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Neue Weichenstellung für Agrarentwicklung und Welternährung. Eine Studie der Kammer der EKD für nachhaltige Entwicklung. Mai 2015

4. Handlungsfelder für Ernährungssicherung

4.1 Handelspolitik

4.1.1 Ernährungssicherheit durch Handelsliberalisierung?

Die Befürworter einer weit reichenden Liberalisierung des internationalen Agrarhandels argumentieren, der freie weltweite Handel garantiere einen effektiven Mechanismus, um diejenigen, die genügend Nahrungsmittel haben, mit denjenigen, die nicht genug haben, in einen Austausch zu bringen. Mit Hilfe der Preisbildung würden Güter durch die Preisdifferenzen automatisch von den Überschuss- in die Knappheitsregionen fließen. Daher wird der freie Warenverkehr als wesentliche Voraussetzung der Ernährungssicherung eines Landes angesehen. Doch führt eine vollständige Integration der Ernährungswirtschaften der Entwicklungsländer in den Weltagrarhandel tatsächlich zur Optimierung von Ernährungssicherheit für arme Länder? Können sich die Entwicklungsländer auf die Annahme verlassen, dass selbst die bestehende Teilliberalisierung nach dem Muster des Agrarabkommens der WTO (Agreement on Agriculture, AoA) auch in internationalen Knappheitszeiten von Vorteil für die Ernährungssicherheit ist?

Die überhöhten Erwartungen an den besonderen Nutzen der Handelsliberalisierung für die Entwicklungsländer wurden in zahlreichen Studien nach unten korrigiert. So schrumpfte der errechnete Vorteil für die Entwicklungsländer nach einer Weltbankstudie von 2005 auf 16 Milliarden US-Dollar. Der Nutzen für die Länder des Südens ist danach allerdings ungleich verteilt: Einige große Länder wie Argentinien, Brasilien und Indien profitieren am meisten; Bangladesch und viele afrikanische Länder, die bereits im Genuss spezieller Handelspräferenzen sind, würden sogar als Folge multilateraler Agrarliberalisierung Verluste hinnehmen müssen.95 Selbst dieses Ergebnis musste die Weltbank in weiteren Untersuchungen relativieren. Danach würden die Entwicklungsländer als Gesamtgruppe netto dann am meisten profitieren, wenn die entwickelten Länder, nicht jedoch die Entwicklungsländer selbst, ihre Agrar- und Handelspolitik liberalisieren würden [96].

An diesem Ergebnis ändert sich auch wenig, wenn die Entwicklungsländer alle Sonder- und Vorzugsrechte voll ausschöpfen würden. Die einkommensschwachen Entwicklungsländer mit einem dominanten Kleinbauernsektor (Netto-Nahrungsmittelimporteure) gehören weiterhin zu den Nettoverlierern der Agrarliberalisierung. Die Flexibilitäten des AoA, die in der Doha-Runde eingeführt werden sollten, reichen nicht aus, um die negativen Wirkungen der generellen Liberalisierungsmaßnahmen zu korrigieren [97]. Der Grund liegt auf der Hand: Die Produktivität von Kleinbäuerinnen und -bauern, die häufig auf marginalen Böden wirtschaften, wird in der Regel durch eine Konkurrenz mit der globalen Landwirtschaft nicht gesteigert werden können. Dieser Befund lässt sich nahtlos auf die vielen bilateralen Freihandelsabkommen übertragen, die seit dem Scheitern der Doha-Runde der WTO von den Industriestaaten mit Entwicklungsländern abgeschlossen bzw. verhandelt wurden, wie z. B. die Entwicklungspartnerschafts-Abkommen (EPA) der EU mit der Gruppe der AKP-Länder (Afrika, Karibik, Pazifik).

Der Anstieg der Weltmarktpreise für Nahrungsmittel hat dazu geführt, dass viele Länder zum Schutz der nationalen Ernährungslage auf umstrittene handelspolitische Maßnahmen zugegriffen haben. So sind 36 Nahrungsmittel exportierende Länder im Zuge der Preiskrise 2008 dazu übergegangen, Exportrestriktionen zu erlassen. Sie wollten dadurch verhindern, dass Grundnahrungsmittel ausgeführt werden und die Lebensmittelpreise im eigenen Land steigen. Leidtragende dieser Restriktionen waren arme, Nahrungsmittel importierende Länder, die sich von solchen Lieferungen abhängig gemacht hatten. Zusätzlich zu den enormen Lasten durch die allgemein gestiegenen Weltmarktpreise mussten diese Länder auch noch verkraften, dass ihnen zumindest zeitweilig ihre Hauptlieferanten für Nahrungsmittel abhanden gekommen waren.

