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Neue Weichenstellung für Agrarentwicklung und Welternährung. Eine Studie der Kammer der EKD für nachhaltige Entwicklung. Mai 2015

5. Die Verantwortung der Akteure im Agrar- und Ernährungssektor

5.1 Governance-Strukturen

5.1.1 Internationale Governance

In der Welternährungskrise 2007/08 ist offenbar geworden, wie schwach die internationale Governance im Bereich Welternährung und Weltagrarentwicklung über lange Zeit war (vgl. Kap. 2.6). Insbesondere die Welternährungsorganisation FAO vermochte es nicht, das Management der Welternährungskrise zu übernehmen. Sie konnte keine schnelle Reaktion koordinieren, da sie zum einen die Krise in dieser Form nicht vorhergesehen hatte und von ihr überrascht wurde und ihr zum anderen die Legitimität fehlte, die relevanten Akteure auf internationaler Ebene zu vereinen und zu motivieren. Hinzu kam, dass das Thema der Ernährungssicherheit während der 1990er Jahre keine politische Priorität genoss. In der Krise wurde eine VN-eigene Task Force zur Koordinierung der kurz- und mittelfristigen Reaktionen eingerichtet. Das Hochschnellen der Hungerzahlen auf über eine Milliarde Menschen war eine so dramatische Entwicklung, dass die Bereitschaft wuchs, zukünftig eine zentrale Steuerungs- und Koordinierungsinstitution einzurichten, um besser und schneller auf akute Krisen reagieren zu können. Hierzu erhielt der 1974 eingerichtete Welternährungsausschuss CFS ein neues Mandat: Er soll nicht nur die Arbeit der drei in Rom basierten VN-Organisationen FAO, Welternährungsprogramm und Internationaler Fonds für landwirtschaftliche Entwicklung (IFAD), sondern darüber hinaus auch die Arbeit der anderen beteiligten Organisationen, wie der Weltbank, aber auch die Entwicklungszusammenarbeit bilateraler Geber und den Beitrag von nichtstaatlichen Organisationen und der Privatwirtschaft koordinieren.

Um eine funktionierende Partizipation der Zivilgesellschaft und anderer Akteure zu ermöglichen, wurde diesen bei der Ausgestaltung des CFS besondere Aufmerksamkeit zuteil. Sowohl die zivilgesellschaftlichen Organisationen wie die Privatwirtschaft haben einen eigenen Koordinierungsmechanismus im Rahmen des CFS erhalten, um mit dem CFS zusammenzuarbeiten. Sowohl der CSM (Civil Society Mechanism) als auch der PSM (Private Sector Mechanism) organisieren die Partizipation ihrer jeweiligen Gruppen autonom, d. h. nicht die VN suchen die teilnahmeberechtigten NRO aus oder bestimmen, wer Rederecht hat, sondern der CSM selbst. Diese weit reichenden Beteiligungsrechte resultieren aus den Erfahrungen der Welternährungskrise, dass durch die Partizipation von Menschen und Institutionen aus betroffenen ländlichen Regionen ein besserer Informationsfluss erfolgt wäre. Beide Mechanismen stellen innovative Formen der Beteiligung wichtiger Zielgruppen an der Steuerung internationaler Organisationen bzw. eines Themas dar. Entscheidungsberechtigt bleiben weiterhin allein die Staaten.

Die Schaffung eines neuen Gremiums zur internationalen Steuerung ist bis heute nicht unumstritten. Andere internationale Organisationen, vor allem die Weltbank, hätten gerne selbst eine Schlüsselrolle im Design internationaler Ernährungssicherungspolitik und werden selbst entsprechend aktiv, ohne den CFS als Abstimmungsrahmen zu nutzen. Kritik besteht auch an dem VN-Prinzip »ein Land - eine Stimme«, und es wird stattdessen gefordert, dass wichtige Länder oder Geber einen größeren Einfluss erhalten. Die G8/G20 Gipfel werden dazu genutzt, um eigene Initiativen zum Thema Ernährungssicherheit voranzutreiben - zum Teil parallel, zum Teil in Konkurrenz zur Agenda des CFS [124].

Parallel zur Arbeit von FAO/CFS wächst die Anzahl von Initiativen der Privatwirtschaft. Die Düngemittelindustrie initiierte eine neue Initiative für eine Grüne Revolution in Afrika (AGRA). Die G8 haben eine neue Allianz für Ernährungssicherheit mit der Privatwirtschaft lanciert (vgl. Kap. 2.6.1). Dies kann zu parallelen und wenig koordinierten Strukturen führen. Als Folge konkurrieren die knappen Ressourcen, und effiziente Absprachen erfolgen nicht. Dies kann im Gesundheitsbereich bereits beobachtet werden: Dort liegen bis zu 60 internationale Akteure im Wettstreit um Mittel und politische Aufmerksamkeit.

