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Neue Weichenstellung für Agrarentwicklung und Welternährung. Eine Studie der Kammer der EKD für nachhaltige Entwicklung. Mai 2015

4.2 Agrarpolitik der Entwicklungsländer

Viele Entwicklungsländer haben ihre nationale Agrarpolitik über Jahrzehnte vernachlässigt. Niedrige Weltmarktpreise für Nahrungsmittel und eine Politikberatung, die eine handelsbasierte Agrarpolitik empfahl, führten zu einem Mangel an öffentlichen und privaten Investitionen (vgl. Kap. 2.6). Eine große Zahl von Entwicklungsländern ist deshalb zu Nettonahrungsmittelimporteuren geworden. Die Agrarpolitik der Entwicklungsländer hat gleichzeitig auch nur geringe Spielräume gehabt. Diese wurden und werden immer noch eingeengt durch eine abgestimmte Politik der Geberländer wie den Strukturanpassungsprogrammen der 1980er und 1990er Jahre und den Politikempfehlungen der Weltbank. Gleichzeitig wird der Politikeinfluss durch neue Initiativen wie der Global Donor Platform on Rural Development (GDPRD), der Global Alliance on Food Security and Nutrition der G8 sowie durch Budgethilfen mit Politikförderung und durch kontinentale Initiativen (CAADP, AGRA) fortgeschrieben (vgl. Kap. 2.6.1). Eigenständige nationale Agrarentwicklungsmodelle und innovative Projektansätze, die sich besonders um die Förderung vorhandener Agrarproduzenten wie Kleinbauern und -bäuerinnen kümmern, werden kaum gewagt bzw. erhalten wenig Unterstützung. Bei der Ausformulierung der »Freiwilligen Leitlinien für die Umsetzung des Rechts auf Nahrung«, die 2004 von der FAO einstimmig angenommen wurden, stand die Einforderung einer an besonders benachteiligten Gruppen orientierten Agrarpolitik zwar im Zentrum, dies wurde im Alltag der Agrarberatung durch die Gebergemeinschaft aber noch nicht umgesetzt.

Zwar sind die Themen Agrarpolitik und ländliche Entwicklung wieder zu zentralen Themen der Gebergemeinschaft geworden, dennoch wird derzeit sehr stark auf privatwirtschaftliche Initiativen gesetzt, um der jahrzehntelangen Unterinvestition in ländliche Entwicklung zu begegnen. Dem Staat wird dabei oft nur eine flankierende Rolle in der Gestaltung der Agrarentwicklung zugedacht, die marktliberale Orientierung gibt die Richtung vor, in der der Staat vor allem für die soziale Grundsicherung, das Funktionieren der Märkte und die gesetzlichen Rahmenbedingungen für die Regulierung der Technologien und als Kooperationspartner für Public-Private-Partnerschaften gebraucht wird. De facto wären aber gerade viele öffentliche Investitionen in eine Infrastruktur notwendig, die auch benachteiligten Produzenten faire Möglichkeiten der Marktteilnahme erlauben würden. Eine reine Rahmengesetzgebung führt zu einer schnellen Konzentration landwirtschaftlicher Betriebe, da nur leistungsfähige Einheiten die nötigen Investitionen allein erbringen können. In diesem Sinne wird für Strukturwandel, den Einsatz technischer Verfahren und den Ausbau von Marktinfrastruktur geworben. Die Betonung der Bedeutung von Investitionen durch Kleinbauern und deren Unterstützung durch eine öffentlich geförderte Infrastruktur ergibt sich demgegenüber aus der Erkenntnis, dass weltweit ein großer Anteil der Hungernden in ländlichen Regionen als Kleinbauern lebt. Für erfolgreiche Hungerbekämpfung ist eine Steigerung der Einkommen dieser Bevölkerungsgruppen sehr wichtig. Ein schneller Strukturwandel wird dagegen eher Einkommensarmut verstärken und bei möglicherweise steigenden Erträgen auch steigende Hungerzahlen schaffen.

Entwicklungsbemühungen auf die Kleinbauern zu konzentrieren ist deshalb eine Maßnahme der Armutsreduktion. Hervorzuheben ist dabei, dass viele der vernachlässigten landwirtschaftlichen Betriebe von Frauen geleitet werden. Es ist oft auch gerade eine Genderdiskriminierung, eine Missachtung von Frauen als Produzentinnen, die in nationalen Agrarpolitiken mit dafür verantwortlich ist, dass entlegene Gebiete und Kleinbauernfamilien so wenig aktiv gefördert werden. Nationale Gründe für die fehlende Unterstützung von bäuerlichen Betrieben kommen dann zusammen mit internationalen Förderstrategien, die oft auf besonders leistungsfähige Großbetriebe setzen. In dieser doppelten Motivation liegt einer der Gründe dafür, dass die Vernachlässigung ländlicher Gebiete über einen so langen Zeitraum in so vielen Ländern beobachtet werden kann. Sie ist auf alle Fälle ursächlich für die Persistenz von Hunger und Unterernährung.

