Das rechte Wort zur rechten Zeit

Eine Denkschrift des Rates der EKD zum Öffentlichkeitsauftrag der Kirche, 2008, Hrsg. Gütersloher Verlagshaus, ISBN 978-3-579-05906-8

Einleitung

  1. "Ein Wort, geredet zu rechter Zeit, ist wie goldene Äpfel auf silbernen Schalen" heißt es im alttestamentlichen Buch der "Sprüche" (Sprüche 25,11). Ebenfalls aus der Tradition der Weisheit des Volkes Israel stammt der Hinweis: "Schweigen hat seine Zeit, Reden hat seine Zeit" (Prediger 3,7b). Diese biblischen Einsichten aus dem Alten Testament sind mit zu bedenken, wenn eine Kirche vorhat, sich zu äußern oder eben auch nicht. Redet sie, wo Schweigen geboten ist, verkommt ihr Reden leicht zum Geschwätz. Schweigt sie, wo Reden gefordert ist, bleibt sie etwas schuldig oder macht sich sogar schuldig. Es gilt also, sorgfältig zu unterscheiden, wann die evangelische Kirche sich ihrem Auftrag gemäß zu Wort melden muss oder darauf verzichten sollte, das Wort zu ergreifen. Dabei gilt: Jede kirchliche Äußerung - auch zu gesellschaftlichen und politischen Fragen - ist daran zu messen, ob sie zu einem verantwortungsbewussten Leben im Vertrauen auf Gott ermutigt.
  2. Der vorliegende Text ist die zweite Ausarbeitung einer Kammer der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD) zum Öffentlichkeitsauftrag der evangelischen Kirche. Bereits im Jahr 1970 waren "Aufgaben und Grenzen kirchlicher Äußerungen zu gesellschaftlichen Fragen" Gegenstand und Titel einer Denkschrift der Kammer für soziale Ordnung der EKD. Damals galt es vor dem Hintergrund eines sich verändernden gesellschaftlichen Bewusstseins, das sich mit studentischen Protesten und umfassenden Reformforderungen sowie mit einer völlig neuen Jugend- und Musikkultur konfrontiert sah, Kriterien für eine kirchliche Beteiligung am öffentlichen Diskurs und an gesellschaftlichen Entscheidungsprozessen zu formulieren. Beantwortet werden mussten die Fragen nach Legitimation und Legitimität, nach Anlass und Zeitpunkt, Form und Adressatenkreis kirchlicher Äußerungen zu politischen Fragen. Auch die Frage, worin Verbindlichkeit und Autorität solcher kirchlichen Äußerungen bestehen, wodurch sie begründet sind, wurde aufgegriffen. Dabei wurde als entscheidender Maßstab "für die Kirchlichkeit einer Äußerung ... allein deren Schrift- und Sachgemäßheit" [1] benannt und damit eine reformatorische Grundeinsicht sowohl gegen ideologische Vereinnahmung von außen als auch gegen innerkirchliche Beliebigkeit verteidigt.
  3. Die damalige Denkschrift skizzierte eine gleichermaßen theologisch und kirchlich verantwortete wie unter pragmatischen Gesichtspunkten hilfreiche Grundlage, um in der Folgezeit zu zentralen gesellschaftlichen und politischen Herausforderungen seitens der evangelischen Kirche Stellung zu nehmen. Exemplarisch zu erinnern ist an die "Demokratie-Denkschrift" (Evangelische Kirche und freiheitliche Demokratie - Der Staat des Grundgesetzes als Angebot und Aufgabe, 1985), die sich als wegweisend für ein aktives Engagement der Kirche in der und für die Demokratie erwies und die nach 1989/90 auch für die östlichen Gliedkirchen eine wichtige Grundlage für die Akzeptanz des demokratischen Gemeinwesens bot. In diesen Zusammenhang gehören auch die beiden Friedensdenkschriften von 1981 ("Frieden wahren, fördern, erneuern") und von 2007 ("Aus Gottes Frieden leben ­ für gerechten Frieden sorgen").
  4. Der Rat der Evangelischen Kirche in Deutschland hat im Jahr 2004 die Kammer für Öffentliche Verantwortung mit einer umfassenden Neubearbeitung der Thematik beauftragt, mit der sich die Denkschrift von 1970 befasst hatte. Sowohl die erheblich veränderte, vielfältiger gewordene Struktur und Gestalt gesellschaftlichen Lebens, als auch die seitdem gesammelten Erfahrungen mit unterschiedlichsten Prozessen gesellschaftlicher und politischer Kommunikation und Partizipation sind dabei zu berücksichtigen. Seit 1970 hat sich vieles verändert. Einiges davon wird hier knapp angedeutet:
    • Die Stabilität sozialer Milieus sinkt. Die Brüche zwischen den Generationen treten stärker hervor; Orientierung wird weniger bei Eltern und Älteren gesucht, aber auch seltener von ihnen angeboten.
    • Der Traditionsabbruch führt zu der Notwendigkeit, sich eigenständig um Halt und Orientierung zu bemühen: Manche werden so zu "kleinen Religionsstiftern" für sich selbst.
    • Die Vielfalt der Lebensmöglichkeiten erhöht die Chance, aber auch den Zwang zur Wahl und macht dadurch das Leben nicht immer einfacher.
    • Die Formen der Selbstorganisation in Initiativgruppen, Vereinen und Verbänden haben zugenommen. Beteiligungsstrukturen sind ausgeprägter geworden.
    • Zukunft wird weniger als "gute Aussicht", sondern eher als Bedrohung empfunden. Dadurch entstehen Ängste und Aggressionen, die das Gemeinwesen vor neue Herausforderungen stellen.
    • Weltweit wie regional sind die Auswirkungen der als "Globalisierung" bezeichneten Zunahme von Interdependenzen in wirtschaftlicher, politischer, sozialer und mentaler Hinsicht zu spüren.
    • Die durch die Globalisierung geringer gewordene Distanz zu anderen Weltanschauungen und Religionen führt zu einem Austausch, durch den Traditionen leichter übernommen oder energischer abgelehnt werden.
    • Migrationsbewegungen und weltanschauliche Veränderungen haben zu einem unübersehbaren Pluralitäts- und Pluralismusschub geführt.
    • Die elektronischen Medien haben sich rapide entwickelt; das Internet ist zu einem dominierenden Massenmedium der westlichen Welt bzw. der nördlichen Halbkugel geworden.
    • Das Gewicht bio- und medizinethischer Fragen, etwa im Blick auf Anfang und Ende des menschlichen Lebens, hat in der Öffentlichkeit erheblich zugenommen.
    • Überhaupt ist Ethik zu einem öffentlichen Thema geworden, zu dem nicht allein die Kirchen einen Beitrag leisten.
    • Religion wird in mehrfacher Hinsicht wieder zu einem großen Thema: Gefragt wird zum einen nach dem individuellen Halt und gesellschaftlichen Zusammenhalt, für den sie sorgen kann, aber auch nach der Gewalt, die im Zusammenhang mit einigen fundamentalistischen Strömungen erschreckend und leidvoll erfahren wird. Daneben gibt es Tendenzen, Religion möglichst ganz aus dem öffentlichen Leben zu verdrängen.
  5. Angesichts der skizzierten Beobachtungen muss es in dieser Schrift wie bereits 1970 darum gehen, Hilfestellungen dafür zu geben, dass grundsätzlich und im konkreten Einzelfall die geistliche Begründung, Berechtigung und Notwendigkeit sowie das Ziel und der Modus kirchlicher Äußerungen zu gesellschaftlichen und politischen Fragen geklärt werden können. Die genannten Veränderungen fordern die evangelische Kirche in ihrem Selbstverständnis und in ihrer Mitverantwortung für den öffentlichen Raum heraus.
    • So besteht angesichts des genannten Pluralitäts- und Pluralismusschubes Anlass, vom Auftrag der Kirche in der Welt her zu reflektieren, warum und inwiefern die evangelische Kirche sich äußern muss: Welchen Auftrag hat die Kirche?
    • Anschließend werden Autorschaft, Formen und Geltung kirchlicher Äußerungen zu gesellschaftlichen und politischen Fragen thematisiert: Wer spricht für die Kirche?
    • Daran anknüpfend werden drittens wesentliche Inhalte und Intentionen der Denkschriften benannt, die spezifisch wenngleich nicht ausschließlich ­ kirchlichen Stellungnahmen eignen und deren Proprium deutlich werden lassen: Wozu spricht die Kirche?
    • Viertens sind Adressaten und Rezeption kirchlicher Stellungnahmen zu bedenken: Zu wem spricht die Kirche?
    • Fünftens wird erörtert, welche Bedeutung der gesellschaftliche Pluralismus für kirchliche Stellungnahmen besitzt: Unter welchen gesellschaftlichen Bedingungen spricht die Kirche?
    • Sechstens werden Hinweise gegeben zu Form und Medien kirchlicher Stellungnahmen. Dabei werden die derzeit gängigen Kommunikationsmedien und deren besondere Gesetzmäßigkeiten dargestellt und gewürdigt: Wie spricht die Kirche?

Das rechte Wort zur rechten Zeit

Nächstes Kapitel