Hg. Martin Affolderbach und Inken Wöhlbrand, 8. neubearbeitete Auflage

Hg. Martin Affolderbach und Inken Wöhlbrand, 8. neubearbeitete Auflage

2. Teil: Islam – Geschichte und Gegenwart

8. Einheit und Vielfalt im Islam (S. 108 – 112)

Im Islam gibt es wie in allen Weltreligionen Strömungen und Gruppierungen, die sich sowohl theologisch als auch politisch und sozial unterscheiden. Bilder von einem einheitlichen, monolithischen Islam entsprechen nicht der Realität. Muslime leben in unterschiedlichsten ethnischen Gruppen, Kulturen und Sprachräumen.

Der Islam versteht sich, ungeachtet dieser großen Verschiedenheiten, als eine einheitliche und allumfassende Gemeinschaft (umma). Muhammad betrachtete die Aufsplitterungen im Christentum des 6. Jahrhunderts als Zeichen für den Abfall von der ursprünglichen Botschaft; im Koran werde dagegen zur Einheit aufgerufen: „Und haltet allesamt am Seil Gottes fest und spaltet euch nicht (in verschiedene Gruppen).“ (Sure 3,103) Die arabische Sprache, in der der Koran verfasst ist, das Pflichtgebet und die Riten der Wallfahrt nach Mekka (hadjj) verbinden die Muslime weltweit.

Nach Muhammads Tod führten Konflikte um seine Nachfolge zu Gruppenbildungen, die bis heute fortwirken. Die große Mehrheit der Muslime sind Sunniten, weshalb auch diese Darstellung weitgehend die sunnitischen Auffassungen wiedergibt, sofern nichts anderes vermerkt ist. Muslime haben trotz der Aufgliederung in Rechtsschulen (s. Kapitel 5) und anderen Gruppen, etwa sufische Ordensgemeinschaften, ein Zusammengehörigkeitsgefühl bewahrt. Die Schiiten, ca. 10 bis 20 Prozent der Muslime, sind der Überzeugung, dass nach dem Tod Muhammads Ali als sein nächster Verwandter und Träger seines Charismas sein legitimer Nachfolger sei.

Daneben existieren viele weitere kleinere Gruppen. Sehr früh bildete sich die Gruppe der Kharidjiten und der Ibāditen. Die Mu’taziliten betonten den freien Willen des Menschen, die Ash’arīten die begrenzte Verantwortlichkeit des Menschen. In der Auseinandersetzung mit der Moderne formten sich weitere ideologische und politische Richtungen und Gruppierungen, auch über die Grenzen traditioneller Rechtsschulen und Strömungen hinweg. Die mittelalterlichen Almohaden in Nordafrika und Spanien oder die Wahhabiten im heutigen Saudi-Arabien geben Beispiele für Intoleranz gegen andere Muslime und Nichtmuslime.

Trotz der im Islam bestehenden theologischen und kulturellen Unterschiede ist für Muslime die Einheit der umma vorgegeben und nicht erschütterbar. Die Vielfalt birgt einen Reichtum, war und ist aber auch Grund für Spannungen und Konflikte.  

9. Die Schiiten (S. 113 – 121)

Die Schiiten haben ihren Ursprung in der Auseinandersetzung innerhalb der islamischen Gemeinschaft um die Frage, wer nach dem Tod Muhammads im Jahr 632 sein legitimer Nachfolger ist. Sie glauben, dass Ali, der Vetter und Schwiegersohn Muhammads, der von Gott bestimmte Kalif sei. Aufgrund dessen wurden sie von den Sunniten als Partei Alis (sī‘at Ali) bezeichnet.

Ali konnte nur kurze Zeit das Kalifenamt ausüben, da er schon 661, nach nur fünfjähriger Amtszeit, ermordet wurde. Seine Söhne Hasan und Husain konnten sich als Nachfolger nicht durchsetzen. Die Ermordung Husains und seiner Angehörigen im Jahre 680 bezeichnet heute für die Schiiten die endgültige Trennung von der Mehrheit der Sunniten.

Die Schiiten unterschieden sich in einem wesentlichen Glaubensprinzip von den Sunniten, nämlich der Rolle der (zwölf) Imame der islamischen Frühzeit und der Bedeutung des Imamats. Anders als im sunnitischen Islam, in dem der Imam (vom Arabischen amāma „vorne“) die Rolle eines Vorbeters einnimmt, werden Ali und seine Nachfolger als Imame bezeichnet und als sündlos und unfehlbar angesehen. Entscheidend für die meisten Schiiten war die Abfolge der Imame in der geraden, dynastischen Linie. Diese Hauptgruppe verehrt zwölf Imame und wird daher auch die Zwölfer-Schiiten (oder Imamiten) genannt.

