Laudatio für Jens Petersen zur Verleihung des Evangelischen Buchpreises 2007

Petra Bahr

Es gibt Geschichten, die noch nie erzählt worden sind. Und es gibt Geschichten, die immer wieder erzählt werden. Was für einen Schriftsteller schwerer zu bewältigen ist, darüber streitet die Zunft der Literaturwissenschaftler, Leser und Kritiker vermutlich, seit Menschen Geschichten gesammelt, erfunden und aufgeschrieben haben. Jens Petersen hat mit seiner Erzählung „Die Haushälterin“ eine Geschichte, die schon tausendmal erzählt worden ist, so erzählt, als hätte sie noch niemand erzählt. Das ist ein kleines Wunder, das in der Tat preiswürdig ist. Vater, Sohn und eine junge Frau, die in die schwierige Gemeinschaft einbricht und Liebe, Lust, Verrat und Treue provoziert - diese Konstellation hat das Zeug zur Tragödie: Philipp liebt Ada, die Haushälterin, die er einstellt, weil Vater und Sohn nach dem Tod der Mutter nicht mehr allein zurecht kommen. Ada liebt Jurek, der in Polen Gedichte schreibt, während sie das Geld verdient und versucht, einen Verleger für die Lyrik des Geliebten zu finden. Der Vater weiß nichts mehr von der Liebe, seit seine Frau gestorben ist, die immer noch im Haus herumgeistert. Seine Kraft reicht gerade noch dazu, Ada als Anästhetikum gegen den bevorstehenden Tod zu benutzen.

Jens Petersen erzählt auch die Geschichte dreier Körper, wie sie sich gegenseitig anziehen und abstoßen. Der schmächtige Körper des Jungen, mit den zu breiten Hüften und dem Bart, der nicht wachsen will. Den schönen Körper von Ada, der mit den drei Löchern im rechten Ohr, dem blauen Mal im Nacken und dem wundersamen Geruch. Dieser junge Körper lebt zu viel und zu schnell, als dass er das auf Dauer unbeschadet aushalten könnte. Der massige Körper des Vaters, mit den Stahlnägeln, die aus dem gebrochenen Bein ragen. Und den vielen Körperflüssigkeiten, die aus ihm heraustreten.

Nein, Petersen erzählt in seinem Debüt keine vergeistigte Konfliktgeschichte. Lebendige Leiber mit schlagenden Herzen und pochenden Gedanken geraten in Widerspruch. Flüssigkeiten aller Art mäandern durch die Seiten – Blut, Samen, Eiter, Schweiß und Tränen. Ich kenne übrigens keine Erzählung jüngeren Datums, in der es so intensiv riecht.

