Das rechte Wort zur rechten Zeit

Eine Denkschrift des Rates der EKD zum Öffentlichkeitsauftrag der Kirche, 2008, Hrsg. Gütersloher Verlagshaus, ISBN 978-3-579-05906-8

5. Unter welchen gesellschaftlichen Bedingungen spricht die Kirche?

  1. Der "Pluralismus" [23], in den hinein kirchliche Äußerungen "sprechen", ist von einer bloßen gesellschaftlichen "Vielfalt" (Pluralität) zu unterscheiden. Für unseren Zusammenhang empfiehlt es sich, den Begriff "Pluralismus" in seiner grundsätzlichen, weltanschaulichen Bedeutung zu verwenden. Als solcher bezeichnet er den gesellschaftlichen Zustand, in dem es (zumindest als Möglichkeit) eine Mehrzahl weltanschaulich-religiöser Ausrichtungen und Orientierungen gibt, die durch fundamentale Differenzen voneinander unterschieden sind und deshalb nicht in einer umfassenden oder höheren Einheit aufgehoben werden können.
  2. Pluralistische Gesellschaften stehen vor der Aufgabe, trotz solcher grundlegender weltanschaulich-religiöser Differenzen für ein friedliches bzw. gedeihliches Zusammenleben und -arbeiten zu sorgen. Die Verfassung und die aus ihr abgeleiteten gesetzlichen Bestimmungen dienen dem Ziel, die dafür notwendigen rechtlichen Rahmenbedingungen zu schaffen.
  3. Aus kirchlicher Sicht ist ein solcher durch Verfassung und Gesetze ermöglichter Pluralismus grundsätzlich zu bejahen. Andernfalls wäre als Vorzeichen vor kirchlichen Stellungnahmen zu gesellschaftlichen Fragen stets mitzuhören, dass die Gesellschaft eigentlich eine ganz andere sein sollte, als sie faktisch ist. Solche Äußerungen nähmen dann leicht die Form einer Glorifizierung früherer (angeblich intakter) Verhältnisse und einer Klage über die zwischenzeitlich eingetretenen Veränderungen an. Die Pluralismusfähigkeit kirchlicher Äußerungen schließt solche Larmoyanz aus, die zudem meist mit unangemessenen Idealisierungen und Wahrnehmungsverzerrungen einhergeht. Das entscheidende theologische Argument für die Bejahung des Pluralismus liegt in der für das evangelische Christentum grundlegenden Erkenntnis, dass Menschen nicht über das verfügen, was bzw. woran sie glauben, sondern dass ihnen ihr Glaube durch das zuteil wird, was ihnen als glaubwürdig begegnet. [24] Deshalb muss die religiöse Überzeugung jedes Menschen respektiert werden, soweit diese den Respekt gegenüber anderen Glaubensüberzeugungen ebenfalls einschließt. Die Bejahung des gesellschaftlichen Pluralismus ist insofern eine Konsequenz der Religions- und Glaubensfreiheit. Religions- und Glaubensfreiheit sind die Grundlage für eine Toleranz, die die Möglichkeit der Kritik und Auseinandersetzung in Fragen der Religion nicht aus-, sondern einschließt.
  4. Im Blick auf die Frage nach der Vielfalt innerhalb der evangelischen Kirche selbst ist die begriffliche Unterscheidung zwischen Pluralität und Pluralismus ebenfalls hilfreich. Die legitime, sachgemäße Pluralität in Kirche und Theologie gründet in der Vielfalt, wie sie im biblischen Zeugnis als einer Mehrzahl von Perspektiven auf das Heilshandeln Gottes angelegt ist. Dabei handelt es sich nicht um einen religiösen oder weltanschaulichen Pluralismus, im Sinne eines Nebeneinanders unvereinbarer Positionen, die nicht aus einer höheren Gemeinsamkeit abgeleitet oder in ihr aufgehoben werden können. Deshalb wäre die Rede von einem legitimen Pluralismus innerhalb der evangelischen Kirche und auch der evangelischen Theologie ganz unangemessen, weil damit die durch den gemeinsamen Glaubensinhalt gegebene Einheit der evangelischen Kirche und Theologie in Frage gestellt würde.
  5. Die evangelische Kirche und die evangelische Theologie setzen sich bewusst den Fragen ihrer Zeit aus. Sie bleiben deshalb von Strömungen und Einflüssen der pluralistischen Gesellschaft nicht unberührt. Insoweit gibt es in ihnen auch zahlreiche Entsprechungen zu der Vielfalt unterschiedlicher ­ etwa politischer ­ Richtungen und Ziele in der Gesellschaft. Aber in Treue zu dem der Kirche Jesu Christi gegebenen Auftrag kann die evangelische Kirche nicht zum Spiegelbild der pluralistischen Gesellschaft werden (wollen): Sie verlöre sonst ihre Identität und damit die Chance, als Überzeugungsgemeinschaft dieser pluralistischen Gesellschaft eine klare Orientierung anzubieten.