Wegen der nie endenden Verfolgungen wanderte die Mehrheit der Schiiten aus den islamischen Stammländern in Randgebiete aus, vor allem in die Berge des Libanon, in den Süden des Irak und in den Iran. Im schiitischen Islam bildete sich vor allem im 19. Jahrhundert eine Art „Klerus“ heraus, eine Schicht von theologischen Rechtsgelehrten (Ayatollahs und Groß-Ayatollahs).

Im Iran scheiterte der Versuch von Schah Mohammed Reza Pahlavi, den Einfluss des Klerus zurückzudrängen, und führte zur Revolution von 1979 und der Gründung der Islamischen Republik mit dem Konzept der Wilāyāt-i Faqīh, der Herrschaft des bestqualifizierten religiösen Gelehrten.

Besonders im Schiitentum ist es zu immer neuen Abspaltungen gekommen (so der Abspaltung der Zaiditen oder Fünfer-Schiiten, der Ismailiten oder Siebener-Schiiten und der Agha Khan-Ismailiten). Sunniten haben nicht nur wegen der Vielfältigkeit der schiitischen Richtungen gegenüber den Schiiten große Bedenken, sondern vor allem wegen der schiitischen Sonderlehre über das Imamat und den darin eingeschlossenen Anspruch auf Führerschaft im Islam.

10. Mystik und Sufismus (S. 122 – 131)

Der Sufismus ist die islamische Form der Mystik, der es um die Verinnerlichung des Glaubens geht. Er versteht sich als unmittelbare „Botschaft des Herzens“. Das Wort Sufi leitet sich von den arabischen Worten sūf und safa (sich in Wolle kleiden und nach Reinheit vor Gott streben) her. Mystiker sehen ihr ganzes Leben als Weg (tarīqa) zur Einheit mit Gott. Sie finden ihren Weg schon im Koran vorgegeben, etwa in der Aufforderung, dass man sich von denen abwenden soll, die nicht an Gott und seine Weisung denken (Sure 53,29).

Der Sufi erkennt in Muhammad den durch keine menschliche Lehre irregeleiteten, von Gott her bestimmten „vollkommenen Menschen“, einen „Freund Gottes“, der auf dem rechten Pfad zu Gott ist. Darum legt jeder Ordensgründer und Führer unter den Sufi Wert darauf, dass er mit seinem je besonderen Weg in der Tradition Muhammads steht.

Mit der Gründung des Qadiriyya-Ordens im Jahr 1135 begann für die mystische Bewegung eine Phase, in der sich immer mehr Schülergruppen um geachtete Sufi-Meister zu Bruderschaften und festen Orden zusammenschlossen. Im Leben der Orden sind neben den Ordensgründern auch ihre Nachfolger, Scheich oder Pir genannt, und deren Beauftragte (Kalifen) von größter Wichtigkeit. Nicht nur die Anfänger sind ihnen gegenüber „Schüler“ (murīd), sondern alle Mitglieder. Im unbedingten Gehorsam gibt der Schüler sein eigenes Sein nacheinander in das des Scheichs, dann des Ordensgründers, dann Muhammads hinein auf, um sich schließlich in Gott zu verlieren (fanā’).

Die Kraftquelle auf dem mystischen Weg ist das ständige Gedenken an Gott (dhikr). Jeder Muslim übt dieses im rituellen Gebet. Aber der Mystiker geht über die reine Pflichterfüllung hinaus, indem diese Haltung sein ganzes Leben umfasst.

Viele Muslime führen das Dhikr als „stille Versenkung“ (dhikr khāfi) durch. Unbemerkt von ihrer Umgebung konzentrieren sie sich mitten im Alltag auf das Gott-Gedenken, damit sie in ihrem gesamten Tun auf Gott ausgerichtet handeln.

Seit Beginn des 20. Jahrhunderts hat die islamische Mystik auch im Westen Fuß gefasst. Aus der großen Vielfalt der Orden können die Nakschibandi als stärkste Gruppe in Deutschland sowie die Süleymancilar, durch die der Verband der Islamischen Kulturzentren (VIKZ) geprägt ist, genannt werden. Der Burhaniya-Orden sowie die Qadiri, Rifa’i, Darqawi und Mevlevi sind zahlenmäßig kleiner, haben aber eine beträchtliche geistliche Ausstrahlung.