Die Tatsache, dass Regelungen zur Unterbindung von Exporteinschränkungen in der WTO fehlen, zeigt zum einen, dass bei der Aushandlung des WTO-Agrarvertrags ein Szenario der weltweiten Lebensmittelverknappung und möglicher handelspolitischer Reaktionen darauf nicht durchdacht wurde. Zum anderen wird deutlich, dass die Verhandlungen des Vertrags im Wesentlichen dominiert waren von den Exportwettbewerbsinteressen der großen Agrarhandelsnationen und den Handelskonflikten zwischen ihnen, nicht jedoch von den Anliegen der Entwicklungsländer, die von Nahrungsmittelimporten abhängig waren.

Wie brüchig ein System der Ernährungssicherheit sein kann, das auf internationalem Handel aufbaut, wurde in der Krise deutlich. Viele einkommensschwache Entwicklungsländer haben sich in ihrer Nahrungsmittelversorgung sehr von den billigen, im Überangebot vorhandenen Nahrungsmittelimporten abhängig gemacht. Die flössen über Jahrzehnte aufgrund der Überproduktion in den subventionierten Ernährungswirtschaften der Industriestaaten reichlich. Die niedrigen Weltmarktpreise waren der Grund, warum die meisten Entwicklungsländer die eigene Landwirtschaft so lange vernachlässigen konnten. Mit den Billigimporten aus Europa, den USA und Südamerika konnten die eigenen Bauern und Bäuerinnen der meisten Entwicklungsländer nicht konkurrieren.

Viele Entwicklungsländer sahen sich in einem grundsätzlichen Dilemma: Sind die Weltmarktpreise für Nahrungsmittel zu niedrig, leiden ihre Bauern und Bäuerinnen, die meist noch die Mehrheit der eigenen Bevölkerung ausmachen. Sind die Preise zu hoch, kommt die Volkswirtschaft unter Druck, weil die Devisenausgaben für die Nahrungsmittelimporte explodieren und die städtischen Armen sich ihre Nahrungsmittel nicht mehr leisten können. Meist reagierten die Nahrungsmittel importierenden Entwicklungsländer auf Weltmarktpreissteigerungen mit kurzfristigen Maßnahmen. Sie senkten die Importzölle, die ohnehin schon sehr niedrig waren, um die kostspieligen Nahrungsmittel nicht noch zusätzlich durch Zölle zu verteuern. Aber Zollsenkungen sind langfristig gesehen der falsche Weg, um die Abhängigkeit von Nahrungsmittelimporten zu reduzieren. An einer Steigerung der Eigenerzeugung geht bei weltweiten Knappheitserscheinungen kein Weg vorbei. Das gilt besonders dann, wenn ausreichende Produktionskapazitäten für die Landwirtschaft im eigenen Land vorhanden sind.

4.1.2 Die Schieflage der internationalen Agrarhandelsregeln

Das Agrarabkommen der WTO (AoA) war Anfang der 1990er Jahre vor dem Hintergrund dreier Dekaden, die von landwirtschaftlichen Überschüssen, sinkenden Agrarpreisen und Handelskonflikten zwischen den Agrarexportstaaten geprägt waren, konzipiert worden. Die Regeln waren entsprechend der Interessen der großen Agrarexporteure gestaltet, um die Exportkonkurrenz fairer zu gestalten, Schutz vor Billigimporten regulieren zu können und landwirtschaftlichen Subventionen eine neue Rechtfertigung zu geben.

