Unser tägliches Brot gib uns heute

Neue Weichenstellung für Agrarentwicklung und Welternährung. Eine Studie der Kammer der EKD für nachhaltige Entwicklung. Mai 2015

3.2 Vorrangige Option für die Armen

»In der vorrangigen Option für die Armen als Leitmotiv gesellschaftlichen Handelns konkretisiert sich die Einheit von Gottes- und Nächstenliebe«, haben der Rat der Evangelischen Kirche in Deutschland und die Deutsche Bischofskonferenz 1997 im Wort zur wirtschaftlichen und sozialen Lage in Deutschland unter dem Titel »Für eine Zukunft in Solidarität und Gerechtigkeit« erklärt. »In der Perspektive einer christlichen Ethik muss darum alles Handeln und Entscheiden in Gesellschaft, Politik und Wirtschaft an der Frage gemessen werden, inwiefern es die Armen betrifft, ihnen nützt und sie zu eigenverantwortlichem Handeln befähigt.« [74] Die Armen sind diejenigen, die zum Angelpunkt christlicher Ethik werden. Die Option für die Armen ist verpflichtendes Kriterium des Handelns. Ihre Not ist unmittelbar. Ihre Hilfsbedürftigkeit erfordert sofortigen Einsatz. Je stärker sie von gesellschaftlicher Teilhabe ausgeschlossen sind, umso deutlicher muss der christliche Einsatz für ihren Einschluss sein. »Was ihr getan habt einem von diesen meinen geringsten Brüdern [und Schwestern], das habt ihr mir getan« (Mt 25,40), lässt Jesus uns wissen. Das erlaubt keine Kompromisse oder Entschuldigungen. Die erste Spezifikation im Weltgerichtsgleichnis bei Matthäus, die zur Identifikation des Sohnes Gottes mit den Armen führt, ist der Hunger: »Denn ich bin hungrig gewesen«, sagt er von sich (Mt 25,35).

Gott selbst gibt sich vorrangig und mit Vorliebe in den Armen und Hungernden zu erkennen. Dem entsprechen wir in Akten der Nächstenliebe, indem wir uns den Bedürftigen unmittelbar zuwenden. Im Gleichnis vom Weltgericht, das die klassisch gewordenen Werke der Barmherzigkeit aufzählt, spricht Jesus die Menschen zugleich als Kollektiv an: »Ihr habt mir zu essen gegeben« und »Ihr habt mich gekleidet« (Mt 25,35f.). Gott klagt unsere Solidarität mit den von Armut und ihren Begleiterscheinungen wie Hunger, Ausgrenzung, Krankheit etc. betroffenen Menschen ein, indem er sich mit ihnen identifiziert.

Christinnen und Christen sind über die individuellen und kollektiven Werke der Barmherzigkeit hinaus aufgefordert, Einfluss auf die gesellschaftlichen Ursachen von Armut zu nehmen und die Gesellschaft so zu verändern, dass Situationen von extremer Armut und Ausgrenzung verschwinden. Weil Armut und Hunger so unmittelbar nach Überwindung rufen, sind die Millenniums-Entwicklungsziele aus christlicher Sicht zu wenig ambitioniert. Abgesehen davon haben Anstrengungen der Staatengemeinschaft bei Weitem noch nicht ausgereicht, das gesetzte Ziel einer Halbierung des Anteils der Hungernden an der Bevölkerung der Entwicklungsländer von 1990 bis 2015 zu erreichen. Selbst wenn die Völkergemeinschaft dahin käme, wäre aus sozialethischer und menschenrechtlicher Sicht jeder einzelne verbleibende Hungernde ein Skandal. Die Kritik an den Millenniums-Entwicklungszielen hat deshalb oft an dieser Stelle angesetzt: Wenn sich alle Beteiligten ernsthaft Ziele hätten stecken wollen, hätten sie nicht weniger als die umfassende Beendigung der chronischen Hungersituationen in konkreten Regionen und bei konkreten Bevölkerungsgruppen in Angriff nehmen müssen. Die Mittel dazu, das ist schon lange bekannt, stehen zur Verfügung. Es ist der politische Wille, der fehlt, sowie der Mut und die Bereitschaft, die Blockaden zu überwinden, die die Profiteure des Hungers einer Lösung entgegenstellen.

Gottes Option für die Armen setzt den Maßstab für das, was unter einer gerechten gesellschaftlichen Ordnung zu verstehen ist: »Schaffet Recht dem Armen und der Waise und helft dem Elenden und Bedürftigen zum Recht. Errettet den Geringen und Armen und erlöst ihn aus der Gewalt der Gottlosen« (Ps 82,3f.). Solange die Rechte der Armen beschnitten und die Interessen der Benachteiligten ungehört bleiben, ist soziale Gerechtigkeit nicht verwirklicht. Die Gerechtigkeit einer Gesellschaft misst sich an den Beteiligungs- und Versorgungsmöglichkeiten ihrer am schlechtesten gestellten Mitglieder. Gerechtigkeitsorientiertem Handeln muss daher vor allem daran gelegen sein, Diskriminierung abzubauen, Ausgrenzung zu überwinden, den missachteten Rechten der Armen Geltung zu verschaffen, Teilhabe zu ermöglichen und nicht zuletzt auch eine materielle Existenzsicherung zu gewährleisten. Dies schließt die Veränderung von Strukturen und Mechanismen ein, die der Überwindung des Hungers entgegenstehen.