11. Weitere Gruppen (S. 132 – 139)

Es gibt zahlreiche Strömungen und Richtungen, die sich aus dem Islam entwickelt haben. Diese werden allerdings oft von der großen Mehrheit der Muslime abgelehnt.

Die Drusen leben im Dreiländereck Libanon, Syrien und Israel/Palästina. Ihre Gemeinschaft ist eine Sonderform der schiitischen Isma’iliten. Den Drusen gilt der fatimidische Kairoer Kalif al-Hakim (996-1021) als Inkarnation des höchsten Wesens. Die Drusen bilden eine in sich geschlossene, isolierte Gemeinschaft, die eigene Sitten und Gebräuche entwickelt hat und ihre Lehren geheim hält.

Die Nusairier/Alawiten haben ihre Anfänge im ausgehenden 8. Jahrhundert unter Schiiten im Irak. In den Gebirgen des Libanon und nordwestlichen Syriens fanden sie Rückzugsräume. Ihre Religion hat Züge einer Geheimreligion und ähnelt darin dem Drusentum. In neuerer Zeit nennen sie sich Alawiten (nicht zu verwechseln mit den Aleviten), um ihre Zugehörigkeit zum Islam zu betonen.

Die türkischen Aleviten, die ihre Ursprünge im Mittelalter haben, verbindet mit ihren arabischen Namensvettern, den Alawiten, ihre starke Verehrung Alis als Erscheinung des Göttlichen. Sie verehren ihn als die alles überstrahlende Offenbarung des „vollkommenen Menschen“, in dem Gott im Menschen weilt und der Mensch in Gott. Im 20. Jahrhundert gab es aus politischen Gründen auch vorsichtige Versuche zu theologischen Brückenschlägen. Ob das Alevitentum als Teil des Islam zu verstehen ist, ist auch unter Aleviten selbst strittig. Die Aleviten kennen keine Moscheen, sondern halten ihre Versammlungen in Gemeinschaftshäusern (cem evleri) ab, in denen nicht streng nach Männern und Frauen getrennt wird. In der Lehre sind mystische Elemente und eine vernunftgemäße Ethik stark ausgeprägt.

Endzeitliche Erwartungen mit der Hoffnung auf einen kommenden Retter oder Erneuerer, den Mahdi, führten von den Anfängen des Islam bis in die Neuzeit zur Bildung von Mahdi-Bewegungen, so in Marokko, im Iran und im Sudan.

Auch die Ahmadiyya-Bewegung, die gegen Ende des 19. Jahrhunderts im heutigen Pakistan entstand, ist eine mahdistische Gruppierung mit dem Anspruch, den wahren Islam zu repräsentieren. Sie ist stark missionarisch, friedfertig, vertritt aber einen religiösen Exklusivitätsanspruch gegenüber allen Religionen und kennt die Sonderlehre vom Schicksal Jesu, der die Kreuzigung überlebt haben und nach Kaschmir gewandert sein soll.

12. Religion, Staat, Gesellschaft (S. 140 – 151)

Für den Islam gehören Religiöses und Politisches, Geistliches und Weltliches eng zusammen. Allgemein gilt die erste muslimische Gemeinde in Medina als Vorbild mit Muhammad als Propheten und anerkanntem politischen Führer. Das Gemeinwesen stand jedoch unter dem Schutz Gottes, der als das eigentliche Oberhaupt zu gelten hatte. Zugleich spielte die gemeinsame Beratung (shūra) des Propheten mit den Muslimen eine Rolle, an das ein modernes islamisches Demokratieverständnis anknüpft. Die Kalifen galten als Muhammads Nachfolger, freilich nicht in seinem Amt als Prophet und Übermittler der göttlichen Offenbarung. Sie hatten vielmehr den Auftrag, die Gemeinde zu leiten und zu verteidigen, ihre Einheit sichtbar zu machen und das göttliche Recht in ihr zu wahren und durchzusetzen. Das Kalifat hat im Lauf der Jahrhunderte an Bedeutung verloren.