Diese bis heute gültigen WTO-Regeln für die Landwirtschaft sind jedoch wenig geeignet, um mit einer Situation von weltweiter Nahrungsmittelverknappung, steigenden Preisen und notwendigen staatlichen Interventionen zugunsten der Ernährungssicherung konstruktiv umzugehen. So sieht das Vertragswerk z. B. keine expliziten Regeln zum Verbot von Exportbehinderungen vor. Staatliche Unterstützung der Landwirtschaft zum Zwecke der Steigerung der Grundnahrungsmittelproduktion steht unter Vorbehalt und soll tendenziell abgebaut werden. Auch eine Reservelagerhaltungspolitik von Nahrungsmitteln wird mit Skepsis betrachtet.

In diesem Sinne hat der Berichterstatter der Vereinten Nationen für das Recht auf Nahrung, Olivier de Schutter, festgehalten, dass die internationale Gemeinschaft die Bedürfnisse ernährungsunsicherer Entwicklungsländer im AoA nicht hinreichend berücksichtigt habe. Deren agrarpolitische Maßnahmen, die dazu dienen, ihre nationalen Ernährungssysteme gegen Krisen widerstandsfähiger auszurichten, stehen immer noch unter dem Generalverdacht des Protektionismus und sollen liberalisiert bzw. dereguliert werden. Insofern stünden die WTO-Agrarregeln in Teilen auch im Widerspruch zur Realisierung des Rechts auf Nahrung [98].

Ende 2013 wurde auf Bali das so genannte Bali-Paket von der WTO verabschiedet. Es ist das erste weitreichende multilaterale Freihandelsabkommen, das seit Gründung der WTO 1995 verabschiedet wurde und umfasst zehn Einzelvereinbarungen. Darin enthalten sind drei Teilaspekte der 2001 in Doha gestarteten Verhandlungsrunde: Handelserleichterungen durch vereinfachte Zollrichtlinien, Veränderung der Subventionsrichtlinien im Agrarsektor und Sonderregelungen für die ärmsten Staaten. So sollen diese bessere Zugänge zu den Märkten der Industrie- und Schwellenländer erhalten. Die Entwicklungshilfe im Bereich des Handels soll verstärkt werden. Die Annahme des Paketes scheiterte allerdings 2014 am Widerstand Indiens. Zwar wurde Indien eine zeitlich begrenzte Subventionierung von Lebensmitteln für arme Bevölkerungsgruppen zugestanden, um es zur Zustimmung zum Bali-Paket zu bewegen, Indien lehnte jedoch ab.

4.1.3 Unterstützungsmaßnahmen in Entwicklungsländern

Der Agrarvertrag der WTO definiert Ernährungssicherung in seiner Präambel als ein Anliegen, das als Ziel anerkannt werden müsse. Zwischen den nationalen Politiken der Entwicklungsländer, die die Ernährungssicherung als wesentliches Ziel ansehen, und den WTO-Regeln gibt es allerdings an vielen Stellen Reibungen. Die dabei auftretenden Regelwidrigkeiten bergen entweder ein Konfliktpotenzial oder führen - bei Vermeidung - zu agrarpolitischen Weichenstellungen, die Entwicklungsländer in der Auswahl ihrer möglichen Politikinstrumente sehr begrenzen und es teilweise schwierig machen, menschenrechtliche Vorgaben aus dem Recht auf Nahrung umzusetzen.

Ein Bereich betrifft z. B. die Regeln zum Abbau der landwirtschaftlichen Unterstützung. Für die Entwicklungsländer gilt, dass sie eigentlich dringend mehr statt weniger für die Steigerung ihrer Nahrungsmittelproduktion und für sinnvolle Ernährungssicherungsprogramme ausgeben sollten. Der AoA schreibt vor, dass alle Unterstützungsmaßnahmen, es sei denn, sie wären »nicht oder nur minimal handelsverzerrend«, nach einer festgelegten Formel abzubauen sind. Welche Maßnahmen handelsverzerrend sind und welche nicht, wird nicht an den effektiven Wirkungen einer bestimmten Maßnahme geprüft, sondern sie sind a priori in einer Liste festgeschrieben (»Grüne Box Maßnahmen«). Diese Liste richtet sich stark an den agrarpolitischen Subventionstatbeständen der Industrieländer aus. Viele wichtige agrarpolitische Maßnahmen der Entwicklungsländer fehlen auf der Liste, wie z. B. Landreformprogramme, Siedlungsprogramme, Bodenkonservierung, Ressourcenbewirtschaftung, Dürremanagement, Landvermessung, Landkataster, Programme zur Sicherung von Landeigentumstiteln und Armutsbekämpfung. Staatliche Ausgaben, die für nichtgelistete Agrarprogramme anfallen, fallen automatisch unter die Abbaupflicht, sofern eine Geringfügigkeitsgrenze (de minimis) überschritten ist. Zwar heißt es im AoA (Annex 2, § 2), dass die Liste nicht erschöpft sei, doch fallen Maßnahmen, die nicht gelistet sind, unter die Nachweispflicht, dass sie die Kriterien der »Nicht-Handelsverzerrung« erfüllen. Der Nachweis ist generell schwer zu führen.