Die Frage nach der Gerechtigkeit einer Gesellschaft stellt sich nicht nur im Blick auf die eigene nationalstaatlich verfasste Gesellschaft, der wir angehören. Im Zuge der Globalisierung und der Zunahme der grenzüberschreitenden Verflechtungen hat sich längst ein weltgesellschaftlicher Kooperations- und Verantwortungsraum herausgebildet, der uns dazu herausfordert, soziale Gerechtigkeit weltumspannend zu denken. Schon Jesu Gebot, auch den Fremden und den Feind zu lieben, und seine Veranschaulichung der Nächstenliebe anhand des Gleichnisses vom barmherzigen Samariter weist die Verpflichtung zur Solidarität über den Kreis der uns Nahestehenden hinaus auf alle Menschen, mit denen wir auf dieser Erde zusammen leben. Das schließt nicht nur ein, Nutzen und Lasten mit den Bedürftigen zu teilen und wechselseitig füreinander einzutreten, sondern auch dafür Sorge zu tragen, dass die eigene Art zu leben und zu wirtschaften nicht auf Kosten anderer in anderen Teilen der Welt geht und deren Grundrechte beschneidet.

Für die internationale Politikgestaltung in einer vernetzten Welt ergeben sich auf der Basis einer gerechtigkeitsorientierten Perspektive eine Reihe von fundamentalen Kooperations- und Fairnessregeln, die in internationalen Verträgen und Abkommen der Vereinten Nationen bereits teilweise verankert sind [75]. In ihrem Status und ihrer rechtlichen Verbindlichkeit unterscheiden sie sich allerdings erheblich. Als normativer Rahmen für eine nachhaltige und gerechte Politikgestaltung sind im Anschluss an einen Vorschlag der Refection Group on Global Development Perspectives [76] vor allem zu beachten:

Solidaritätsprinzip:

Die wechselseitige Verpflichtung der Mitglieder einer Solidargemeinschaft, füreinander einzutreten, kann prinzipiell und vereinbarungsgemäß auch die gesamte Völkergemeinschaft umfassen. In der Millenniums-Erklärung haben die Regierungen weltweite Solidarität in diesem Sinne als einen der zentralen normativen Werte benannt:

»Die globalen Probleme müssen so bewältigt werden, dass die damit verbundenen Kosten und Belastungen im Einklang mit den grundlegenden Prinzipien der Billigkeit und sozialen Gerechtigkeit aufgeteilt werden. Diejenigen, die leiden oder denen die geringsten Vorteile entstehen, haben ein Anrecht darauf, Hilfe von den größten Nutznießern zu erhalten.« [77] Das Solidaritätsprinzip spielt im Ernährungs- und Agrarkontext nicht nur im Falle von akuten Hungerkatastrophen und den entsprechenden Anforderungen an eine solidarisch gestaltete globale Food Aid Architecture eine Rolle, sondern sollte auch z. B. bei der Frage der ungleichen Beteiligung landwirtschaftlicher Produzenten an gesamtgesellschaftlichen Wohlfahrtssteigerungen oder der Vernachlässigung ländlicher Räume im Rahmen der nationalen Haushaltsgestaltung sowie der internationalen Entwicklungszusammenarbeit als Wertmaßstab Berücksichtigung finden.

Do no harm-Prinzip:

Zu den wichtigsten Verhaltensregeln des Zusammenlebens in einer Weltgemeinschaft [78] zählt die Verpflichtung, bei allem Tun und Lassen keinen Schaden an Mensch und Natur anzurichten. Das Prinzip hat gerade in einer Zeit, in der die wohlhabende Welt zu einem guten Teil ihren Wohlstand auf eine Lebens- und Wirtschaftsweise stützt, die sich wesentlich der Auslagerung (Externalisierung) negativer sozialer oder ökologischer Lasten in andere Teile der Welt oder aber ihrer Verlagerung in die Zukunft verdankt, eine zentrale Bedeutung als normative Maxime nationaler und internationaler Politikgestaltung. Die Außenwirkungen der EU-Agrarpolitik bedürfen vor diesem Hintergrund der besonderen Aufmerksamkeit. Die EU spielt sowohl als Importeur als auch als Exporteur von Agrarrohstoffen auf den internationalen Agrarmärkten eine sehr wichtige Rolle. Sie trägt damit eine erhebliche globale Verantwortung für die von ihr ausgehenden Marktimpulse. Negative Auswirkungen der landwirtschaftlichen Produktionsweise in Europa und der Gestaltung des handelspolitischen Regimes auf die Ernährungssicherung lokaler Bevölkerungen außerhalb Europas zu minimieren, wäre der erste und wichtigste Schritt auf dem Weg zu einer international verträglichen und nachhaltigen Gemeinsamen Agrarpolitik der EU.