4.2.1 Zur Agrarpolitik Afrikas

Da 23 von 25 Ländern der Welt mit der größten Ernährungsunsicherheit in Afrika südlich der Sahara liegen, soll deren Agrarpolitik besonders in den Blick genommen werden. Nach der Unabhängigkeit in den 1960er Jahren waren die Agrarpolitiken der afrikanischen Länder durch eine starke Subventionierung zugunsten billiger Nahrungsmittel für die Verbraucher und eine selektive Förderung für bestimmte privilegierte Agrarkreise gekennzeichnet. Die meisten afrikanischen Staaten mussten sich Anfang der 1980er Jahre aufgrund der hohen Auslandsverschuldung strukturellen Reformen unterziehen. Reformmaßnahmen waren: Deregulierung der Märkte, Privatisierung der höchst ineffizienten halbstaatlichen Unternehmen, Auflösung staatlicher Vermarktungsinstitutionen sowie die Liberalisierung des Außenhandels, die Abwertung der Währungen und die Einstellung der Betriebsmittelsubventionen. Ziel war es, die nationalen Staatsbudgets auszugleichen, die Schuldenrückzahlung zu ermöglichen, die Märkte funktionsfähig zu machen und sich für neue Kredite zu qualifizieren.

Das Programm der Weltbank sollte Marktanreize für eine selbstbestimmte Produktionssteigerung geben. Doch auch die neue Politik war nicht besonders erfolgreich. Die »Grüne Revolution«, die in Asien und Lateinamerika die Agrarerträge signifikant steigerte, wirkte in Afrika nicht. Die Versprechungen hoher ausländischer Direktinvestitionen in die afrikanische Landwirtschaft haben sich - bis auf wenige Sektoren, meist in der Exportproduktion - nicht realisiert, da die nötigen begleitenden öffentlichen Investitionen, die in Asien von den Regierungen geleistet wurden (z. B. Straßenbau, Vermarktungsinfrastruktur, Agrarberatung) in Afrika unterblieben. Der Anteil der Förderung für die Landwirtschaft am Gesamtvolumen der internationalen Entwicklungshilfe schrumpfte ebenfalls von Mitte der 1980er Jahre von 18 bis 20 Prozent auf unter 7 Prozent im Jahr 2005. Importe aus den Überschussbeständen der Industriestaaten setzten der Binnenmarktentwicklung enge Grenzen. Viele afrikanische Länder wurden in ihrer Agrarentwicklung zudem durch nationale politische Unruhen, korrupte und ineffektive Regierungsstrukturen, Bürgerkriege, Naturkatastrophen und Schocks auf den Weltagrarmärkten gestört.

Es dauerte fast zwanzig Jahre, bis einige Maßnahmen der Marktorientierung zu wirken begannen. So entstanden moderne einheimische Unternehmen wie z. B. Saatzuchtunternehmen, die in die Agrarvermarktung einstiegen, die Betriebsmittelversorgung übernahmen und angepasste Innovationen vorantrieben. Es brauchte Zeit, bis qualifizierte Fachleute ausgebildet waren. Die Entschuldungsprogramme für die ärmsten Länder sorgten nur langsam für neue Initiativen. Ländliche Nichtregierungsorganisationen und Bauernzusammenschlüsse hatte es in Afrika fast gar nicht gegeben; erst langsam kam ein »Empowerment«, d. h. eine selbstbewusste Zivilgesellschaft, in Gang.

