Vortrag vor dem Sprengelkonvent Schleswig

Robert Leicht

Husum

Über lutherische Identität

Vorbemerkungen

Zur Fragwürdigkeit kollektiver Identitätsvorstellungen

in der Politik: Stichwort "deutsche Identität" - vor 1989, und dann nach 1989 wieder. War es nicht endlich Zeit geworden, sich von solchen Identitätsvorstellungen zu verabschieden, die doch - radikal zu Ende gedacht - zu dem Satz führen können/müssen: Du bist nichts, Dein Volk ist alles. Was als Identität anfängt, endet dann als Homogenität, als forcierte Gleichmacherei im Kollektiv rechter oder linker Provenienz. Und dann kommen Sickerdenkbestände aus diesem Bestand sogar in die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zur Staatsbürgerschaft: das Volk als Blutsgemeinschaft. (Diese Panscherei möchte ich mir einmal mit den Augen des Herrn Mendel ansehen!) Nicht einmal, oder allenfalls: Schicksalsgemeinschaft - nein: Blutsgemeinschaft.

Scheinbar nur analytische Kategorien wie "Identität" tragen also ein beachtliches Potential an Irrationalismus an sich, jedenfalls wenn sie kollektiv instrumentalisiert werden.

Hier zeigt sich, was logisch schon auf der Hand liegt: A = A, niemals A = B. Ich kann mich allenfalls mit mir selber identifizieren - niemals mit jemandem anderen, und sei die Person noch so liebenswert. Solche Verhältnisbestimmungen brauchen andere Begriffe als Identifikation: Liebe, Vorbild, Maßstab...

Nicht einmal mit Ideen kann man sich identifizieren - denn Ideen können sich umgekehrt nicht mit mir identifizieren. Auch hier sind andere Begriffe zur Verhältnisbestimmung erforderlich: Orientierung, Begeisterung, Diskurs...

Es ist also dringendgeboten, in der Politik auf den Begriff der Identität (oder der Identifikation) zu verzichten. Die Aufgabe einer liberal-demokratischen Politik ist nicht die Herrstellung identitätssüchtiger Kollektive, sondern die freiheitliche Assoziation mündiger Individuen. Und deshalb interessiert mich weniger die volks-tümliche Identität meines Gegenübers, als vielmehr seine eigen-tümliche Individualität.

Trotzdem stellt sich die Frage: Weshalb reden wir doch immer wieder in Formeln wie typisch deutsch, typisch englisch...? Wenn die ersten, oder doch: Wenn zu den frühesten Worten, die ein Mensch, ein Säugling - laut Piaget - gebraucht, die Worte Ja und Nein gehören (gar ihre Vorformen des Kopfschüttelns und -nickens), so wird ersichtlich: Schon der kleine Mensch nimmt zu seiner Umwelt ständig in unterscheidender Weise Stellung - in Zustimmung und Ablehnung; man kann auch sagen, und zwar schon sehr früh, wenngleich in rudimentärer Weise: Er nimmt ständig in kritischer Weise Stellung. Selbst wenn dies alles nur eine metaphorische Evidenz haben sollte, so wird doch beides deutlich: Die Individuen unterscheiden sich (auch) je nach dem Reifegrad und dem Grad der Elaboriertheit, ja: der Selbständigkeit, mit der sie diesen Prozeß der zunächst binären Aneignung, später differenzierten und schließlich kritischen Aneignung der Umwelt leisten; ihre prima facie kollektive Ähnlichkeit, das jeweils für ihre Nation, aber in Wirklichkeit doch für viele Differenzierungen (Region, Klasse, Schicht, Konfession) "Typische" ergibt sich daraus, daß sie in einer gemeinsamen, geschichtlich so gewordenen und je unterschiedlich ausdifferenzierten Umwelt ihre Individualität herausgebildet haben.

All diese Beobachtungen gelten natürlich auch für jedes Teilsystem einer gesellschaftlichen Umwelt und die sich daraus ergebenden Teilaspekte der Individualität, also zum Beispiel der religiösen Prägung. Normatives Ziel dieser Aneignung sollte aber stets die Individualisierung eines mündigen Bürgers oder Christen sein - nicht die Ausbildung einer kollektiven Identität; Züge der Ähnlichkeit ergeben sich aus dem historisch vorhandenen gesellschaftlichen Material, nicht als Produkt einer gezielten Absicht. So sollte es jedenfalls sein ...