Doch Jens Petersen baut keine Tragödie daraus und keine Verstrickung von antiken Ausmaßen, an deren Ende ein gerüttelt Maß von Toten steht, sondern eine einfühlsame und leise Geschichte über das Erwachsenwerden. Er erzählt von der ersten großen Liebe und von den Enttäuschungen, die sich in Beziehungen einschleichen, wenn die kindliche Einstellung, die das Leben und die Menschen so nimmt, wie sie sind, dem Geist der Beobachtung und der kritischen Unterscheidung weicht. Er erzählt auch davon, dass der, der liebt, freilassen kann. Eine ziemlich altmodische Pointe, die sich der Autor hier leistet. Eine biblische Pointe. Denn der Grundton des Buches ist nicht tragisch. Er ist auch nicht „cool“, wie es der Zeitgeist der Gefühlssezierer momentan gerne hat. Vielleicht ist das Buch auf Melancholie temperiert, weil es eben auch eine Geschichte des Abschiednehmes ist – des Abschieds von der Naivität der Kindheit, des Abschieds von der Mutter, deren Geist immer noch im Haus gefangen ist, des Abschieds vom gewohnten Vaterbild, des Abschieds von der Leichtigkeit des Liebens. Genau genommen hat das Buch überhaupt nicht einen Ton, sondern viele Töne, Facetten und Farben. Es sind diese Nuancen, die mich als Leserin am Protagonisten kleben ließen, obwohl Geschichten über das Erwachsenwerden eigentlich gerade nicht auf meinem Lektüreprogramm stehen. Jens Petersen benutzt seinen Protagonisten nicht, um ein Exempel des Erwachsenwerdens zu statuieren, das auch auf diese oder jenen zutreffen könnte. Er rüstet seine Sätze nicht mit jenen Identifikationspotentialen auf, die den Entwicklungsromanen oft so was Bemühtes geben, weil das Erwachsenwerden beim Autor ja auch schon eine Weile her ist. Jens Petersen riskiert es, die Geschichte von Philipp, seinem Vater und Ada so zu erzählen, als gebe es den Philipp nur ein einziges Mal: in seiner Geschichte. Er verweigert sich der Vereinnahmungsstrategien, die aus Büchern Titel machen, die als „Generationenbücher“ beworben werden. Nein, es muss nicht eine ganze Generation in Philipps musikalischen Vorlieben, in der Einrichtung seines Kinderzimmers und der Wahl seiner Jeanshosen passen und schon gar nicht die verlorenen Herzen einer ganzen Horde von 16jährigen. Keine Automarke steht für ein Lebensgefühl, weil nur dieser eine Junge sich so fühlt, wie er sich fühlt. Diesen Philipp gibt es nur einmal, wie es auch den Vater mit der verletzten Seele und der Trinkerleber nur einmal gibt – und natürlich Ada, dieses Geschöpf aus dem Jenseits, dass in die versiegelte Welt aus Trauer und Lähmung einbricht, ohne auch nur ansatzweise in Engel aus dem Katalog der Männerphantasien zu sein. Ada ist nicht einfach nur das gute Mädchen aus Polen, das so massenhaft durch unsere Vorabendserien streift, die Intellektuelle, die Lyrikexpertin, die in Deutschland putzt und in fremden Betten liegt, obwohl der Geliebte in der Heimat wartet und seine traurigen Gedichte schreibt, für die es in Deutschland keinen Verleger gibt. Ada ist auch maliziös und oberflächlich und verschlossen. So wie der zornige Vater nicht nur unsensibel und böse, sondern auch einer ist, dessen gebrochenes Bein für ein gebrochenes Herz steht. Anders als für das Bein gibt es keine Stahlnägel, die den Bruch heilen können.

Weil der Autor es wagt, eine besondere, einigartige Geschichte zu erzählen, die nicht auch an beliebig vielen Orten beliebig vielen Menschen genauso hätte zustoßen können, klebt man mit neugierigen Augen an den Seiten, bis man auf Seite 174 angekommen ist. Unterwegs kann es geschehen, dass einzelne Passagen ins Philosophisch-Allgemeingültige wechseln, ohne aber je bemüht oder gar pädagogisierend zu wirken. Eine meiner liebsten Stellen so hier erinnert: „Ich spürte, dass ich Ada nicht sagen durfte, was ich fühlte, zumindest nicht so, wie ich es am See hätte tun wollen. Es schien eine Regel zu geben, die den Menschen verschrieb, anderen ihre Gefühle als Rätsel mitzuteilen. Ich hatte einige Sätze über die Ewigkeit im Kopf, über das Glück und den Tod, aber nun saß Ada da, und ich brachte nichts heraus.“

Für mich ist diese kleine Ansammlung von äußerst präzisen Sätzen, die auch zum Aphorismus taugen und doch ganz in die Geschichte passen, eine Schlüsselstelle zum Buch. Denn Jens Petersen schafft es, die Innenverhältnisse der Protagonisten und ihre Außendarstellungen in ein heftiges Missverhältnis geraten zu lassen. Wobei uns Lesern und Leserinnen die Innenwelt von Ada und dem Vater selbst verschlossen bleiben. Wir sind ganz angewiesen auf das, was der Junge beobachtet. Wir müssen mit seinen Schlussfolgerungen Vorlieb nehmen und mit seinen Versuchen, in seiner Rätselwelt zu leben. So stellt sich zwar nie die Frage, ob Philipp richtig liegt mit seinen Einschätzungen. Aber weil es so selten zu einer offenen Aussprache kommt, ist die Erzählung auch eine Tour de Force durch vermutete Motive, durch geahnte Gefühle und geheimnisvolle Gesten. Verstehen stellt sich nicht selbstverständlich ein. Verstehen ist eher ein Wunder, das es selten gibt.

