Predigt im ZDF-Fernsehgottesdienst in der Stuttgarter Leonhardskirche

Heinrich Bedford-Strohm

Liebe Gemeinde,

kann man singen, wenn ringsherum die Welt in Flammen steht? Kann man einen Gottesdienst feiern, in dem kraftvolle Lieder gesungen werden, wenn gerade Menschen ihr Leben verloren haben und brutale Gewalt eine Stadt, ja ein ganzes Land, in Schrecken versetzt hat? Ich habe diesen Schrecken gespürt, als ich vorgestern Abend in meinem Büro in München festsaß, als über mir die Polizeihubschrauber kreisten und fast ununterbrochen die Martinshörner der Polizeiautos zu hören waren. Auch eine Besuchergruppe unserer Partnerkirche in Brasilien war da. Wir haben uns im Kreis aufgestellt, an den Händen gefasst und gebetet. Und die Zuversicht ist zurückgekommen.

„Tobe, Welt, und springe. Ich steh hier und singe, in gar sichrer Ruh. Erd und Abgrund muss verstummen, ob sie noch so brummen…“

Das ist unsere große Hoffnung in Zeiten der Angst: Die dunklen Kräfte, die gerade angesichts solcher Gewalttaten nach uns greifen wollen, können nur noch brummen, weil ihnen die Macht genommen ist. Weil wir singen. Weil wir in uns Kraft spüren. Weil wir ruhig werden und die Zuversicht zurückkommt.

Die, die Angst verbreiten wollen, werden nicht den Sieg davon tragen. Wir werden ihnen diesen Triumph nicht gönnen. Wir werden weitersingen, vielleicht noch trotziger als vorher. Aber wir werden singen! Und die himmlische Kraft in uns wirken lassen, die das Moll der Seele in Dur verwandeln kann.

So wie bei Maria. Sie war sicher kein Gesangsstar.

Doch als sie erfährt, dass mit ihrem Kind Gottes neue Welt anbricht, singt sie, was das Zeug hält. Maria singt von einer neuen Welt, in der Gewalt und Ungerechtigkeit überwunden sind.

Man muss nicht Maria, die Gottesmutter, sein, um so singen zu können. Es reicht, wenn man die Augen geöffnet bekommt für das Wirken Gottes in dieser von so viel Gewalt und Unrecht geschüttelten Welt.

Es reicht, wenn man sich bei ihrem Anblick nicht von Hass, Rache und Zynismus überschwemmen lässt. Sondern singt, wie es der Apostel empfiehlt:

Lesung Predigttext Kol 3,12-17

Predigt II

Liebe Gemeinde, der Apostel Paulus nennt hier die Musik in einem Atemzug mit dem Wort Christi und der Weisheit. Er stellt sie neben herzliches Erbarmen, Freundlichkeit, Demut, Sanftmut und Geduld. Und neben die Vergebung. Das ist wichtig!

Denn es ist nicht egal, wovon wir singen. Musik und Gesang können auch in die Irre führen. Menschen, die inbrünstig singen, können für Hass und Gewalt missbraucht werden.

In der Zeit des Dritten Reiches spielte der Gesang bei Aufmärschen eine zentrale Rolle. Auch durch Lieder wurde den Leuten die menschenfeindliche Ideologie des Nationalsozialismus in die Herzen gepflanzt. Das „Horst-Wessel-Lied" schmetterte von braunen Bataillonen, freien Straßen für die SA. Und dem Hakenkreuz als angeblicher Hoffnung für Millionen.

Es fröstelt mich, wenn ich mir vorstelle, wie Menschen inbrünstig dieses Lied gesungen und vielleicht nicht einmal gemerkt haben, dass es eine Hymne an das Böse war, dem sechs Millionen Juden in den Gaskammern und zig Millionen Tote auf den Schlachtfeldern zum Opfer gefallen sind. Hier ist Musik zur Triebkraft für Menschenverachtung und Gewalt geworden.

Aber auch das fromme Singen konnte damals falsch sein. Wenn es mit „geschlossenen Augen" geschah, die das Leid anderer ausblendeten. „Nur wer für die Juden schreit, darf auch gregorianisch singen." - hat Dietrich Bonhoeffer darum einmal in der Zeit des Dritten Reiches gesagt. Das heißt: Gott kann man nur loben, wenn man ihn auch im Antlitz des Nächsten wahrnimmt. Fromme Gesänge werden unglaubwürdig, wenn sie mit kaltem Herzen gegenüber den Mitmenschen und ihrem Leid gesungen werden.

Darum achtet darauf, was ihr singt. Die Musik darf nie mehr zur Triebkraft von Hass werden! Und Kirchenmusik schon gar nicht!

„So zieht nun an als die Auserwählten Gottes, als die Heiligen und Geliebten, herzliches Erbarmen, Freundlichkeit, Demut, Sanftmut, Geduld... Über alles aber zieht an die Liebe, die da ist das Band der Vollkommenheit...; mit Psalmen, Lobgesängen und geistlichen Liedern singt Gott dankbar in euren Herzen."

