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Neue Weichenstellung für Agrarentwicklung und Welternährung. Eine Studie der Kammer der EKD für nachhaltige Entwicklung. Mai 2015

5.2 Die Europäische Union

5.2.1 Das Kohärenzgebot

Politische Entscheidungen, die von Seiten der europäischen Staaten auf nationaler Ebene oder auf Ebene der Europäischen Union getroffen werden, können erhebliche Auswirkungen auf die Welternährungslage und die Ernährungssicherheit der Entwicklungsländer haben. Doch die angemessene politische Bearbeitung dieser Fragen wird durch die Art und Weise der Ressortaufteilung sowohl bei den nationalen Regierungen als auch auf EU-Ebene behindert.

Die Lobbyaktivitäten der Nichtregierungsorganisationen, die auf europäischer Ebene für internationale Gerechtigkeit eintreten, berufen sich vor allem auf das Kohärenzgebot (Politikkohärenz mit den Entwicklungsländern, PCD), das in Artikel 208 des Vertrags über die Arbeitsweise der EU (AEUV) festgehalten ist: »Bei der Durchführung politischer Maßnahmen, die sich auf die Entwicklungsländer auswirken können, trägt die Union den Zielen der Entwicklungszusammenarbeit Rechnung.« Das Gebot leitet sich aus dem Artikel 3(5) des EU-Vertrags (EUV) von 2010 ab [128]. Dieses Gebot hat Verfassungscharakter.

Das Entwicklungsressort der EU-Kommission ist in seinem Auftrag weitgehend beschränkt auf Kooperationsvorhaben mittels finanzieller und technischer Mittel. Wenn es in den Fachressorts um entwicklungspolitische Kohärenz externer Politikdimensionen geht, sind die anderen Generaldirektionen sehr viel mächtiger aufgestellt. Sie verfügen nicht nur über die entsprechende technische, ökonomische und juristische Expertise in Einzelfragen, sondern hinter ihren Anliegen stehen auch starke nationale Eigeninteressen und einflussreiche Interessensgruppen.

Zudem ist die Formulierung der Kohärenzverpflichtung - »Rechnung tragen« - sehr schwach, denn dies verpflichtet zu nichts. Meist wird der Kohärenz entsprochen, indem man nach dem interessengeleiteten Aushandeln internationaler Regulierungen Sonderparagraphen einfügt, die den Entwicklungsländern beschränkte Ausnahmen gestatten, oder »Capacity Building« in Aussicht stellt. Das »Capacity Building« ist dann aber meist aus den Mitteln der Entwicklungspolitik zu finanzieren und beeinträchtigt die konsequente Verfolgung der Eigeninteressen kaum.

Die Ziele der europäischen Agrarpolitik (gemeinsame Agrarpolitik, GAP) sind auf die Eigenbelange der Agrar- und ländlichen Entwicklung im Inland ausgerichtet und nicht auf die Bewältigung der globalen Herausforderungen der gesamten Menschheit. Damit besteht ein Widerspruch zwischen einer auf den Eigennutz ausgerichteten Agrarpolitik und einer Agrarpolitik, die globale Herausforderungen annimmt. Die EU ist zum größten Agrarimporteur und -exporteur der Welt geworden [129]. Die landwirtschaftliche Primärproduktion wird nur noch von einem sehr kleinen Teil der Bevölkerung geleistet und ihr Anteil an der Ernährungswirtschaft ist stark geschrumpft. Die verbliebenen Agrarbetriebe sind heute hochgradig rationalisiert, spezialisiert und professionell geführt; aus dem Bauer von früher ist heute der Agrarmanager geworden. Die einzige Kohärenzfrage, die diese Agrarpolitik zulässt, ist die Frage nach der Konformität der internen Regelung mit dem Regelwerk der WTO.

Die Agrarpolitik der EU erkennt nicht einmal in einer Präambel ihre Verantwortung für eine zukünftige Sicherung der Welternährung, für die harmonische Entwicklung der Weltagrarmärkte oder eine weltweite nachhaltige Agrarentwicklung an. Dabei sieht der Landwirtschaftsetat der EU für 2014 bis 2020 Ausgaben in Höhe von 371,8 Milliarden Euro vor. Das sind 39 Prozent des gesamten Etats. Die Mittel sollen dazu dienen, die EU-Landwirtschaft international konkurrenzfähig zu machen, Landwirtsfamilien eine Einkommensstütze zu geben, die Agrarumwelt zu schützen, Verbrauchern Qualität und Sicherheit zu gewährleisten sowie ländliche Räume zu entwickeln. Diese Ziele lassen sich jedoch langfristig nicht auf Kosten der Agrarwirtschaften der Entwicklungsländer verwirklichen. Bei fast allen von der EU geförderten nationalen Programmen treten mögliche Konflikte mit den Interessen einer weltweiten Verträglichkeit und ökologischen Nachhaltigkeit auf. Dies ist zukünftig stärker zu beachten und zu vermeiden.