Die internationale Governance hat mit dem CFS ein neues Zentrum bekommen. Allerdings muss dieses politisch an Gewicht gewinnen, anerkannt und gestärkt werden, damit es zu mehr Kohärenz im Kampf gegen den Hunger beitragen kann. Die größte Bedeutung für eine Verbesserung der Ernährungssicherung kommt nach wie vor den Nationalstaaten selbst zu. Sie sind dafür verantwortlich, welche Politik für den ländlichen Raum verfolgt wird, welche Durchsetzungskraft rechtsstaatliche Verfahren haben und welche Prioritäten im Rahmen der nationalen Agrarpolitik verfolgt werden. Internationale Faktoren können allerdings die Rahmenbedingungen nationaler Politik erheblich beeinflussen, beispielsweise in der Außenwirtschaftspolitik, bei der Festlegung von Zöllen sowie bei Subventionen. Diese Aspekte werden in internationalen Foren ausgehandelt. Ärmere Länder haben keine ausreichenden Kapazitäten, bei solchen Verhandlungen eigene Anliegen durchsetzen zu können. Daher kommt es vermehrt zu Governance-Situationen, die als »Zonen gemischter Governance« bezeichnet werden können, da die Rahmenbedingungen von Politikgestaltung sowohl von internationalen als auch nationalen Rahmenbedingungen beeinflusst werden. Hinzu kommen oft noch lokale Einflussfaktoren. In vielen Problemkontexten führen solche Zonen gemischter Governance dazu, dass es zu einem Verweissystem für Verantwortlichkeiten kommen kann: Die politisch einflussreichen Akteure im nationalen Kontext verweisen auf die Bedeutung der WTO oder anderer internationaler Rahmenbedingungen und lehnen eine Verantwortungsübernahme für negative Politikergebnisse ab. Internationale Akteure verweisen auf die Bedeutung nationaler Rahmenbedingungen bzw. nationale und internationale Akteure verweisen auf Marktdominanz, den Einfluss privater Akteure etc. Opfer von Menschenrechtsverletzungen erleben deshalb oft in einem solchen Verweissystem eine »organisierte Verantwortungslosigkeit«.

Die L'Aquila Food Security Initiative, die auf dem G8-Gipfel 2009 ins Leben gerufen und seither durch die G8 und weitere Geber, durch internationale Organisationen und eine Reihe von Partnerländern getragen wurde, hat in beträchtlichem Umfang neue und zusätzliche Finanzmittel mobilisiert. Verschiedene bilaterale Geber, nicht nur Deutschland, haben in den letzten Jahren ihre Unterstützungsangebote in strategischer und finanzieller Hinsicht erheblich ausgeweitet. Die EU-Kommission hat in ihrem 11. Europäischen Entwicklungsfonds für die Jahre 2014 bis 2020 den Programmen für ländliche Entwicklung und Ernährungssicherung die größte Priorität und das größte Finanzvolumen zugewiesen. Alle diese Hilfeleistungen sind extrem wichtig, wenn es darum geht, Innovations- und Reformpotenziale zu erschließen. Sie können jedoch nur unterstützenden Charakter haben und stellen keinen Ersatz für Eigenanstrengungen und Eigenverantwortung der Partnerländer dar. »Ownership« dieser Länder unter breiter Partizipation ihrer Zivilgesellschaft, die Eingliederung von Geberleistungen in die selbstverantworteten Programme der Partner sowie die gegenseitige Rechenschaftspflicht von Gebern und Nehmern gelten als zentrale Prinzipien einer »Partnerschaft auf Augenhöhe«, die in der Praxis zunehmend erprobt und erfolgreich angewendet werden.

Bisher nicht befriedigend gelöst ist die Problematik von Lebensmittelspekulationen und ihrem Einfluss auf die Ernährungssicherung. Bislang hat sich kein wissenschaftlicher Konsens herausgebildet, demzufolge der preisverzerrende Einfluss von Lebensmittelspekulationen zweifelsfrei bewiesen werden kann (vgl. Kap. 2.2). Aber ebenso fehlt der Beweis, dass entsprechende Spekulationen im Blick auf mögliche Preisverzerrungen und dadurch bedingte Verschärfung von Hungersnöten völlig unwirksam sind. Solange dieser wissenschaftliche Dissens besteht, sollten sich Regulatoren und Marktbeteiligte am Vorsorgeprinzip orientieren und mit äußerster Vorsicht agieren: Gegenmaßnahmen wären z. B. die Wiedereinführung von Positionslimits an den Warenterminmärkten, Begrenzung des Handels von Investmentfonds und des Eigenhandels, Einführung einer Finanztransaktionssteuer auf Rohstoffterminhandel sowie die Formulierung von Leitlinien und die Zurückhaltung von Anlegern, Banken und Vermögensverwaltern bei der Geldanlage an den Nahrungsmittel-Terminmärkten. Die Beweislast sollte daher aus unserer Sicht umgekehrt werden.