Wenn man all die unausgesprochenen Sätze zählte, die durch die Erzählung geistern, käme man auf eine stattliche Zahl. Die nassforsche, bisweilen auch mit evangelischem Pathos vorgetragene Unterstellung, unser Leben sei im wesentlichen Gespräch, das unter dem Vorzeichen des Gelingens stünde, findet hier eine ungeheuer poetische und feinsinnige Entgegnung. Schon der Weg zu einem gelungenen Selbstgespräch ist eine abenteuerliche Sache. Wer dem jungen Philipp auf diesem verschlungenen Weg zu den eigenen Gefühlslagen und Einschätzungen folgt, erfährt das auf beinahe elegant beiläufige Weise. Und noch was trägt dazu bei, dass Jens Petersen die vielen Klischees umgeht, die bei dem Projekt eines „Bildungsromans“ auf dem Wegesrand liegen. Er ist ein Künstler der Lücke. Seine Sätze sind sparsam, ohne mit Bestimmungen zu geizen, wo sie nötig sind. Aber seine eigentliche Kunst besteht darin, die Leerstellen zwischen den Worten, Sätzen und Abschnitten so zu komponieren, dass der Leser und die Leserin Platz haben. Lücken, hat einmal ein berühmter Poetiklehrer im 18. Jahrhundert gesagt, Lücken sind das Einfallstor für die Einbildungskraft. Petersen macht die Tore weit. Deshalb sind die 174 Seiten gefühlte 300 Seiten. Diese Auslassungen entstehen, weil uns der Autor auch mal mit kleinen Gesten alleine lässt. Einer hochgezogenen Augenbrauche, einem schlurfenden Schritt, einem undefinierten Blick. Mehr nicht – und doch ein ganzer Kosmos von Bedeutungen, die zu enträtseln uns der Autor selbst aufgibt. Wir müssen bei ihm sozusagen erwachsen werden und können nicht mehr auf einen hoffen, der uns die Welt erklärt. Jens Petersen achtet seine Leser als Individuen, die Platz brauchen. Er verzichtet auf jenen autoritären Stil, der gerade wieder im Aufwind ist, weil die Welt nach großen Erklärungen verlangt. Fast wäre ich geneigt, diesen Stil einen „protestantischen Stil“ zu nennen. Es wird nicht vor den Augen der Leser ein schreckliches oder wunderbares Spektakel vorgeführt. Der Leser wird vielmehr einbezogen in den Prozess der Enträtselung der Welt, und zwar ohne Demagogie oder Seelenlenkung. So atmet dieses Buch auch den Geist der Freiheit –einer Freiheit, die ohne große Geste daher kommt, die sich nicht marktschreierisch anbietet oder die Brüche des Lebens souverän überfliegt, wie die Freiheit, die im Kitsch zuhause ist. Die Freiheit, die uns aus Petersens Buch anweht, wächst in den Fugen und Bruchkanten der Lebensgeschichten. Sie duldet auch Traurigkeit neben sich und sogar das Ende der Sprache. Sie ist gegen Rätsel und Gesprächsabbrüche nicht gefeit. Und sie provoziert Entscheidungen, die gegen das eigene Herz getroffen werden. Denn sie entspringt der Liebe, dieser erstaunlichen, verrückten und verletzlichen Energie des Lebens, die wir nicht im Griff haben und die nicht auf Begriffe zu bringen ist. Was da bleibt, ist Poesie. Auch wenn sie im Prosaton daher kommt.

Petra Bahr ist Kulturbeauftragte der EKD

23. mai 2007