In Artikel 6.2 macht das AoA allerdings eine Ausnahme und listet explizit spezielle »Grüne-Box Maßnahmen« für Entwicklungsländer auf. Hier finden sich z. B. Unterstützungsprogramme zur Ankurbelung der Landwirtschaft und ländlichen Entwicklung und Investitionssubventionen - allerdings nur, wenn sie integraler Bestandteil von Entwicklungsprogrammen der Entwicklungsländer, das heißt, wenn sie generell für alle verfügbar sind. Was diese Qualifizierungen wirklich bedeuten, ist noch nicht ausgetestet worden. Entwicklungsländer dürfen danach auch Betriebsmittelsubventionen geben, aber nur, wenn diese für »einkommensschwache und ressourcenarme Erzeuger« vorgesehen sind. Auch staatliche Ausgaben für Diversifizierungsprogramme sind erwähnt, jedoch nur bezogen auf den Ersatz für den Anbau von Drogen. Die Einschränkungen sind so restriktiv, dass sich aus diesen Ausnahmetatbeständen keine schlüssige Ernährungssicherheitsstrategie der Entwicklungsländer ableiten lässt oder sich ein unterstützender politischer Rahmen ergibt, um das Recht auf Nahrung zu realisieren [99].

Ein anderer Sachverhalt betrifft Ernährungssicherheitsnetze, soziale Schutzprogramme und Reservelagerhaltung. Alle diese agrarpolitischen Maßnahmen stehen im AoA unter dem Generalverdacht, dass sie primär missbraucht würden, um der eigenen Landwirtschaft einen ungerechtfertigten Wettbewerbsvorteil zu verschaffen. Das war in der Ära vor der WTO in den Industriestaaten auch sicherlich der Fall. Aber heute in der Zeit von Knappheit, im Blick auf die unsichere Lage der Ernährung in vielen Entwicklungsländern und der starken Volatilität der Weltagrarpreise bedarf es einer abgestimmten verstärkten nationalen, regionalen und internationalen Lagerhaltungspolitik mit einer stärkeren entwicklungspolitischen Ausdifferenzierung.

Die Entwicklungsländerausnahmen für diesen wichtigen Sachverhalt tauchen nur als interpretierende Fußnote auf - die einzige Fußnote übrigens in dem ganzen AoA [100]. Große Entwicklungsländer, z. B. Indien und China, haben über mehrere Dekaden hinweg sehr erfolgreiche Programme dieser Art durchgeführt, indem sie den Bauern einen Teil der Ernte zu bevorzugten Preisen abgekauft und dann gegen Lebensmittelkarten für arme Zielgruppen das Getreide verbilligt abgegeben haben. Diese Art der Maßnahmen verschlang große öffentliche Summen, löste aber teilweise den Grundkonflikt zwischen Sicherung des Lebensunterhalts für arme ländliche Erzeuger und der Bezahlbarkeit von Lebensmitteln für städtische Armutsgruppen [101].

Für Zahlungen als direkte Unterstützung durch die Regierungen an ihre Landwirte wurde den Industriestaaten eine Ausnahme zugestanden. Voraussetzung ist, dass diese Zahlungen mit produktionsbeschränkenden Maßnahmen (»Blaue Box«) verbunden sind. Auch für Entwicklungsländer wären direkte Unterstützungsmaßnahmen für bestimmte bäuerliche Zielgruppen in bestimmten Zeiten wichtig. Ihre Begründung wären jedoch soziale Sicherheitsnetze zur Armutsreduktion. Dafür gibt es nur Ausnahmetatbestände, die äußerst schwer zu verifizieren sind, wie z. B. Zuschüsse zu privaten Einkommensversicherungen oder - im Fall von Katastrophen - bei mindestens 30 Prozent Einkommensrückgang, gemessen an dem letzten Drei-Jahresdurchschnitt. Können die Beweise nicht erbracht werden, was unter Entwicklungsländerbedingungen in Krisensituationen unmöglich ist, fallen solche Zahlungen unter die Abbaupflicht [102].

