Das rechte Wort zur rechten Zeit

Eine Denkschrift des Rates der EKD zum Öffentlichkeitsauftrag der Kirche, 2008, Hrsg. Gütersloher Verlagshaus, ISBN 978-3-579-05906-8

3. Wozu spricht die Kirche?

  1. Kirchliche Äußerungen zu gesellschaftlichen Fragen wollen vom christlichen Glauben her das rechte Wort zur rechten Zeit sagen. Sie machen aufmerksam auf gegenwärtige und absehbare Herausforderungen und Problemlagen. Sie antworten auf aktuelle Fragen, die von gesamtgesellschaftlicher und politischer Bedeutung sind. Sie versuchen, auch selbst wichtige Fragen zu formulieren, Themen neu ins Bewusstsein zu heben und die Horizonte aufzuzeigen, vor denen Antworten gefunden werden können. Sie nehmen Stellung zu divergierenden Positionen im öffentlichen Diskurs, zu widerstreitenden Interessen und zu notwendigen Güterabwägungen.
  2. Zu unterscheiden, wenngleich in der Praxis nicht durchgängig zu trennen, sind die seelsorglich-pastorale und die sozial-ethisch-politische Dimension kirchlicher Äußerungen zu gesellschaftlichen Herausforderungen.
  3. Die seelsorglich-pastorale Tragfähigkeit kirchlicher Äußerungen ist zwar nicht ausschließlich, aber insbesondere in Situationen zu bedenken, in denen christliche Grundeinsichten auf gesellschaftliche Umbruch- und Verlusterfahrungen bis hin zu kollektiven Traumatisierungen und Verunsicherungen zu beziehen sind und sich in diesem Kontext aktuell zu bewähren haben. Exemplarisch sei, um sich nur auf die jüngste Zeit zu beziehen, an das Schockerlebnis des 11. September 2001 erinnert, das unzählige Menschen wieder oder neu nach religiösem Halt fragen ließ, sowie an katastrophale Unfälle wie das Zugunglück nahe Eschede, den Seilbahnbrand bei Kaprun und den Halleneinsturz in Bad Reichenhall. Das Beispiel der so genannte "Ost-Denkschrift" von 1965 [20] zeigt, wie man das Themenfeld von Schuld, Leid, Flucht und Vertreibung in ebenso sachgemäßer wie seelsorglich einfühlsamer Weise behandeln kann. Vielleicht konnte diese Denkschrift gerade wegen ihres glaubwürdigen seelsorglichen Tons so durchschlagskräftig sein und erfolgreich die Entspannungspolitik der 70er-Jahre mit vorbereiten.
  4. Unbeschadet dessen, dass die seelsorglich-pastorale Verantwortbarkeit und Belastbarkeit kirchlicher Äußerungen gerade im Kontext individueller und kollektiver Erschütterungen immer wieder neu zu prüfen ist, können doch spezifische Grundintentionen benannt werden, die es zu beachten gilt ­ bei gleichzeitigem Wissen darum, dass lebensdienlich gelingende Kommunikation letztlich eine Gabe des Heiligen Geistes und deshalb nicht planbar ist.
  5. Zu den Grundintentionen seelsorglich-pastoraler Rede gehört zuallererst, in gleichermaßen respektvoller, behutsamer wie deutlicher und ehrlicher Weise zur Sprache zu bringen, was sonst ohnmächtigem Verstummen überlassen bliebe. Das Elend ist beim Namen zu nennen. Die existentiellen Erfahrungen, die Fragen, die darin aufbrechen und ein Weiterleben wie bisher verunmöglichen, sind auszuhalten und vor Gott auszusprechen. Betroffene suchen empathische Anteilnahme, zugleich aber auch ein kraftvolles Gegenüber, dem Halt und Stärke zuzutrauen ist. Die notwendige solidarische Zuwendung kann sich also nicht allein in der Haltung des Mit-Trauerns, Mit-Leidens und Beklagens des status quo vollziehen, sondern bedarf der Perspektive des Glaubens, die Vorfindliches überschreiten und überwinden kann.
  6. Das entscheidende Anliegen seelsorglich-pastoraler Rede ist deshalb der Zuspruch des Evangeliums
    • als Grund des Trostes und der Stärkung auch im Angesicht des Todes,
    • als Grund der Hoffnung wider den Augenschein,
    • als Grund des Vertrauens auf die Verheißung ewigen Lebens sowie
    • als Grund helfender Geschwisterlichkeit bei der Suche nach neuen Wegen.
