Unser tägliches Brot gib uns heute

Neue Weichenstellung für Agrarentwicklung und Welternährung. Eine Studie der Kammer der EKD für nachhaltige Entwicklung. Mai 2015

4.6 Sozialpolitik

4.6.1 Soziale Sicherheit und das Recht auf Nahrung

Wo die Sicherung elementarer Mindestlebensstandards tagtäglich gefährdet ist, greifen auch einkommensschaffende Maßnahmen häufig ins Leere. Die herkömmlichen Strategien der Armutsbekämpfung bedürfen daher der Ergänzung und Fundierung durch Systeme der sozialen Sicherung. Soziale Sicherheit schützt vor individuellen Lebensrisiken und hat dafür Sorge zu tragen, dass auch im Falle von Krankheit, Erwerbslosigkeit oder natürlichen wie sozialen Katastrophen die Existenzgrundlagen gewährleistet werden können. In dem Maße, wie die traditionellen sozialen Solidaritätsnetze und Überlebensstrategien in vielen Entwicklungsländern zerfallen, wird es immer dringlicher, dass der Staat sich des Aufbaus sozialer Sicherungssysteme annimmt.

Besonders wichtig sind soziale Sicherungssysteme für die ärmsten und besonders vulnerablen Gruppen wie chronisch Kranke, Ältere, Alleinerziehende, Menschen mit Behinderung, allein stehende Frauen und Kinder. Der demografische Wandel verschärft die Notwendigkeit, alten Menschen eine soziale Grundsicherung zu ermöglichen. Im Jahr 2050 werden zwei Milliarden Menschen älter als 60 Jahre sein, d. h. ihre Zahl wird erstmals die der Kinder unter 15 Jahren übertreffen. Rund 80 Prozent der über Sechzigjährigen werden in Entwicklungs- und Schwellenländern leben. Für die Mehrheit der heute rund 570 Millionen Menschen über 60 Jahre, die in den Entwicklungsländern leben, bedeutet Alter gleichzeitig Armut. Denn über eine soziale Absicherung verfügen nur die wenigsten. Vor allem ältere Frauen sind häufig ohne jeden sozialen Schutz.

Insgesamt sind rund 80 Prozent der Weltbevölkerung nicht hinreichend gegen Lebensrisiken wie Krankheit, Unfall oder Erwerbslosigkeit abgesichert. Besonders sind davon Menschen betroffen, die außerhalb des formellen Arbeitsmarktes tätig sind. Der Anteil informell Beschäftigter beträgt in Entwicklungsländern bis zu 80 Prozent - viele von ihnen leben auf dem Lande. Menschen, die keinen Zugang zu sozialen Sicherungssystemen haben, sind der Gefahr ausgesetzt, in Hunger und extreme Armut abzurutschen, wenn sie von Missernten oder Krankheiten getroffen werden. Soziale Sicherungssysteme erhöhen die Ernährungssicherheit, indem sie die Ärmsten in akuten Krisen unterstützen und dazu beitragen, dass diese sich langfristig aus Hunger und Armut befreien können. Die Freiheit aller Menschen von Furcht und Not, die die Völkergemeinschaft gemäß der Präambel der »Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte« zu ihrem wichtigsten gemeinsamen Bestreben erklärt hat, schließt insbesondere auch ein, dass Menschen nicht ständig in Furcht leben müssen, am nächsten Tag sich und ihre Familie nicht mehr ernähren zu können. Frei zu sein von der Sorge um das tägliche Brot, auch durch die Absicherung vor elementaren Lebensrisiken durch solidarische Sicherungssysteme, ist eine elementare Voraussetzung dafür, sein Leben aktiv gestalten und seine Existenz entfalten zu können.

Wer vor diesem Hintergrund für soziale Grundsicherung eintritt, plädiert nicht für ein Almosen, sondern pocht auf die Verwirklichung eines Menschenrechts. Das Recht auf soziale Sicherheit ist in Artikel 22 der »Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte« verbindlich verankert [118]. Danach hat jedes Mitglied der Gesellschaft ein »Recht auf soziale Sicherheit und Anspruch darauf, durch innerstaatliche Maßnahmen und internationale Zusammenarbeit sowie unter Berücksichtigung der Organisation und der Mittel jedes Staates in den Genuss der wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Rechte zu gelangen, die für seine Würde und die freie Entwicklung seiner Persönlichkeit unentbehrlich sind.« Im Internationalen Pakt über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte von 1966 wird dieses Menschenrecht weiter konkretisiert [119].