Zur Frage religiöser, oder: theologisch bestimmter Identität

Wenn ich die Aufeinanderfolge von Schöpfung und Fall richtig verstehe, so ist unsere theologische Lage nun gerade dadurch bestimmt, daß wir als Sünder eben nicht identisch mit uns sind. Dies ist letztlich der präzise Begriff von Sünde. Und der schärfste Begriff von Sünde ist gerade der adamitische Versuch des Menschen, mit sich selber identisch werden zu wollen, Herr also nicht nur seiner Sinne, sondern Herr seines Sinnes - Herr dann schließlich [und konsequent] über den Lebenssinn anderer, sie so in eine Identität zwingend. Individualität im christlichen Sinne wäre also die Absage nicht nur an kollektive Identität ( außer, daß wir sagen, eben dies eine haben wir gemeinsam, daß wir allzumal Sünder sind, dies macht aber eben nicht unsere gesamte Verfassung [oder Individualität] aus), sondern die Absage an eine selbst-herrliche, allein selbst-beherrschte Identität. Als Christen leben wir ex-zentrisch - auf jemanden anderen hin orientiert; nicht etwa ego-zentrisch - auf uns allein konzentriert. "Geh aus mein Herz..." , läßt uns Paul Gerhardt singen.

Und: Daß wir alle eins seien und letztlich identisch, also versöhnt - dies gehört zu den letzten Dingen, liegt folglich nicht in unserer Kompetenz. Jeder Vorgriff darauf wäre Anmaßung - und folglich Sünde: Sein wollen wie Gott ...

Zur lutherischen Konfession

All diese Vorbemerkungen waren mir wichtig, um mit dem merkwürdigen Begriff der Konfession sinnvoll umgehen zu können. Der Begriff (und seine ihm zugehörige soziologische Realität) schillert ja in seiner Dialektik von existentieller Bestimmtheit, ja Exklusivität und, zumindest in der Tendenz: Universalität - zugleich aber in seiner Partikularität, Pluralität, Toleranz. Konfession - das heißt: daß sich jemand selber bekennt - aber doch nicht, oder nicht mehr: daß wir einem anderen ein Bekenntnis anders als in der Form eines freien Gewissensaktes abverlangen, erbitten könnten. Wir müssen also den Begriff der Konfession in beiden Dimensionen sehen: in seiner konkreten Gewissensforderung, in seiner existentiellen Bestimmtheit, in seiner radikalen Verbindlichkeit für den Bekenner. Zugleich aber müssen wir ihn sehen in seiner absoluten Freiheit (und Freiwilligkeit); als christliche Konfession zudem in seiner toleranten Menschenfreundlichkeit.

Dies alles können wir aber nur, wenn wir aus der Konfession keine Forderung, Über-Forderung, ja: Anmaßung einer vereinzelten oder kollektiven Identität machen. Wir bekennen nicht unsere Identität - sondern: daß wir dieser Identität entbehren. Im Begriff der christlichen Konfession selber (jedenfalls - und hier setzen entscheidende Unterschiede ein - im reformatorischen Begriff der Konfession) liegt die Offenheit und Unvollständigkeit, das Unzureichende dieser Konfession als Seins- und Sinnesbestimmung schon inbegriffen. Zumal da die reformatorische Theologie keine Ekklesiologie kennt, derzufolge die Kirche als Verwalterin des Gnadenschatzes gerade die Vollmacht und Macht hätte, durch die ungestörte Mitgliedschaft den Mangel an existentieller Identität zu heilen (oder aber in der Ex-Kommunikation zu verweigern), zumindest .... for the time being.

Somit können wir auch etwas entlasteter mit der Tatsache umgehen, daß wir alle doch mehr oder weniger zufällig zu unserer Konfession gekommen sind, jedenfalls zu unserer ersten. Wir sind eben - dies jedenfalls als Regelfall - in irgendeine konfessionell geprägte Umwelt hineingeboren worden, haben sie uns, beginnend mit dem Piaget'schen Sprach- und Denkmodell erschlossen, haben uns damit auseinandergesetzt. In einer verdichteten Form führt ein solcher Prozeß zur Konversion, zu einem Akt der souveränen Wahl, qua. Wechsel der Konfession; mitunter mit der Folge einer bleibend stärkeren Ausprägung der Konfessionalität (Renegatentum?); oder der Prozeß der Aneignung führt aus einer a-religiösen Umwelt in einen Akt der Bekehrung. Viel häufiger aber dürfte der Fall sein, und dies wäre dann auch die Folge dessen, daß wir aus der Konfession zurecht keine Frage der zwanghaft verordneten Kollektividentität mehr machen ( "Daß Du mir ja keinen Katholiken mit nachhause bringst") - viel häufiger also der Fall, daß eine solche Auseinandersetzung zum Verblassen der konfessionellen Gegebenheiten führt - bis mitten hinein in die konfessionell definierte Kirche.