Prinzip der gemeinsamen, aber unterschiedlichen Verantwortlichkeit:

Das Prinzip der gemeinsamen, aber unterschiedlichen Verantwortung unter gleichzeitiger Anerkennung unterschiedlicher Fähigkeiten (Common but Differentiated Responsibilities and Respective Capabilities, CBDR) steht wie kaum ein anderes Prinzip im Mittelpunkt der Klimaverhandlungen. Im Rahmen der Aushandlung eines globalen Klimaabkommens mit Gültigkeit für alle Staaten steht die Staatengemeinschaft vor der schwierigen Herausforderung, dieses Prinzip so weit zu konkretisieren, dass hieraus die »gerechten Anteile« der einzelnen Staaten bei der Lastenzuweisung des Klimaschutzes ermittelt werden können. Die Rio-Deklaration von 1992 hatte dieses Prinzip folgendermaßen eingeführt: »Angesichts der unterschiedlichen Beiträge zur globalen Umweltverschlechterung tragen die Staaten gemeinsame, wenngleich unterschiedliche Verantwortlichkeiten. Die entwickelten Staaten erkennen die Verantwortung an, die sie in Anbetracht des Drucks, den ihre Gesellschaften auf die globale Umwelt ausüben, sowie in Anbetracht der ihnen zur Verfügung stehenden Technologien und Finanzmittel bei dem weltweiten Streben nach nachhaltiger Entwicklung tragen.« [79] Daraus folgt, dass auch die Lasten und Risiken, die mit der Sicherung der Welternährung, der Gestaltung einer klimafreundlichen Landwirtschaft und der Finanzierung von Anpassungsmaßnahmen an den Klimawandel verbunden sind, von den jeweiligen Staaten gemäß ihrer Verantwortung für die Verursachung und gemäß ihrer Leistungsfähigkeit getragen werden müssen. Gerade deshalb ist das CBDR allerdings im Rahmen der Klimaverhandlungen und mittlerweile auch im Prozess zur Aushandlung der Post-2015-Agenda Gegenstand heftiger Auseinandersetzungen, geht es doch auch darum, in welchem Verhältnis die finanziellen Lasten aufgeteilt und wie die jeweilige historische Verantwortung bewertet wird. Vor allem die Schwellenländer betonen die historische Verantwortung der alten Industrieländer für Umweltschäden und Klimawandel und wehren sich gegen jede Aufweichung der überkommenen Unterscheidung von Industrie- und Entwicklungsländern, die auch mit der Anerkennung wachsender Verpflichtungen für die dynamischen Ökonomien der Schwellenländer einhergehen würde [80].

Vorsorgeprinzip:

Prinzip 15 der Rio-Deklaration führt aus: »Zum Schutz der Umwelt wenden die Staaten im Rahmen ihrer Möglichkeiten allgemein das Vorsorgeprinzip an. Drohen schwerwiegende oder bleibende Schäden, so darf ein Mangel an vollständiger wissenschaftlicher Gewissheit kein Grund dafür sein, kostenwirksame Maßnahmen zur Vermeidung von Umweltverschlechterungen aufzuschieben.« [81] Die Beweispflicht für die Ungefährlichkeit z. B. der Einführung gentechnisch veränderter Organismen liegt bei deren Befürwortern, da hinsichtlich der Risikoeinschätzung wissenschaftlicher Dissens besteht.

Prinzip der freien vorherigen Zustimmung nach Inkenntnissetzung (Prior informed consent):

Diesem Prinzip zufolge haben Gemeinschaften das Anrecht darauf, »ihre Zustimmung zu vorgeschlagenen Projekten und Aktionen von Regierung oder Konzernen zu geben oder zu verweigern, falls sie ihre Lebensbedingungen und die Territorien betreffen, die sie nach dem Gewohnheitsrecht besitzen, in Anspruch nehmen oder anderweitig nutzen. Dieses Prinzip ist ein Schlüsselelement der Deklaration der Vereinten Nationen über die Rechte der indigenen Völker von 2007 und wird im Übereinkommen der ILO über indigene und in Stämmen lebende Völker in unabhängigen Ländern (169/1989) anerkannt. Jedoch ist dieses Prinzip nicht auf die Rechte indigener Völker beschränkt. Es ist z. B. auch im Rotterdamer Übereinkommen über das Verfahren der vorherigen Zustimmung nach Inkenntnissetzung für bestimmte gefährliche Chemikalien sowie Pestizide im internationalen Handel von 1988 niedergelegt.« [82]

Die genannten Prinzipien tragen dazu bei, vermeidbaren Schaden von besonders verletzlichen Bevölkerungsgruppen abzuwenden, eine Verbesserung der Lebenssituation von Menschen zu erzielen und ihre Widerstandsfähigkeit gegen Krisen und Katastrophen (Resilienz) zu erhöhen.

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