Klarer kann man es nicht sagen: Gotteslob und die Liebe gegenüber den Mitmenschen, das Erbarmen gegenüber den Bedrängten: sie gehören untrennbar zusammen!

Manche haben aus der Erfahrung von Leid und Tod den Schluss gezogen, dass man mit dem Singen aufhören solle. Aber das wäre der völlig falsche Schluss! Gerade ein Glaubenslied wie der folgende Hymnus zeigt, wie wir im Sinne des Apostels Paulus singen können, wie wir gerade jetzt, im Erschrecken über Terror und Gewalt kraftvoll singen können:

Band, Chor, Orchester „Herr aller Hoffnung“

Predigt III

Motiv nicht Dankbarkeit, sondern Hoffnung

„Der Tod ist besiegt und die Nacht ist vorbei. Was immer geschieht, ich bin dein allezeit." Worte, die Zuversicht geben. Die davon erzählen, dass der Gott, der uns geschaffen hat, uns in seiner bergenden Hand hält, egal, was passiert. Das tief in der Seele zu spüren oder auch nur zu ahnen, das ist der Grund dafür, dass sich so viele Menschen in unserer Kirche in Chören engagieren und Gott mit ihren Liedern loben und preisen. 2,3 Millionen Menschen in ganz Deutschland singen in Chören, die allermeisten davon in Kirchenchören.

Und dank einer kürzlich erschienenen Studie über Gospelchöre wissen wir auch einiges über sie. Alle haben als Grund für ihr Singen angegeben, dass es ihnen schlicht und einfach Freude bereitet. Viele gewinnen im Singen „neue Kraft für den Alltag". Ob Gospel, Hymnen, Paul Gerhardt oder Johann Sebastian Bach: das Singen tut der Seele gut. Und es öffnet unser Herz für Gott und den Anderen.

Davon brauchen wir mehr, gerade jetzt, wo sich Angst und Unsicherheit auszubreiten droht. Darum lasst uns als Kirche dazu beitragen, dass unser besorgtes und verzagtes Land wieder das Singen lernt. Dass es lernt, die Samen einer neuen Welt, in der Liebe und Barmherzigkeit sich ausbreiten, wahrzunehmen und stark zu machen. Die Hilfsbereitschaft so vieler Menschen, die vorgestern Abend in München ihre Häuser für verunsicherte Passanten geöffnet haben, sind solche Samen. Nicht die Angst, sondern diese Zeichen der Hoffnung und Zuwendung sollen unser Herz füllen. Lasst Chöre zur Keimzelle einer neuen Zuversicht, eines neuen Gottvertrauens, einer neuen Hoffnung werden! Und auch einer neuen Glaubenskraft!

Wenn Ihr sagt: Ja! Ich möchte ja gerne glauben! Ich möchte gerne hoffen! Ich sehe doch, welche Kraft das gibt! Aber ich sehe es nur bei den Anderen. Ich selbst kann es einfach nicht spüren! Und wenn ihr fragt: wie macht man das: glauben können, hoffen können? Dann antwortet Paulus: Singt! Mit Psalmen und Lobgesängen und geistlichen Liedern singt Gott dankbar in euren Herzen!

Die „African Angels", ein Opernchor aus Kapstadt haben das getan. Früher hätte in den Townships am Kap niemand ihr Talent entdeckt. Opern singen war ein Privileg der Weißen. Heute singen Schwarze und Weiße zusammen. Menschen aus bürgerlichen Kreisen sind dabei und Menschen aus den Armenvierteln der Stadt. 2013 kürte die Jury des International Opera Award die „African Angels" unter 1500 weltweit nominierten Chören zum besten Opernchor des Jahres.

Wir sind wahrscheinlich keine afrikanischen Engel. Und Opernwettbewerbe gewinnen wir vielleicht auch nicht. Aber Engel können auch wir sein. Die gerade in ihrer Unterschiedlichkeit Gott loben. Denn wie die Choräle und Songs nur schön klingen, wenn die unterschiedlichen Stimmen zusammenklingen, so wird unser gemeinsames Singen zum Beispiel für eine Welt, in der sich die Menschen gerade in ihrer Verschiedenheit annehmen und achten und vielleicht ja sogar lieben.

So werden wir Vorboten einer neuen Welt, in der alle Menschen in Würde leben können. Und strahlen den Frieden Gottes, der höher ist als alle Vernunft, selbst aus. Martin Luther hat so recht, wenn er sagt: "Ich liebe die Musik. Denn sie ist ein Geschenk Gottes und nicht der Menschen, sie macht das Gemüt froh, sie verjagt den Teufel, sie bereitet unschuldige Freude.“ Also, lasst uns singen wie die Engel! Gerade jetzt!

Amen.