Der Islam ist eine umfassende, alle Lebensbereiche ordnende, gemeinschaftliche und öffentliche Religion. Die Muslime werden im Koran angeredet als „die beste Gemeinschaft, die je unter den Menschen hervorgebracht worden ist. Ihr gebietet das Rechte und verbietet das Verwerfliche und glaubt an Gott.“ (Sure 3,110) Ein Regierungssystem wird darum nur solange als islamisch anerkannt, wie es die verpflichtenden Prinzipien hoch hält, die im Koran und in der Sunna niedergelegt sind. Die Sunna bildet neben dem Koran die Grundlage des islamischen Rechts.

Traditionell ordnet der Islam die Bürger im islamischen Staat in drei abgestufte Kategorien, wobei „Schriftbesitzern“ eine besondere Stellung eingeräumt wird. Den Anhängern polytheistischer Religionen lässt der Islam in der islamischen Gemeinschaft grundsätzlich keinen Platz.

Das arabische Wort djihād (Dschihad), oft mit „Heiliger Krieg“ übersetzt, bedeutet von der Wortwurzel her „eifernde Anstrengung“, nämlich „auf dem Weg“ oder „für die Sache Gottes“ (djihād fi-sabīli llāh). Der Begriff kann schon im Koran sowohl das friedliche Bemühen um als auch die kriegerische Auseinandersetzung zur Ausbreitung und Umsetzung des islamischen Glaubens bedeuten. Die islamische Mystik hat den Begriff des Dschihad vergeistigt.

Die Aussage, der Islam sei dīn wa-daula, Religion und Staat zugleich, ist eine vor allem in der Neuzeit gebrauchte Formel. Sie kommt so weder im Koran noch in der klassischen Literatur vor, kann sich allerdings auf die Gestaltung des ersten islamischen Gemeinwesens in Medina durch Muhammad berufen.

13. Islam in der Moderne (S. 152 – 171)

Die Begegnung des Islam mit der westlichen Moderne fand unter ungünstigen Bedingungen statt. Sie erreichte ihren Höhepunkt, als die meisten islamischen Länder unter die Herrschaft europäischer Kolonialmächte oder zumindest in Abhängigkeit von ihnen geraten waren, das Osmanische Reich zusammenbrach und  das Kalifat abgeschafft wurde. Die Begegnung mit der weithin säkular geprägten Moderne rief im Islam unterschiedliche Reaktionen hervor.

Schon in der Frühzeit des Islam entwickelte sich in manchen Strömungen eine kompromisslose Haltung gegenüber allen Neuerungen (bid‘a). Die Rückkehr zum wahren Islam war im 18. Jahrhundert das Ziel von Muhammad ibn abd al-Wahhāb (1703-1787), dem Begründer der wahhabitischen Bewegung. Ähnliches vertritt auch die 1928 in Ägypten gegründete Muslimbruderschaft als eine der ersten organisierten Reformbewegungen.

Auf dem indischen Subkontinent nahmen die Reformbestrebungen andere Züge an. Ahmad Khan (1817-1898) und andere waren Freunde westlicher Bildung und Wissenschaft, zugleich aber Befürworter eines islamischen Staates. In Afghanistan und Pakistan fanden die Mudjahidin und Taliban in den 1980er Jahren westliche Unterstützung, wurden jedoch in der Folge der Terroranschläge des 11. September 2001 zum Hauptgegner im „Krieg gegen den Terror“. Die Bewegungen in der arabischen Welt 2011 zeigen, dass es auch in islamisch geprägten Ländern Potentiale zu mehr Freiheit und Partizipation gibt.

Teilweise wird die Meinung vertreten, dass dem Selbstverständnis des Islam die Staatsform einer Präsidialdemokratie am nächsten komme. Die exekutive Gewalt sei dabei von der judikativen Gewalt der Rechtsprechung zu trennen; denn der Islam kenne keine besondere Immunität des Herrschers.

Auch im Bereich der Koranauslegung hat es beharrende und fortschrittliche Richtungen gegeben. Teilweise werden Anknüpfungen an die hermeneutische Tradition des Westens gesucht, aber auch bekämpft. Ähnliches gilt für die Rechtstraditionen des Islam.

Seit dem 19. Jahrhundert wurden islamische Antworten auf Fragen von Wirtschaft und sozialer Verantwortung gesucht. Übereinstimmung herrscht darin, dass auch die Wirtschaft dem Anspruch islamischer Ethik unterworfen bleiben und das Wirtschaften dem Allgemeinwohl verpflichtet sein muss.