Die Nahrungsmittelkrise hat viele Schwächen des gegenwärtigen Rechtsrahmens der Handelspolitik offen gelegt. Die Entwicklungsländer werden darin nicht hinreichend in ihrem Bemühen unterstützt, eine Politik der Ernährungssicherheit zu verfolgen, und der globalen Situation der Nahrungsmittelknappheit wird nicht ausreichend Rechnung getragen. Die zahlreichen bilateralen Freihandelsverträge, die die Industriestaaten seitdem unter dem Eindruck des Scheiterns der Doha-Runde mit den Entwicklungsländern geschlossen haben, schränken die Handlungsspielräume der Entwicklungsländer vielfach noch weiter ein. Hier zeigt sich, dass die schwächeren Partner in bilateralen Vertragsverhandlungen noch weniger Verhandlungsmacht aufbieten können, als dies in multilateralen Verhandlungen der Fall ist.

Dies spiegeln auch die Resultate des Bali-Gipfels wider: Ein wichtiger Streitpunkt der Verhandlungen war die geplante Befristung von Agrarsubventionen, die zur Unterstützung von Kleinbauern und zur Ernährungssicherung für die eigene Bevölkerung beitragen sollen. Hierfür hatte sich Indien bis zuletzt eingesetzt. Der Hintergrund: Indien verstößt mit einem Anti-Hunger-Programm gegen WTO-Regeln, indem es zur Bildung von Nahrungsmittelreserven vor allem Reis zu staatlich festgesetzten Preisen kauft und verkauft. Der in Bali gefundene Kompromiss sah vor, dass alle bestehenden Subventionsprogramme beibehalten werden, jedoch keine neuen Programme aufgelegt werden dürfen. Letztlich war dies für Indien zu wenig und hat zur Verhinderung des Bali-Konsenses geführt (vgl. Kap. 4.1.2)

4.1.4 Marktregulierung ist ein Instrument der Armutsbekämpfung

Seit der Verabschiedung der Millenniums-Entwicklungsziele kommen auch Agrarpolitiker nicht daran vorbei, die Armutsreduktion zumindest rhetorisch als wichtiges Ziel anzuerkennen. Ein zentrales Dilemma der Agrarökonomie ist aber, dass ländliche Armutsbekämpfung mit Einbußen des Wirtschaftswachstums einhergehen kann. Daher hat sich global eine »Zwillingsstrategie« als Konsens herausgebildet: Kurzfristig soll zwar auf die behutsame Förderung der Kleinbauern und Kleinbäuerinnen als eine effektive Armutsreduktionsstrategie gesetzt werden. Langfristig wird aber in der Konservierung der extrem zerstückelten und klein parzellierten Kleinbauernstrukturen keine Zukunft gesehen, um eine konkurrenzfähige Landwirtschaft entstehen zu lassen und Landwirten eine Chance zu bieten, aus der Armutsfalle herauszufinden. Dazu - so die herrschende Lehre - ist ein Strukturwandel hin zu größeren Betrieben und der stärkeren unternehmerischen Professionalisierung der Landwirte und Landwirtinnen unumgänglich. Das kann durch die Förderung der Abwanderung des Arbeitskräfteüberhangs aus der Landwirtschaft in andere Sektoren (Diversifizierung der Erwerbsmöglichkeiten auf dem Lande), durch erhebliche Investitionen in die Modernisierung der verbleibenden Betriebe (progressive farmers) und die Schaffung funktionsfähiger Märkte erreicht werden.