Auf den engen Zusammenhang zwischen dem Recht auf soziale Sicherheit und dem Recht auf Nahrung haben der VN-Sonderberichterstatter für das Recht auf Nahrung, Olivier de Schutter, und die VN-Sonderberichterstatterin für extreme Armut und Menschenrechte, Magdalena Sepúlveda, mehrfach hingewiesen [120]. Ihrer Auffassung nach kommt der sozialen Sicherheit eine entscheidende Rolle für die Verbesserung der Fähigkeit und Möglichkeit von Individuen zu, Zugang zu Nahrung zu erhalten. Soziale Schutzmechanismen sind ein Bestandteil der Umsetzung des Rechts auf Nahrung. Auch das Committee on World Food Security (CFS) benennt soziale Sicherheit als wesentliche Säule für Ernährungssicherheit [121].

Zudem hatte die Internationale Arbeitsorganisation ILO mit der Konvention 102 bereits 1952 die Mindeststandards sozialer Sicherung für Beschäftigte in den Mitgliedsstaaten der ILO festgelegt [122].

Erfolgreiche Beispiele wie z. B. das »Fome Zero«-Programm Brasiliens mit seinem sozialpolitischen Herzstück »Bolsa Familia« (siehe Kasten 11) belegen, wie es mit einem überschaubaren finanziellen Aufwand von Seiten des Staates durch gezielte sozialpolitische Maßnahmen und deren Verknüpfung mit der Förderung der ländlichen Räume gelingen kann, Armut und Hunger deutlich zu reduzieren.

Der unbefriedigende Stand bei der Verwirklichung der Millenniums-Entwicklungsziele hat dazu geführt, dass in jüngster Zeit die Frage der sozialen Sicherheit als Element einer Strategie der Armutsbekämpfung und Armutsvermeidung auch in entwicklungspolitischen Zusammenhängen eine deutliche Aufwertung erfahren hat. Denn auch die positive ökonomische und soziale Dynamik in vielen Entwicklungs- und Schwellenländern hat häufig nicht dazu geführt, dass die Armen an der allgemeinen Wohlfahrtssteigerung teilhaben konnten. Auch die deutliche Reduktion der Armutsquote im globalen Maßstab kann nicht darüber hinwegtäuschen, dass der wirtschaftliche Fortschritt marginalisierte Bevölkerungsgruppen und Menschen, die aufgrund ihres Geschlechts, ihrer Herkunft oder ihres Alters diskriminiert werden, nicht erreicht. Auch nimmt die Ungleichheit zwischen städtischen und ländlichen Gebieten erheblich zu [123]. Es ist offensichtlich, dass ökonomisches Wachstum allein die strukturell begründeten sozialen Ungleichheiten und Ausgrenzungen nicht mindert, sondern vielmehr noch verschärft. Ein nachhaltiges System der sozialen Sicherheit schützt daher nicht nur vor Verarmungsrisiken, sondern kann in Verbindung mit einem transparenten und gerechten Steuersystem, das Besserverdienenden einen höheren Solidarbeitrag abverlangt, auch zu mehr Verteilungsgerechtigkeit beitragen.

Kasten 11
Soziale Absicherung und ländliche Entwicklung durch das Null-Hunger-Programm Brasiliens

Mit dem Ziel, Hunger und extreme Armut zu überwinden, startete die brasilianische Regierung unter dem damaligen Präsidenten Lula da Silva 2003 ein Programm unter dem Titel »Fome Zero«. Dieses ambitionierte sozialpolitische Maßnahmenpaket verknüpft u. a. die Verbesserung des Zugangs zu Nahrungsmitteln mit der Förderung der kleinbäuerlichen Landwirtschaft. Ein wichtiges Element darin sind Schulspeisungsprogramme.