Trotz der neuen Aufmerksamkeit, die die landwirtschaftliche Entwicklung seit Anfang des Millenniums im Rahmen der Armutsbekämpfungsstrategien (Poverty Reduction Strategy Papers, PRSP) erhielt, und trotz der Wiederentdeckung des Potenzials des Kleinbauerntums blieben die Entwicklungsanstrengungen und -erfolge in Afrika weit hinter den Erwartungen zurück. Ein besonderes Dilemma der ländlichen Entwicklung in vielen Ländern Afrikas sind die ausgeprägten Klientelbeziehungen. Die Staatselite hatte die Verteilung von Geldern aus Entwicklungsprogrammen unter besonderer Berücksichtigung von einflussreichen Wählergruppen und Persönlichkeiten vorgenommen. So entstand eine Schicht von »progressiven Bauern«, die sich von der einfachen Bauernschaft abhob. Diese ländliche Führungsschicht war der Regierungspartei meist treu ergeben, um sich den Zugang zu staatlichen Pfründen auch weiterhin zu erhalten. Die Masse der Bauern und Bäuerinnen war und ist vom politischen Einfluss und den Vorteilen staatlicher Entwicklungsprogramme weitgehend ausgeschlossen. Die Landwirte selbst erhoben keine starken Forderungen nach einer besseren Agrarpolitik, vielmehr konkurrierten sie nur darum, neue Projekte für ihre Gebiete zu akquirieren, um diese dann für ihre Patronage-Systeme zu nutzen. Erst jüngst sind selbstbewusste, unabhängige starke Bauernbewegungen in Afrika aufgekommen wie z. B. ROPPA (Le Réseau des Organisations Paysannes et de Producteurs de l'Afrique de l'Ouest) in Westafrika, die sich konsequent für ihre eigenen Interessen einsetzen und die Kleinbauern vertreten. Auch die Entstehung von Nichtregierungsorganisationen, die für das »Empowerment« der Landbevölkerung sorgen, ist neueren Datums.

Eine neuere Entwicklung ist die zunehmende Dominanz ausländischer agrarpolitischer Berater im politischen Entscheidungsprozess. Trotz Bekenntnis der internationalen Entwicklungshilfe zu mehr Eigenverantwortung, Delegation der Entscheidungsbefugnis und Harmonisierung durch die »Paris Declaration on Aid Effectiveness« und dem »Accra-Aktionsplan« ist zu konstatieren, dass der Einfluss der ausländischen Regierungsberater auf die Formulierung der nationalen Agrarpolitiken eher zugenommen hat. Das liegt in der Natur der neuen Ausrichtung: Die Konditionalität wird straffer, die Konzepte aller Geberorganisationen sind aufeinander abgestimmt. So ist im Agrarbereich die Global Donor Platform on Rural Development (GDPRD) entstanden, die einen großen Einfluss auf die Agrarpolitiken der Hilfe empfangenden Entwicklungsländer genommen hat. Die Vorgabe, die nationalen Regierungen »auf den Fahrersitz der Entwicklung« zu setzen, hat im Kern nur dazu geführt, dass die politische Weichenstellung nicht mehr bilateral zwischen Nehmer- und Geberländern geschieht, sondern sich eher multinational abspielt.

4.2.2 Empfehlungen zur Agrarpolitik der Entwicklungsländer

  • Ein rein marktwirtschaftlicher Ansatz wird den Herausforderungen der ländlichen Entwicklung und der Ernährungssicherung nicht gerecht. Staaten sollten weiterhin über regional spezifische Instrumente verfügen, um ggf. Marktentwicklungen, die der Ernährungssicherung zuwiderlaufen, beeinflussen zu können. Schwächere Marktteilnehmer benötigen vor allem unterstützende öffentliche Investitionen, um am Markt unter fairen Bedingungen teilnehmen zu können.
  • Die internationale Gebergemeinschaft muss den Regierungen der Empfängerstaaten die Politikflexibilität einräumen, die zur Umsetzung des Rechts auf Nahrung notwendig ist.
  • Der Technologietransferansatz sollte an nachhaltigen Nutzungsformen orientiert sein. Die Ergebnisse des IAASTD bieten hierfür zahlreiche Ansätze. Der agro-ökologische Ansatz und die umfassende Partizipation der lokalen Bäuerinnen und Bauern und der Wissensträger sind wichtige Elemente, um bislang übersehene oder benachteiligte Betriebe besser fördern und unterstützen zu können.
  • Agrarpolitik sollte nicht ausschließlich auf Strukturwandel und die Bedürfnisse von großen und leistungsfähigen Produzenten hin orientiert werden, sondern sollte versuchen, möglichst viele landwirtschaftliche Produzenten mit einzubeziehen. Sie muss die Teilhabe marginalisierter ländlicher Bevölkerungsgruppen, insbesondere von Frauen, besonders berücksichtigen.
  • Einem schnellen Ausverkauf nationaler Ressourcen an ausländische Firmen muss durch eine mutige Politik der Konzessionsvergabe entgegengewirkt werden; dazu gehören Regeln der öffentlichen Ausschreibung, der gesetzlichen Flächennutzungsplanung, der rechtlichen Absicherung von traditionellen Landrechten und strenge Regeln der Transparenz. Programme für Public-Private-Partnerschaften müssen sich in nationale Strategien des Aufbaus sinnvoller Wertschöpfungsketten mit Schwerpunkt auf der Binnenmarktversorgung einfügen.
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