Grußwort des Bundespräsidenten anlässlich des Zukunftsforum 2014 in Wuppertal

Joachim Gauck

Es gilt das gesprochene Wort!

Ich freue mich, hier zu sein, unter Ihnen, also unter Menschen, die der Glaube antreibt zu praktischem Handeln, denen der Glaube keine Ruhe lässt.

Ja, unser Glaube ist kein sanftes Ruhekissen für bürgerliche Gemütlichkeit. Er fordert uns dazu heraus, uns immer wieder selber in Frage zu stellen, unser Tun immer wieder zu reflektieren und unsere Lebenspraxis zu verändern.

Aber es ist nicht nur der Glaube selbst, der uns unruhig macht und geistig beweglich hält. Es sind unser Leben, unsere Welt und darin die Strukturen unserer Kirche, die geradezu radikalen Veränderungen ausgesetzt sind.

Das erfahren alle, die sich in der Kirche engagieren. Und auch wenn hier überwiegend evangelische Christen versammelt sind, so gilt das genauso für unsere Brüder und Schwestern in der Katholischen Kirche in Deutschland.

Wir spüren vielleicht noch mehr als wir wissen, dass sich große Veränderungen vollziehen - und dass wir an diesen Veränderungen mitarbeiten müssen, wenn wir nicht nur blinde Passagiere auf einem fremdgesteuerten Schiff sein wollen.

Dass die Evangelische Kirche in Deutschland diesen großen Kongress zur Selbstverständigung über ihre Wege in die Zukunft veranstaltet, verdient die Aufmerksamkeit von Staat und Gesellschaft. Ich wünsche mir, dass die Bürgerinnen und Bürger unseres Landes aufmerken, wenn die Kirche sich neu orientiert. Und ich möchte als evangelischer Christ, als Bürger dieses Landes und als Bundespräsident meinen Beitrag zu dieser Neuorientierung leisten. Deshalb bin ich gerne hierhergekommen.

Es ist für unser Land nicht gleichgültig, welchen Weg die großen Glaubensgemeinschaften einschlagen, es ist nicht gleichgültig, welchem Bild vom Menschen und vom menschlichen Zusammenleben, welchen Werten und Zielen ihr Handeln entsprechen soll.

Es ist im Übrigen für diese Gesellschaft und für dieses Land auch nicht gleichgültig, wie in der Kirche von Gott gesprochen wird - ja, ob überhaupt noch vernehmbar und verstehbar von Gott gesprochen wird. Darf ich so etwas als Bundespräsident sagen? Ich glaube, das darf ich. Ich bin nämlich zutiefst davon überzeugt, dass der Mensch - und damit auch die Politik - auf eine gute Art entlastet wird, wenn wir zwischen letzten und vorletzten Fragen unterscheiden. Es entlastet uns und schenkt uns Freiheit, wenn wir wissen, dass demokratisches politisches Handeln zwar vollkommen zu Recht mit Mehrheit über den einzuschlagenden Weg entscheidet, dass damit aber über die Wahrheit nichts entschieden ist. Es macht die Befragung unseres Gewissens zugleich freier und ernster, wenn wir uns im Letzten vor einer Instanz verantwortlich wissen, die wir nicht selbst gemacht und mehrheitlich bestimmt haben.

Nicht zuletzt um diese Unterscheidung von Letztem und Vorletztem lebendig zu erhalten, indem sie "das unsterbliche Gerücht von Gott" - wie Robert Spaemann es nannte - weitererzählen, nicht zuletzt deshalb tun die Kirchen der Gesellschaft einen guten Dienst. Oft werden sie, von Außenstehenden, die es aber gut mit den Kirchen meinen, eher als eine Art Refugium des Bewahrenswerten, als liebenswertes Museum altehrwürdiger Traditionen angesehen, eine mehr oder weniger konservative Moralagentur.

Aber Glaube an Gott ist eine Zumutung für die Glaubenden. Und die Existenz von Glaubensgemeinschaften ist eine Zumutung für die Gesellschaft. Es ist die Zumutung, uns mit Maßstäben zu konfrontieren, die oft quer zu dem stehen, was wir uns selber so schön ausgedacht und zusammengebastelt haben.

Dass der Schwache geschützt wird, dass Teilen richtiger ist als Behalten, dass der geschlagene Nächste am Wegesrand, in welcher Gestalt auch immer er aktuell auftritt, Herausforderung für unsere Nächstenliebe ist, dass Friedfertigkeit so weit geht, dem Angreifer auch die andere Wange hinzuhalten, dass Gerechtigkeit wirkliches Teilen meint und nicht gelegentliche Almosen, dass die Würde des Menschen nicht von seiner Herkunft, nicht von seinem Glauben, nicht von seinem Gesundheitszustand abhängt, dass diese Würde zu achten ist von der Zeugung bis zum letzten Atemzug, dass man nicht alles darf, was man kann:

Das alles wird wohl nie Mainstream einer Gesellschaft, das alles wird wohl nie mit Mehrheit verabschiedet, das alles gehört zur Botschaft des Evangeliums, die wir nicht neu zu erfinden brauchen, sondern die wir gesagt bekommen haben und weiter bezeugen dürfen und müssen.

Ja, unsere Kirchen können manchmal selbstgenügsam, bequem, wehleidig oder dem Zeitgeist verfallen sein. Wir müssen uns neu darauf besinnen, wie die junge Kirche einst in der alt gewordenen römischen Welt wuchs und gedieh und überzeugte: als moralische und spirituelle Avantgarde, als eine frische, eigensinnige, vor allem aber als eine von ihrer Aufgabe überzeugte Gemeinschaft. Solchen Geist wünsche ich mir. Von Ihnen, von uns, von den Kirchen in unserem Land.

Wir sind hier in Wuppertal beisammen. Das lenkt unseren Blick auf die Barmer Theologische Erklärung, mit der mutige Frauen und Männer der Kirche im "Dritten Reich" so eindeutig und überzeugend Farbe bekannt haben. In wie viel leichteren äußeren Umständen leben wir heute! Um wie viel leichter wird es uns doch eigentlich gemacht, christlichen Glauben zu bekennen und zu leben. Zu leicht vielleicht?

Und Wuppertal erinnert mich auch an einen meiner Vorgänger, Johannes Rau, an sein Wirken als evangelischer Christ und als Bundespräsident. Seine ständige Ermahnung: "Tun, was man sagt, und sagen, was man tut!" ist immer noch gültig, wie ich finde, für Politiker wie für engagierte Christen. Der von ihm für seinen Grabstein ausgewählte Bibelvers, scheinbar eine Denunziation, in Wahrheit aber eine Auszeichnung, sollte für uns alle, für jeden, dem die Zukunft der Kirche in diesem Land am Herzen liegt, eine fröhliche Verpflichtung sein: "Dieser war auch mit dem Jesus von Nazareth."