Brasilien erzeugt genügend Nahrungsmittel, um seine Bevölkerung zu ernähren. Der Zugang zu Nahrung bleibt Millionen Brasilianern verwehrt, weil ihre Kaufkraft nicht ausreicht, sie zu erwerben, oder weil sie nicht über die Produktionsmittel verfügen. Das »Fome Zero«-Programm zielt vor allem darauf, Geringstverdienern einen besseren Zugang zu gesunden und angemessenen Nahrungsmitteln zu ermöglichen. Eingebunden sind die Ministerien für Soziale Entwicklung und Bekämpfung des Hungers, für Bildung und Gesundheit. Neben direkten Einkommenstransfers für insgesamt fast 50 Millionen Bedürftige werden Maßnahmen durchgeführt, die die von Hunger bedrohte Bevölkerung kostenlos oder zu subventionierten Preisen mit Nahrungsmitteln versorgen.

Besonderes Gewicht hat das Schulspeisungsprogramm »Programa Nacional de Alimentação Escolar« (PNAE). Als eines der ältesten Ernährungsprogramme Brasiliens sorgt es für die Verpflegung der Schülerinnen und Schüler öffentlicher Schulen und fördert gesunde Ernährungsgewohnheiten. Durch »Fome Zero« wurde das Schulspeisungsprogramm ausgeweitet und verbessert. Es stellt heute Mahlzeiten für 45,6 Millionen Schüler und ist in allen öffentlichen Schulen Brasiliens zu finden. Die Bundeszuweisungen an Bundesstaaten und Kommunen sind daran gebunden, dass mindestens 30 Prozent der dort verwendeten Nahrungsmittel bei landwirtschaftlichen Familienbetrieben beschafft werden. Dies hat vor allem der kleinbäuerlichen Landwirtschaft einen immensen Markt im Umfang von mindestens 900 Millionen Reais (ca. 295 Millionen Euro im Jahr 2014) jährlich erschlossen. Das Schulspeisungsprogramm hat zudem dazu beigetragen, den Besuch von Kindergärten und Schulen zu erhöhen und den Hunger unmittelbar zu bekämpfen. Es wirkt sich auch positiv auf die schulischen Leistungen aus.

Von 2003 an wurde zudem ein Verbund von Einrichtungen, die Nahrungsmittel entweder kostenlos oder zu subventionierten Preisen abgeben, aufgebaut. Diese Gaststätten, Gemeinschaftsküchen oder Lebensmittelausgabestellen werden in Zusammenarbeit mit den Bundesstaaten und Kommunen betrieben, die für den Unterhalt und die Wartung der Einrichtung verantwortlich sind. Zur Versorgung besonderer Bevölkerungsgruppen und von Menschen, deren Ernährungssicherheit durch klimatische Ereignisse bedroht ist, wurde eine Kampagne zur Verteilung von Nahrungsmitteln ins Leben gerufen.

Über die Demokratisierung und Dezentralisierung des öffentlichen Beschaffungswesens hinaus wird Kleinbauern ein neuer Markt eröffnet. Durch die Verbindung zwischen kleinbäuerlicher Landwirtschaft und lokalem Verbrauch haben die Programme das System von Landwirtschaft und Ernährung verändert. Erzeugung, Versorgung, Verbrauch erfolgen in regionalen Wirtschaftskreisläufen. Familienbetriebe werden in den Markt einbezogen; Familien, die besonders stark von Hunger bedroht sind, konsumieren gesündere Nahrungsmittel.

Quelle: Brot für die Welt (Hg.) (2012): Elemente der sozialen Sicherheit in Brasilien. Analyse 33, Stuttgart, S. 22f.; [aufgerufen am 28.1.2015].

4.6.2 Empfehlungen zur Sozialpolitik

  • Die Umsetzung des Rechts auf soziale Sicherheit sollte Eingang in die Post-2015-Agenda finden.
  • Der Aufbau universeller und öffentlich verantworteter sozialer Sicherungssysteme sollte weltweit verstärkt und gefördert werden. Dies umzusetzen, liegt in erster Linie in der Verantwortung der nationalen Regierungen. Entwicklungsländer, die dies nicht hinreichend realisieren können, sollten im Rahmen der Budgethilfe dabei unterstützt werden.
  • Soziale Sicherung ist als ein Schwerpunkt der bilateralen Entwicklungszusammenarbeit des BMZ auszuweisen.
  • Bei der Umsetzung sozialer Sicherungssysteme ist ein spezielles Augenmerk auf die Situation besonders armer und diskriminierter Bevölkerungsgruppen zu legen. Insbesondere Frauen sollten besser als bisher geschützt werden.
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