Die EU und die europäische Agrar- und Ernährungswirtschaft sind bei allen internationalen Verhandlungen zentrale Player, ob bei den G8, wo es um die Weltmarktstabilisierung geht, oder bei der FAO, wo es u. a. um die Hungerbekämpfungspolitik geht, bei der internationalen Standardsetzung wie dem Codex alimentarius [130], der internationalen Tierseuchenbekämpfung, den verschiedenen agrarbezogenen Umweltkonventionen etc. Doch das politische Agieren auf dieser Ebene ist intransparent und kaum verbunden mit der eigenen Agrarpolitik.

So hat z. B. die starke Weltmarktintegration der EU-Landwirtschaft, insbesondere im Blick auf den hohen Importbedarf der EU-Landwirtschaft für Futtermittel auf der einen und die übermäßigen Exporte z. B. von Hühnerrestteilen auf der anderen Seite erhebliche Auswirkungen auf die Ernährungssicherung in den Entwicklungsländern. Ebenso werden die ökologischen, sozialen und ernährungspolitischen Effekte in den Anbauländern durch Energiepflanzenexporte für die EU-Biokraftstoffproduktion bei der Gesetzgebung in der EU und ihren Mitgliedsstaaten so gut wie nicht beachtet. Immer noch sind - trotz Kohärenzgeboten und den Bekenntnissen der Politik zur Hungerbekämpfung - in der Prioritätensetzung der Politikmaßnahmen die nationalen und europäischen Belange wichtiger als die entwicklungspolitischen.

Unbestreitbar spielt die EU bei internationalen Verhandlungen und Regelwerken auch eine konstruktive Rolle, die anzuerkennen ist. Hilfreich ist z. B. die »Everything but Arms-Initiative«, bei der die EU ihre Agrarmärkte für die 48 ärmsten Länder fast vollständig geöffnet hat [131]. Oder sie hat sich bei den Verhandlungen zum Cartagena-Protokoll zur biologischen Sicherheit den Wünschen der Entwicklungsländer nach hohen Sicherheitsstandards bei der Bio- und Gentechnik angenähert. Die EU hat sich für die »Freiwilligen Leitlinien der FAO zur Umsetzung des Rechts auf Nahrung und zur Landpolitik« eingesetzt. Auch bei den Klimaverhandlungen oder den Verhandlungen zur Biodiversität ist sie offen gegenüber den Belangen der Entwicklungsländer. Aber sie zeigt weder Führungsstärke noch einen klaren politischen Willen.

Kasten 12
Kohärenzdefizite am Beispiel der Geflügelproduktion in Benin

In dem vom BMZ mit entworfenen G8-Framework für Benin ist die Entwicklung der lokalen Geflügelproduktion vorgesehen. Eine Firma aus Benin verpflichtet sich in dem Framework, ihre Investitionen in die Geflügelproduktion zu erhöhen, um den eigenen auf 75 Tonnen Produktionsmaße ausgelegten Geflügelschlachthof besser auszulasten. Angesichts von über 130.000 Tonnen tiefgefrorenem Geflügelfleisch, die aus der EU jährlich nach Benin exportiert werden, stellt sich die Frage, wie erfolgreich diese Initiative sein kann. Betrachtet man auch das G8-Framework für Nigeria, verschärft sich der Eindruck, dass hier ein großes Kohärenzdefizit vorliegt. In Nigeria ist im Rahmen der G8-New Alliance geplant, einen Geflügelbetrieb aufzubauen, der eine Produktionskapazität von einer Million Tieren im Jahr erreicht. Gleichzeitig werden aber ca. 100.000 Tonnen Geflügelfleisch mit europäischem Ursprung aus Benin nach Nigeria geschmuggelt. Dieses illegal eingeführte Fleisch bedroht nach Aussagen des nigerianischen Geflügelverbandes massiv die lokale Produktion.

Entwicklungspolitisch kohärentes Handeln zur Stärkung der Geflügelproduktion in Benin und Nigeria würde bedeuten, dass sich die Bundesregierung dafür einsetzt, dass die Geflügelfleischexporte nach Benin stark reduziert oder ganz eingestellt werden. Hierzu könnte ein Beschwerdemechanismus für Produzenten aus Entwicklungsländern gegenüber der EU etabliert werden. Bei der GAP-Reform scheiterte dieser Vorschlag jedoch.

Ein nachhaltiger Aufbau der Geflügelproduktion in Benin und die sich damit verbessernde Ernährungssituation der lokalen Produzenten erfordert eine langfristige und gut abstimmte Rückzugsstrategie der europäischen Geflügelfleischexporteure. Nur auf diesem Weg lässt sich die Lücke zwischen Bedarf und lokaler Produktion schließen.

