines organischen Körpersmaterials, mal mehr, mal weniger formreduziert, in ein doppeltes Energiefeld: in die Energie des plastischen Organismus, also der Skulptur, und in das Energiefeld, das zwischen dem Betrachter und der Plastik im Akt der Wahrnehmung entsteht – nebenbei gesagt: auch die Erinnerung an den Wahrnehmungsakt des Künstlers selbst. „Wenn eine Skulptur ihr eigenes Leben, ihre eigene Form hat, wird sie lebendig und expansiv sein und größer erscheinen als der Holzblock oder der Stein, aus dem sie entstanden ist. Sie sollte dann den Eindruck erwecken, als sei sie organisch gewachsen, also durch Druck von Innen heraus geschaffen worden.“(10) Dieses Innere, von dem aus das Leben einer Skulptur entsteht und das zugleich den Prozess der Verlebendigung der Materie selbst als „Mouvement continuel“ zur Darstellung bringt, ist in diesem Zitat absichtlich unbestimmt gehalten: ist es das Innere der Skulptur – wenn ja, wo sollte das sein? – ist es das Innere als energetischer Gestaltungsprozess des Bildhauers oder das Innere des Betrachters, der die tote Figur so zum Leben erweckt? Ganz offensichtlich alles zugleich.

„Meine Arbeit“, so hat der Moore selbst einmal gesagt, „ist die Erzeugung von Bildern zwischen Unbewusstem und Bewusstem, zwischen dem, was wir wahrnehmen und dem, was wir auf der Grundlage unserer Gefühlslagen in die Welt hineinprojizieren“. Henry Moore ist offensichtlich weniger daran gelegen, die Natur, auch die Natur des Menschen als körperlich-materielle Natur von den Zumutungen seiner kulturellen Verstellungen zu erlösen oder in Form esoterischer Naturspekulation die Natur selbst als Heilsoption zu empfehlen. Vielmehr will er die innere Kraft des Lebens selbst zur Darstellung zu bringen, die Mensch und Welt verbinden. Der äußere Körper der Plastik in seiner Materialität, Plastizität und Abstraktion wird so zum Träger der inneren Zustände des Lebens und zum kräftigen Symbol für das Leben „nach der Natur“. Nicht Schönheit, so wird er nicht müde zu betonen, sondern Vitalität und Ausdruckskraft seinen das Ziel seiner Arbeit. Treffend wurde Henry Moore deshalb auch der Künstler des Vitalismus genannt. Der élan vitale, diese Kraft, die der spürt, der lebendig ist, ist das Versprechen, das in den Menschenbildern Moores so zuversichtlich aufscheint, als Versprechen gegen die Bedrohungen, denen der Mensch in der Moderne ausgesetzt ist und denen er sich selbst aussetzt: im Zwang zum Selbstentwurf, zur kulturellen Weltbewältigung kann die Kraft des Lebens dennoch wirken. So entsteht in Moores Menschenbildern durch die einzigartige und spannungsreiche Verbindung von Abstraktion und Organischem eine Dynamik, die das Lebendige am Leben quasi intensivierend sichtbar werden lässt. Der direkte Zugriff auf diese Kraft kann nur vergeblich sein, als dauernder Vollzug in den Prozessen der Künstlichkeit „nach der Natur“ ist er aber dennoch am Werk und wird indirekt und umwegig, über die Kunst, sichtbar und spürbar. Sehen Sie selbst. Spüren Sie selbst.

Fußnoten:

1 Vortrag in der Kunsthalle Würth am 18. September anlässlich der Ausstellung....

2 Vgl. Karl Heinz Bohrer, Nach der Natur, in: Ders., Nach der Natur. Über Politik und Ästhetik, München/Wien 1988, 209-229.

3 Zum Ideal der Ganzheit als vollkommenster Form des Radikal-Individuellen vgl. das Manifest von Unit One, einer Künstlergruppe, die  Paul Nash 1933 gegründet  hat und zu der auch Moore gehörte: Unit One, in: Henry Moore, Über die Plastik. Ein Bildhauer sieht seine Kunst, hg. von Philipp James, München 1972, 63-67.

4 Vgl. Henry Moore, Die Plastik der Stammeskulturen, in: Ders., s.o. 159-169.

5 Henry Moore, Primitive Kunst, in: Ders., s.o., 159-169, hier 164.

6 Vgl. Henry Moore, Materialgerechtigkeit, in: Ders., s.o., 113-114.

7 Henry Moore, Primitive Kunst, in: Ders., s.o., 159-169, hier 162.

8 Henry Moore, Der Bildhauer spricht, in: Ders., s.o., 55-62, hier 56f.

9 Henry Moore, Das Wesen der Bildhauerei, in: Ders., s.o., 49-54, hier 50. 

10 Henry Moore, Das Wesen der Bildhauerei, in: Ders., s.o., 49-54, hier 53.