14. Verbreitung des Islam (S. 172 – 189)

Bereits für die Zeit nach der Migration Muhammads und seiner Anhänger nach Medina (hidjra) lassen sich erste Veränderungen in der Ausbreitungsdynamik des Islam feststellen. In Mekka war das Bekenntnis zum Islam vornehmlich Ausdruck einer individuellen religiösen Neuorientierung. In Medina dagegen trat der Beitritt von Gruppen zum Islam in den Vordergrund. In den letzten Jahren seines Wirkens schlossen sich immer mehr Beduinenstämme Muhammad aufgrund seiner kriegerischen Erfolge an.

Unter der Dynastie der Umayyaden (661-750 n. Chr.) kam es zu einer zweiten Eroberungswelle und Verlagerung des Machtzentrums nach Syrien, nach 750 n. Chr. unter den Abbasiden nach Bagdad. Bei den zahlreichen Eroberungswellen der Folgezeit ging es primär um die Ausbreitung islamischer Herrschaft und nicht um die Bekehrung der eroberten Bevölkerung.

Bereits vor der Jahrtausendwende war der Islam in große Teile Zentralasiens und Rußlands gelangt.

Die Zeit vor der christlichen Rückeroberung der iberischen Halbinsel 1492 wird oft als goldenes Zeitalter von al-Andalus und leuchtendes Beispiel islamischer Toleranz gegenüber nichtmuslimischen Gemeinschaften angeführt. Doch kam es selbst während dieser Phasen der Toleranz zu Spannungen und Konflikten mit nichtmuslimischen Minderheiten.

Der Eroberung von Byzanz 1453 folgte in dieser Region der Aufstieg des Osmanischen Reiches, das Anfang des 20. Jahrhunderts auf die Grenzen der heutigen Türkei zurückgedrängt wurde.

In einigen Teilen Afrikas verbreitete sich der Islam ohne vorherige militärische Eroberungen. Auch in Asien vollzog sich eine Ausbreitung vor allem über muslimische Händler, einheimische Herrscher und „Heilige“, zumeist Sufis. In Amerika ist der Anteil von Muslimen vergleichsweise gering.

In Südosteuropa gehören Muslime größtenteils alteingesessenen Völkern an, die sich meist zur moderaten hanafitischen Rechtsschule zählen. Die Muslime Bosnien-Herzegowinas bekennen sich unter ihnen am längsten zum Islam.

Nach dem Zweiten Weltkrieg wurden ausländische Arbeitskräfte nach Westeuropa angeworben, unter ihnen auch viele Muslime. Daneben sind durch Flüchtlingsbewegungen Muslime unterschiedlicher Nationalitäten nach Westeuropa gekommen, wo sie erst nach und nach religiöse, rechtliche und organisatorische Strukturen aufgebaut haben.

15. Islam in der Türkei (S. 190 – 202)

Die Türkei versteht sich als säkularer Staat und Mittlerin zwischen den Kulturräumen der westlichen und islamischen Welt. Mit keinem anderen islamischen Land pflegt Deutschland so intensive Beziehungen. Das türkische Modell des Verhältnisses von Staat und Religion hat zur Folge, dass Nichtmuslimen und nichttürkischen Ethnien in der türkischen Gesellschaft grundlegende Rechte vorenthalten werden.

In Istanbul begegnet man überall islamischer wie auch christlicher Geschichte. Bevor Sultan Mehmed der Eroberer die Stadt 1453 einnahm und zur Hauptstadt seines Reiches machte, war sie als Byzanz/Konstantinopel das christliche „Ost-Rom“ gewesen. Die christliche Vergangenheit der Türkei ist auch daran abzulesen, dass im ausgehenden Osmanischen Reich 20 Prozent der Bewohner des Landes Christen waren, heute nur noch 0,2 Prozent.

Mit der Niederlage im Ersten Weltkrieg brach das Osmanische Reich auseinander. Istanbul verlor seine Funktion als Hauptstadt. Mustafa Kemal „Atatürk“ („Vater der Türken“) erkämpfte einen neuen Nationalstaat auf dem Boden Kleinasiens. Der Ausbau von Ankara im Herzen Anatoliens zum Zentrum war Zeichen der Abkehr vom Staat der vielen Völker und Religionen. Neben dem türkischen Nationalismus proklamierte Atatürk den „Laizismus“ und schaffte das Kalifat, das Scheriat (das theokratische Gesetz neben dem bürgerlichen Recht) und die Institution des Scheich-ül-islam ab. Europa sollte als kulturelle Bezugsgröße etabliert werden, daher wurden Gesetze aus verschiedenen Ländern Europas übernommen.