  6. Gelegentlich wird die Auffassung geäußert, in der Gesellschaft vertretene Positionen dürften nur dann von Seiten der evangelischen Kirche kritisiert oder in Frage gestellt werden, wenn diese Positionen nicht auch innerhalb des kirchlichen und theologischen Meinungsspektrums auftauchen. Eine solche Selbstbeschränkung würde aber zu einer unvertretbaren Selbstblockade führen. Das, was daran (auch zur Vermeidung von Doppelzüngigkeit) richtig ist, muss in umgekehrter Hinsicht berücksichtigt werden: Wenn kirchliche Äußerungen bestimmte Positionen oder Trends in der Gesellschaft kritisieren, haben sie auch deren Vorhandensein innerhalb der eigenen Kirche einer Kritik zu unterziehen.
  7. Auch und gerade angesichts des weltanschaulich-religiösen Pluralismus ist es der Auftrag der Kirche, das Evangelium von Jesus Christus so klar und einladend wie möglich zu verkündigen in der Hoffnung und Zuversicht, dass Gott durch seinen Geist diese Verkündigung beglaubigt und Menschen dadurch zum Glauben und zur Gemeinschaft der Glaubenden, also zur Kirche hinzukommen.
  8. Statt in der Begegnung mit dem gesellschaftlichen Pluralismus der Versuchung zu erliegen, sich entweder selbst als eine pluralistische Größe darzustellen oder im Gegensatz zur Gesellschaft als eine monistische bzw. fundamentalistische Kirche zu präsentieren, steht die Kirche nach evangelischem Verständnis stets vor der Aufgabe, sich als identifizierbare und zugleich vielfältige, profilierte, wache, sensible und gerade so pluralismusfähige Kirche zu erweisen.
  9. An kirchlichen Äußerungen zu gesellschaftlichen und politischen Fragen sollte erkennbar sein, dass sie die pluralistische Situation, bezogen auf das Thema, mit dem sie sich befassen, ernsthaft zur Kenntnis genommen haben und sich damit argumentativ auseinandersetzen. Wenn kirchliche oder theologische Äußerungen sich dabei auf Sachverhalte beziehen, zu deren professioneller Bearbeitung fachspezifische Kenntnisse erforderlich sind, die zwar in der Regel einzelnen fachkundigen Mitgliedern der Kirche, aber nicht der Kirche und Theologie aus ihren eigenen Quellen zur Verfügung stehen, ist Zurückhaltung und eine hypothetische Redeform geboten ("Wenn das und das der Fall ist, dann ist dazu aus kirchlicher Sicht das und das zu sagen"). Damit sinkt nicht der Verbindlichkeitsanspruch solcher Äußerungen, aber es wird deutlich, von welchen Voraussetzungen seine Geltung abhängt. Evangelische Kirche und Theologie nehmen dadurch ihre Rolle als Partner in einem öffentlichen gesellschaftlichen Diskurs ernst und machen sie auch für andere erkennbar.
  10. Pluralismusfähige Äußerungen der Kirche begeben sich in einen Wettbewerb und Streit um die Gestaltung unserer Gesellschaft im Interesse der Suche nach Lösungen, die dem Leben in Gegenwart und Zukunft dienen und dabei auch Lehren aus der Geschichte zu beherzigen versuchen.
  11. Pluralismusfähigkeit hat sich schließlich heute auch im Ernstnehmen einer zunehmenden Ausdifferenzierung der Denk-, Sprach- und Wahrnehmungsstrukturen, Erwartungshaltungen, Lebensformen und -stile zu erweisen. Diese Ausdifferenzierung zeitigt auch Folgen für das Maß an gesellschaftlichem Konsens und Dissens über gemeinsame Werte. Zutreffend ist daher häufig von verschiedenen "Öffentlichkeiten" die Rede. Was in einer Öffentlichkeit als erträglich gilt und individuellem Ermessen anheim gestellt wird, wird in einer anderen Öffentlichkeit als eklatanter Verstoß gewertet und verurteilt. Jede Öffentlichkeit hat die Tendenz, auf ihren eigenen Normen und Spielregeln zu beharren.
  12. Gleichzeitig ­ in einer Zeit auch der Herausforderung durch das dichtere Neben-, im besseren Fall: Miteinander nicht nur der Konfessionen, sondern auch Religionen ­ sind Anzeichen für ein wachsendes Bedürfnis nach Verlässlichkeit, Verwurzelung und Beheimatung zu beobachten. Dieses Bedürfnis wird auch genährt durch die medial vermittelte Darstellung globaler Gefährdungen: die Bedrohung durch den internationalen Terrorismus, durch Klimawandel und Naturkatastrophen, durch den demografischen Wandel, durch Technologien, die vermeintlich oder tatsächlich unwägbare Risiken nach sich ziehen. Die Beschreibung und Diskussion solcher Gefahren hat Hochkonjunktur. Inmitten ihres Pluralismus verbindet die Öffentlichkeiten eine tief greifende Verunsicherung, die das Bedürfnis nach Perspektiven, Wegen und Ausdrucksformen der Vergewisserung verstärkt und eine Vielzahl gemeinsamer und individueller Rituale hervorruft.
  13. Pluralismusfähigkeit bedeutet deshalb heute verstärkt die Suche nach dem, was individuell und gemeinsam trägt
    und zusammenhält als theologisch-kirchliche, insbesondere seelsorgliche und ethische, sowie als gesamtgesellschaftlich-politische Herausforderung ­ bei gleichzeitiger Bejahung der Möglichkeit und Wirklichkeit des gesellschaftlichen Pluralismus.
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