    Zeugnis abzulegen ­ in Wort und Tat, also nach Möglichkeit auch durch konkrete Hilfsangebote ­ ist mithin vom Evangelium, das Zukunft eröffnet, geboten.
  7. Bestimmte Anlässe bedingen, dass sowohl die sozial-ethisch-politische als auch die seelsorglich-pastorale Dimension kirchlicher Äußerungen zu gesellschaftlichen Fragen zu berücksichtigen ist. So tangiert zum Beispiel die Diskussion über Fragen der Sterbebegleitung und eines menschenwürdigen Lebens bis zuletzt einerseits die Debatte über politischen Handlungsbedarf (etwa zur rechtlichen Verbindlichkeit von Patientenverfügungen), andererseits aber auch individuelle Sorgen und Ängste, nicht zuletzt religiöse Fragen. Bei der Erarbeitung von entsprechenden kirchlichen Stellungnahmen muss deshalb darauf geachtet werden, dass diese unterschiedlichen Dimensionen angemessen erkannt, aufgegriffen und aufeinander bezogen werden.
  8. Auch bei kirchlichen Äußerungen, die Beiträge zur Erinnerungskultur leisten, sind beide Dimensionen in den Blick zu nehmen. So ist bei Stellungnahmen beispielsweise zum Nationalfeiertag am 3. Oktober, zum Volkstrauertag oder zum 1. Mai sowie zu besonderen Gedenktagen (etwa 17. Juni und 20. Juli) sowohl die politische und soziale Bedeutung als auch der individuell-existentielle Erfahrungshorizont zu würdigen. Gleiches gilt hinsichtlich kirchlicher Äußerungen, die auf besondere Jubiläen (Gedenken an Dietrich Bonhoeffer, Erinnerung an Paul Gerhardt, Vorbereitung auf das Reformationsjubiläum 2017, u. Ä.) aufmerksam machen. Stets besteht die besondere Herausforderung darin, neben gesamtgesellschaftlichen Aspekten auch die seelsorglich-pastorale Bedeutung des Erinnerten für persönliche Zukunftsfähigkeit aufzuzeigen.
  9. Primär sozialethisch-politisch ausgerichtete Äußerungen der Kirche nehmen Stellung, ohne dabei immer die gesamte Vielfalt evangelischer Überzeugungen abzubilden ­ oder sie tun in bestimmten Situationen gerade dies bewusst wie in dem Beitrag der Kammer für Öffentliche Verantwortung "Im Geist der Liebe mit dem Leben umgehen" aus dem Jahr 2002. Sie nehmen deshalb auch bewusst in Kauf, dass zu anderer Zeit unter Umständen andere Akzentsetzungen vorgenommen werden können und müssen. Der zur Freiheit berufene Christenmensch hat in jeder Situation neu zu prüfen, was dem Willen Gottes entspricht.
  10. Unbeschadet der Zeitgemäßheit und Aktualität, an denen kirchlichen Äußerungen zu gesellschaftlichen und politischen Fragen gelegen sein muss, sind bestimmte Inhalte von unwandelbarer Bedeutung. Hierzu zählt in besonderer Weise die Unantastbarkeit der Menschenwürde, die als Fundamentalnorm des Grundgesetzes konstitutiv auch für den demokratischen Rechtsstaat und seine Verpflichtung zur Humanität ist.
  11. Allerdings wurde in den letzten Jahren in unterschiedlichen Kontexten des öffentlichen und politischen Diskurses ­ insbesondere in bio- und medizinethischen Debatten ­ kontrovers diskutiert, ob und wie sich die Würde des Menschen begründen und verstehen, entdecken und in ihrem Geltungsbereich definieren lässt. Nach christlichem Verständnis verdankt sich die Würde des Menschen nicht einer menschlichen Zuschreibung, sondern sie ist dem Menschen mit seinem Dasein von Gott gegeben, steht darum nie zur Disposition und darf nicht zugunsten anderer Interessen eingeschränkt werden.
  12. Nach dem Zeugnis der Heiligen Schrift gründet Würde in der Beziehung, in die Gott selbst sich zum Menschen als seinem Geschöpf und Ebenbild setzt. Die Würde des Menschen hängt nicht von seinem Entwicklungsstand ab, nicht von seiner Leistung und Leistungsfähigkeit, nicht von seiner Substanz, nicht von dem Status, den andere Menschen ihm zubilligen, sondern davon, dass Gott ihn will, ihm Leben schenkt, ihn liebt und ihn, auch wenn er von Gott nichts wissen will, dazu bestimmt, gerechtfertigt zu werden. Niemand sonst als Gott selbst ist es, der Menschenwürde zuspricht. Deshalb ist die Würde des Menschen menschlicher Verfügungsgewalt entzogen ­ sie ist, wie es das Grundgesetz prägnant formuliert, "unantastbar".