Die Armutsbekämpfung darf nach dieser Lesart keinesfalls bei einer Förderung der überkommenen Strukturen verbleiben. Viele arme landwirtschaftliche Haushalte sind auch ökonomisch gar nicht entwicklungsfähig. Sie sind nur durch soziale Maßnahmen erreichbar. Zielgruppenspezifische Kleinbauernprogramme müssen mit Maßnahmen der sozialen Grundabsicherung und Investitionen in die allgemeine regionale Entwicklung und in ländliche öffentliche Güter (Bildung, Gesundheit, Infrastruktur) gekoppelt werden [103]. So verspricht man sich, dass die Armutsreduktion zu keiner künstlichen Konservierung überkommener Strukturen führt. Aber beide Strategien, die kurz- und die langfristige, die sozialpolitische und die wachstumsorientierte, sollen parallel miteinander verfolgt werden. Bei jeder Wachstumsstrategie ist ein Ausbau funktionierender Märkte - etwa für Kleinkredite, Versicherungen oder den Verleih von Maschinen - ebenso unerlässlich wie die Schaffung zuverlässiger Rahmenbedingungen, etwa bei den Landrechten.

Marktradikale Positionen bewerten jedoch alle diese Maßnahmen als Intervention in das Marktgeschehen und lehnen sie ab. Dabei dienen sie in der Regel dazu, mit staatlichen Programmen Marktverzerrungen zu korrigieren. Herausgefordert werden alle Versuchungen der Preisstützung (Zollerhöhung, staatliche Interventionslager, Marketing Boards), der Preissubventionierung von lokal erzeugten Lebensmitteln (z. B. in Indien) und der Inputsubventionierung (vor allem Düngemittelsubventionen, freie Beratung, Landmaschinenbezuschussung, Dieselkraftstoff- und Strombeihilfe, kostenfreie Bewässerung). Staaten müssen handelspolitisch in der Lage sein, notwendige Politikinstrumentarien zur Förderung von Bauernfamilien und zur Korrektur von Marktversagen zu ergreifen, insbesondere wenn die Instrumente genutzt werden, um das Recht auf Nahrung umzusetzen. Das Scheitern des vorläufigen Kompromisses von Bali am Widerstand Indiens ist ein Signal dafür, dass marktradikale Kompromisslosigkeit in der Handelspolitik nicht mehr konsensfähig ist, sondern vermittelnde Positionen gefunden werden müssen, die aktive Unterstützung Benachteiligter erlaubt, ohne ein neues Protektionspotenzial aufzubauen.

4.1.5 Empfehlungen zur Handelspolitik

  • Die durch Handelsverträge bewirkte Liberalisierung des internationalen Agrarhandels muss für die Entwicklungsländer die »sensiblen Produkte« aussparen; das sind sowohl Grundnahrungsmittel als auch arbeitsintensive Kleinbauernprodukte, die zentral für die Armutsbekämpfung sind.
  • Die Förderung von einkommensschwachen und ressourcenarmen Bäuerinnen und Bauern in Entwicklungsländern soll nicht als Subventionierung betrachtet werden, die aus handelspolitischen Gründen zu reduzieren wäre. Das betrifft z. B. zielgruppenspezifische Privilegierung im öffentlichen Beschaffungssystem.
  • Agrarpolitische Maßnahmen und Strategien, die der Armuts- und Hungerbekämpfung sowie der Umwelterhaltung und -verbesserung dienen, sollen handelspolitisch nicht hinterfragbar sein. Das betrifft z. B. staatliche Lagerhaltung mit angeschlossenem Verteilungssystem für bedürftige Gruppen.
  • Bilaterale Handelsabkommen sind ein schlechter Ersatz für multilaterale Handelsabkommen zwischen Industrie- und Entwicklungsländern. Schwache Länder lassen sich bei bilateralen Verhandlungen stärker unter Druck setzen als bei multilateralen, wo jene Entwicklungsländer, die Nettonahrungsmittelimporteure sind, sich inzwischen zu einem mächtigen Block zusammengeschlossen haben.
  • Das Agrarabkommen der WTO muss ergänzt werden durch sensible Regelungen, wie in Knappheitszeiten mit Exportrestriktionen umgegangen werden soll. Sie sind legitim zur eigenen Ernährungssicherung, dürfen aber die Ernährungssicherung von armen Ländern, die sich von den Lieferungen eines Exportlandes abhängig gemacht haben, nicht gefährden. In solchen Fällen müsste ein Mechanismus der Rücksichtnahme in das Regelwerk aufgenommen werden [104].
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