Der Staat übt die Aufsicht über die Religion, den sunnitischen Islam, durch das Präsidium für religiöse Angelegenheiten (Diyanet Işleri Başkanlığı) aus, was faktisch einer Benachteiligung aller anderen Religionen gleichkommt. Auch die nach Deutschland entsandten Imame unterstehen dieser Behörde.

13,6 Prozent der Bevölkerung in der Türkei sind Aleviten. Christen sind in großen Zahlen abgewandert. Ihnen stehen in der Türkei zwar die bürgerlichen Rechte zu, den Kirchen wird jedoch kein Rechtsstatus gewährt. Die syrisch-orthodoxen Christen gerieten im Bürgerkrieg des Staates mit der kurdischen Untergrundbewegung PKK (Arbeiterpartei Kurdistans) zwischen die Fronten und verließen zu Tausenden ihre angestammte Heimat im Tur Abdin im Südosten der Türkei.

Seit 1999 ist die Türkei EU-Beitrittskandidat. Die Fortschrittsberichte der Union zeigen, dass Reformen insbesondere in der Kurdenpolitik, der Meinungs- und Religionsfreiheit, der Situation der Frauen und der nichtmuslimischen Minderheiten nur schleppend vorankommen.

16. Islam in Deutschland (S. 203 – 217)

Die ersten dauerhaft in Deutschland lebenden Muslime waren Kriegsgefangene aus der Zeit der Türkenkriege im 16. Jahrhundert. Die erste noch erhaltene Moschee in Deutschland wurde 1924 in Berlin eröffnet. In der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts erlebte Deutschland verschiedene Phasen der Zuwanderung, darunter auch von zahlreichen Muslimen. Die verschiedenen Motive der Zuwanderung und die unterschiedlichen Herkunftsländer sind Ursachen für die Vielfalt der Muslime in Deutschland, die sich nach nationaler, ethnischer und sprachlicher Herkunft unterscheiden und verschiedene Richtungen und Strömungen des Islam repräsentieren.

Fünfzig Jahre nach Beginn der Zuwanderung findet in vielen muslimischen Vereinen und Verbänden ein Generationenwechsel statt. Die dritte Generation verfügt über völlig andere Zugänge zur Teilhabe an der Gesellschaft als die in den 1960er Jahren zugezogene erste Generation. Die hier geborenen jungen Erwachsenen sind sowohl mit dem deutschen Rechts- und Bildungssystem als auch mit den Gewohnheiten und Traditionen der eigenen Familiengeschichte vertraut. Heute leben in Deutschland ca. 4 Millionen Muslime (so eine Studie der Deutschen Islam Konferenz 2009).

Da dem Islam Organisationsstrukturen nach Vereinsrecht oder analog zu den Strukturen der christlichen Kirchen fremd sind, war den Muslimen in Deutschland nicht wie selbstverständlich eine Lösung vorgegeben, um ihr religiöses Leben in Deutschland zu organisieren und zu repräsentieren. Dieses entwickelte sich erst im Laufe der zurückliegenden Jahrzehnte, indem sich Moscheegemeinden nach deutschem Vereinsrecht organisierten und zu Dachverbänden zusammenschlossen (seit 1973 der „Verband Islamischer Kulturzentren“ (VIKZ), seit 1984 die Türkisch-Islamische Union der Anstalt für Religion e.V. (Diyanet İşleri Türk İslam Birliği, DİTİB), seit 1986 der „Islamrat für die Bundesrepublik Deutschland“ und seit 1994 der „Zentralrat der Muslime in Deutschland“ (ZMD), die seit 2007 im „Koordinationsrat der Muslime in Deutschland“ kooperieren). 2010 gibt es ca. 2600 Moscheen in Deutschland.

Die Deutsche Islam Konferenz, initiiert und geleitet durch das Bundesministerium des Innern, bemüht sich um eine großflächige Etablierung islamischen Religionsunterrichts an Schulen und die Einrichtung von Islamischen Studien an deutschen Universitäten. Die Alevitische Gemeinde Deutschland (AABF) erfüllt seit 2004 die Voraussetzungen für die Erteilung eines alevitischen Religionsunterrichts.

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