Und so stehen wir nun vor der verwirrenden Tatsache des Streits um die "Gemeinsame Erklärung zur Rechtfertigungslehre" - angesichts dessen die einen sich verstört wundern über die Wiederkehr eines bereits als obsolet geglaubten Konfessionalismus, angesichts dessen die anderen aber sich freuen, daß offenbar doch noch theologisch, und zwar reformatorisch entzündete Kohle unter der Asche der Säkularisierung und der Zivilreligion glimmt; es braucht nur eines Windstoßes des Sauerstoffes...

Ich denke,wir dürfen uns über diesen Streit freuen, sofern er ein waches, oder doch wieder zu weckendes theologisches Bewußtsein anzeigt - und beweist, daß theologische Grundfragen ihre Relevanz haben, vor allem aber existentiell regelrecht spannend sind.

Der Streit wäre theologisch, kirchenpolitisch und zivilgesellschaftlich beklagenswert, wenn er triumphalistisch, vereinsmeierisch oder adamitisch für die Herstellung einer kollektiven lutherischen Identität instrumentalisiert würde, die dann nicht nur zu lebhaften, vitalen Unterscheidungen, sondern zu Homogenitätsforderungen und Ausgrenzungen führen würde.

Wenn es denn so ist, daß ein Mensch sich die Welt in einem fortgesetzten Prozeß des Stellungnehmens aneignet, verinnerlicht, dann kann dieser Prozeß nicht anders verlaufen, als - bei Interesse am Gegenstand - in zunehmender Bestimmtheit (oder im zunehmenden Desinteresse an einem Gegenstand als solchem). Folglich ist die Ausbildung einer Konfession in den einzelnen Fragen christlichen Glaubens nichts Zufälliges - wenngleich der Ausgangspunkt eines solchen Prozesses häufig zufällig gesetzt wird, in der historischen Kontingenz. So kann denn auch der Streit um die Rechtfertigungslehre produktiv werden für die theologische Orientierung.

Was lernen wir daraus über die lutherische Identität?

Die ist ja so homogen auch nicht zu bestimmten - zwischen konservativen oder weniger konservativen, deutschen und amerikanischen. Für mich aber hat der Disput um die GE längst abgesunkene Fragen neu aktualisiert und ein weiteres Stück geklärt.
Ich kann zum Schluß Ihnen nur eine persönliche Antwort geben - die Gründe für meine persönliche Option nennen:

Wichtig und klarer ist für mich geworden das gemeinsame aller reformatorischen Theologie, oder sagen wir: der paulinischen Theologie - oder sagen wir: der um die Einschlüsse des Pelagianismus bereinigten augustinischen Theologie: Der Befund, daß wir als Sünder, als nicht mit uns identische Menschen nicht Herr unseres Sinnes sein können - und nicht autonom zu unserer Rettung, zur Durchbrechung des Gesetzes des Todes beitragen können.

Früher hätte ich, vielleicht nicht ausreichend informiert, immer wieder dazu tendiert, doch eher zu den Reformierten zu neigen - wahrscheinlich zunächst mehr aus politischen Vorbehalten für einen gerade zwischen 1933 und 1945 fatalen Staatskonservativismus.

Heute finde ich (obschon Rechtfertigungslehre und die Lehre von der Prädestination theologisch auf dasselbe hinauswollen: die Unverfügbarkeit des göttlichen Willens gegenüber menschlicher Leistung, und die Prädestionationslehre dies noch radikaler ausdrückt) Luther einfach ja: menschlicher, expressiver (expressionistischer) , vitaler, umwerfender, sprachlich und musikalischer als den lehrhaft vielleicht präziseren Calvin. Vielleicht kommt in dieser Option auch nur ein ästhetisches Vorurteil zum Ausdruck. Aber seit wann wäre Theologie (und die Konfession) nicht auch eine Frage der Ästhetik. Immerhin soll es ja, hört man, wenigstens im Paradies schön sein.

Alle Rechte an dieser Publikation liegen bei Robert Leicht, Redaktionsmitglied der ZEIT.