Quelle: Brot für die Welt

In anderen Verhandlungssträngen dagegen verfolgt die EU unnachgiebig ökonomische Eigeninteressen, wie z. B. bei dem internationalen Rechtsrahmen zum geistigen Eigentum, zur Liberalisierung der Dienstleistungsmärkte oder den Investitionsabkommen, die beide einen starken Agrarbezug haben. Außerdem ist die gemäßigte Handelsliberalität bei Präferenzabkommen kein Ersatz für Schädigungen, die von der EU in anderen Bereichen ausgehen, wie z. B. in ihrer Position als offensiver Agrarexporteur.

5.2.2 Empfehlungen für die Agrarpolitik der EU

Die Kammer für nachhaltige Entwicklung plädiert dafür, die EU-Agrarpolitik am Leitbild einer ökologisch nachhaltigen, multifunktionalen und vielfältigen Landwirtschaft auszurichten, die ihrer Verantwortung gegenüber den Erzeugerinnen und Erzeugern und den Verbraucherinnen und Verbrauchern in der Europäischen Union, aber auch den Menschen in den Entwicklungsländern nachkommt [132].

Hierzu sollten die folgenden Aspekte Beachtung finden:

  • Direktzahlungen an die europäischen Landwirte dürfen sich nicht handelsverzerrend auswirken.
  • Sicherheit und Qualität der Lebensmittel in der EU müssen gewährleistet werden, ohne Kleinproduzenten in Entwicklungsländern durch ungerechtfertigte Standards, die als nicht-tarifäre Handelshemmnisse genutzt werden, aus den Märkten zu drängen.
  • Ein erkennbarer Teil aller Agrarforschungsprojekte in Europa muss nachweislich der Lösung der globalen Zukunftsherausforderungen der Landwirtschaft und Welternährung dienen und einen Entwicklungsländerbezug umfassen.
  • Die EU sollte sich bei internationalen Handelsabkommen für Reformen einsetzen, die Entwicklungsländern genug Politikflexibilität für Ernährungssicherung verleiht, statt nur die Öffnung der Märkte für europäische Exportinteressen zu verfolgen.
  • Prüfverfahren für die Sicherheit neuer Technologien und ihrer Produkte für die Landwirtschaft sind so zu gestalten, dass weltweit hohe Standards eingehalten werden, anstatt Produkte, die in der EU keine Zulassung erhalten, in Entwicklungsländer zu exportieren.
  • Hohe Weltmarktpreise sollten Landwirtschaften in schwachen Ländern die Chance eröffnen, ihre eigenen Agrarpotenziale zu mobilisieren. Die EU sollte auf Exportoffensiven verzichten, wenn hierdurch Entwicklungsländer betroffen sind.
  • Die nötige Energiewende in der EU muss so gestaltet werden, dass nicht massiv auf die Biomasseproduktion der Entwicklungsländer zurückgegriffen wird.
  • Die EU-Agrarpolitik muss einen klaren Zielrahmen für die externe Dimension der Agrarpolitik erhalten, der auch in die Wirkungskontrolle mit eingeht und im Blick auf alle Politikprogramme der Agrarpolitik durchbuchstabiert wird.
  • Die externe Dimension der Agrarpolitik sollte durch ein eigenständiges Budget unterfüttert werden, das als »Dritte Säule« in die zukünftige Gestaltung der GAP Eingang findet.
  • Besonderes Augenmerk ist darauf zu richten, dass vom Territorium der EU keine Exporte mit Hilfe von Dumpingmethoden erfolgen, die den Handel mit und die Märkte in Entwicklungsländern verzerren.
  • Die Europäische Union sollte die »Freiwilligen Leitlinien zur Umsetzung des Rechts auf Nahrung« zur Richtschnur ihres Agrarhandels mit Entwicklungsländern machen und alles unterlassen, was die Ernährungssouveränität und die Verwirklichung des Rechts auf Nahrung in den Entwicklungsländern behindert.
  • Den Entwicklungsländern muss ein Beschwerdemechanismus angeboten werden, um entwicklungsfeindliche Handelspraktiken auch jenseits der WTO-Regeln zur Verhandlung zu bringen.
  • Die Lasten der Anpassung an den Klimawandel für Entwicklungsländer sind auszugleichen. Diese externen Effekte müssen zu Lasten der Verursacher und zum Nutzen der Geschädigten internalisiert, das heißt, durch entsprechende politische Maßnahmen ausgeglichen werden. Dies ist besonders bedeutsam, da wohlhabende Staaten als Hauptverursacher zeitweilig sogar Nutznießer des Klimawandels im Bereich der Landwirtschaft sein werden (vgl. Kap. 2.3.2).
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