5.1.2 Menschenrechtsbasierte Governance

Die Menschenrechte im Allgemeinen und das Recht auf angemessene Nahrung im Besonderen bieten die Chance, die Verantwortlichkeiten der verschiedenen Akteure präzise zu benennen und damit Lösungsmöglichkeiten für Konfliktsituationen zu finden. Die Nationalstaaten sind verpflichtet, sich zuerst und besonders für benachteiligte Gruppen einzusetzen. Dabei müssen sie die Rechte dieser Bevölkerungsgruppen achten und nicht durch eigene Politikmaßnahmen schädigen. Sie müssen ihrer Schutzfunktion nachkommen und Dritte, vor allem wirtschaftlich mächtige Gruppen und Akteure, so überwachen, dass sie nicht zu Menschenrechtsverletzungen beitragen. Im Bereich der Agrarinvestitionen wird es nötig sein, neue Akteure und neues Kapital einzubinden. Umso wichtiger ist es, dass Investoren klare Vorgaben haben und hierfür zur Verantwortung gezogen werden können. Die Regierungen sind zudem aufgefordert, die verfügbaren Ressourcen bevorzugt für besonders benachteiligte Gruppen einzusetzen. Dabei müssen in der Regel mehr Mittel für ländliche Entwicklung ausgegeben werden als bisher. Zentral wird dabei sein, dass die Mittel so eingesetzt werden, dass die Einkommen gerade dieser Gruppen steigen.

Die Verpflichtungen aus den Menschenrechten beziehen sich nicht nur auf die Auswirkungen nationaler Politik, sondern auch auf die internationalen Auswirkungen verschiedener Politikfelder von Agrar- bis Außenwirtschaftspolitik. Dies betrifft sowohl die Auswirkungen europäischer Agrar- und Fischereipolitik als auch die Investitionen von Staatsinvestitionsfonds aus den Golfstaaten in Afrika oder die Förderaktivitäten brasilianischer Entwicklungszusammenarbeit in Mosambik oder Angola.

Eine andere Berufungsebene für das Einklagen einer konsistenten externen Politik gegenüber den Entwicklungsländern sind die verschiedenen VN-Beschlüsse und internationalen Verträge, die unterschiedliche Verbindlichkeiten und Durchgriffsweiten haben. Zur Welternährung sind vor allem das Ziel 1 der MDGs (Halbierung des Anteils der Armen und der Hungernden) als »überwölbendes Ziel« und das Recht auf Nahrung als eines der WSK-Menschenrechte [125] zu nennen. Im Rahmen der im Juni 2011 im Menschenrechtsrat verabschiedeten VN-Leitprinzipien zum Thema Wirtschaft und Menschenrechte werden die Verantwortlichkeiten von Unternehmen für die Vermeidung von Menschenrechtsverletzungen und deren Umsetzung beschrieben. Unternehmen sollen in ihrem gesamten Geschäftsbereich mit der gebotenen Sorgfalt sicherstellen, dass eigene Aktivitäten nicht zu Verletzungen beitragen. Alle Akteure sollen sicherstellen, dass sie die in ihrem Bereich anfallenden Verantwortlichkeiten in den Blick nehmen und für ihr Handeln auch zur Verantwortung gezogen werden können. Beispielhaft ist dies in den im Mai 2012 verabschiedeten »Freiwilligen Leitlinien für die verantwortungsvolle Verwaltung von Boden- und Landnutzungsrechten, Fischgründen und Wäldern« [126] gelungen. Sie sind das erste globale völkerrechtliche Instrument, das den sicheren und gerechten Zugang zu natürlichen Ressourcen regelt und sich damit auch mit problematischen Landinvestitionen, dem »Landgrabbing«, befasst. Diese Leitlinien beschreiben im Detail, was die Umsetzung einer menschenrechtsorientierten Land- und Bodenpolitik von Regierungen, aber auch von privaten Akteuren verlangt und können damit ein zentraler Standard sein, um beispielsweise bei Agrarinvestitionen sicherzustellen, dass Menschen in ländlichen Regionen in ihrer bisherigen Landnutzung nicht übergangen werden. Investitionen sind notwendig, sie sollen aber so realisiert werden, dass sie den Menschen in den Regionen nutzen und keinen Schaden anrichten.

5.1.3 Empfehlungen zu Governance-Strukturen

In ihrer Studie »Auf dem Weg der Gerechtigkeit ist Leben. Nachhaltige Entwicklung braucht Global Governance« hat sich die Kammer der EKD für nachhaltige Entwicklung dafür ausgesprochen, Parallelstrukturen zu überwinden und die Vereinten Nationen gegenüber der so genannten Club-Governance (G7/8 und G20) zu stärken. Fernziel soll ein »Global Council für soziale, ökologische und wirtschaftliche Fragen« sein, der weltweit eine menschenrechtsbasierte nachhaltige Entwicklung vorantreibt. Dieser Global Council könnte durch eine Neugründung entstehen oder aus einem Transformationsprozess, in dem sich der Weltwirtschafts- und Sozialrat der Vereinten Nationen (ECOSOC) und die G20 reformieren und fusionieren.

Den Kampf gegen den Hunger soll das 1974 geschaffene und in den letzten Jahren reformierte Committee on World Food Security (CFS) koordinieren, das jedoch noch weiter gestärkt werden muss. Sowohl die Weltbank als auch die G7-Staaten sollten die Führungsrolle des CFS in Fragen der Sicherung der Welternährung anerkennen und nicht durch unabgestimmte eigene Initiativen konterkarieren [127].

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