  13. Die bleibende Brisanz der christlichen Rechtfertigungsbotschaft wird gerade dann sichtbar, wenn aktuelle Tendenzen und Trends des öffentlichen und politischen Lebens auf das ihnen innewohnende Menschen- und Weltbild hin befragt werden. Exemplarisch sei benannt: Wenn Wert und Würde des Menschen im öffentlichen Bewusstsein weithin davon abhängig gemacht werden, ob und inwieweit er ­ nach den Maßstäben medial inszenierter "Vorbilder" ­ jung, schön, erfolgreich und wohlhabend ist, so bedeutet dies eine Form geistiger und sozialer Selektion, denn ausgegrenzt werden damit alle, die solchen Maßstäben nicht genügen. Hier und gegenüber vergleichbaren Entwicklungen widerspricht die evangelische Kirche entschieden, indem sie eine biblisch begründete Lehre vom Menschen entfaltet und die Freiheit des Glaubens bezeugt.
  14. Kirchliche Äußerungen zu gesellschaftlichen und politischen Fragen müssen bereit sein, Partei zu ergreifen: Im Gehorsam gegen Gottes Gebote und im Wissen darum, dass im bedürftigen Mitmenschen Christus begegnet (Matthäus 25,31ff.), vertreten Christenmenschen vorrangig die Option für die Armen und Schwachen, aber auch für die kommenden, noch nicht geborenen Generationen und ihre Lebensmöglichkeiten ­ und zwar im konkreten, materiell-physischen und im übertragenen psychischen sowie im geistlichen Sinn. Für sie die Stimme zu erheben, ihr Anwalt zu sein, ihnen Wege zu gerechter Teilhabe und faire Chancen zu eröffnen, ist wesentliches Merkmal des Dienstes, zu dem christlicher Glaube motiviert. Zugleich ist es notwendig, diejenigen zu ermutigen, zu bestärken und ihre Anliegen zur Sprache zu bringen, die sich mit "Herzblut", mit Fantasie, Kreativität und Kraft für ein menschenwürdiges Leben in der Gesellschaft einsetzen ­ die Kinder erziehen, alte, kranke und behinderte Menschen pflegen, und so als unverzichtbare Leistungsträger zum Wohl der Allgemeinheit beitragen.
  15. Der Konziliare Prozess für Frieden, Gerechtigkeit und Bewahrung der Schöpfung weist hin auf die Weite des Dienstes, zu dem der christliche Glaube motiviert. Er erschöpft sich nicht in persönlicher Nächstenliebe und Hilfsbereitschaft. Vielmehr umfasst er den Einsatz für strukturelle Gerechtigkeit und für eine Kultur der Barmherzigkeit, in der die Gemeinschaft insgesamt das Wohl ihrer schwächsten Mitglieder als ureigenstes Anliegen begreift. Er umfasst das Eintreten für einen nachhaltigen Umgang mit Ressourcen und für eine internationale Friedensordnung, die auf die "Herrschaft des Rechts" [21], auf ein friedliches Zusammenleben der Völker, auf Krisen- und Konfliktprävention und auf stets vorrangig gewaltfreie Krisen- und Konfliktbewältigung abzielt, und damit Leben und Chancen auch künftiger Generationen als wesentliche Aufgabe begreift.
  16. Die Überzeugungskraft und Plausibilität entsprechender Mahnungen und Forderungen einer Kirche ist auch abhängig davon, ob sie selbst mit gutem Beispiel vorangeht und zumindest Zeichen setzt. Kirchliche Äußerungen müssen sich daran messen lassen, ob sie von den Kirchen und ihrer Diakonie selbst befolgt werden ­ und nicht nur andere eines falschen Verhaltens bezichtigen oder zu einem veränderten Verhalten auffordern: "Denn nach welchem Recht ihr richtet, werdet ihr gerichtet werden; und mit welchem Maß ihr messt, wird euch zugemessen werden. Was siehst du aber den Splitter in deines Bruders Auge und nimmst nicht wahr den Balken in deinem Auge?" (Matthäus 7,2f.).
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