Unternehmerisches Handeln in evangelischer Perspektive

Eine Denkschrift des Rates der EKD, Hrsg. Gütersloher Verlagshaus, 2008, ISBN 978-3-579-05905-1

9. Fazit und Empfehlungen

Die Dynamik wirtschaftlicher Prozesse wird nicht abnehmen; ebenso wenig werden die Anforderungen an unternehmerisch Tätige zurückgehen. Um diesen Belastungen Stand zu halten, bedarf es gerade bei Verantwortlichen in der Wirtschaft gesteigerten ethischen Bewusstseins, klarer Orientierungen und Gebote sowie spiritueller Beheimatung. Alle gesellschaftlichen Institutionen sind gefordert, Menschen, die dazu bereit sind, zu verantwortlichem unternehmerischen Handeln zu befähigen.

  1. Ohne unternehmerisches Handeln kann keine moderne Gesellschaft überleben. Wir brauchen Menschen, die den Mut und die Vision haben, neue Industrie- und Dienstleistungsunternehmen aufzubauen, neue Produkte kreativ zu entwickeln und für sie Märkte zu erschließen. Die Motive hierfür sind verschieden ­ sie sind meist nicht nur materieller Art; vielmehr geht es um die Befriedigung eines kreativen Bedürfnisses, den Wunsch, etwas zu tun, was noch niemand zuvor getan hat, und damit menschliche Bedürfnisse zu stillen. Solches Unternehmertum leistet dem Gemeinwohl große Dienste und verdient deswegen über den wirtschaftlichen Gewinn hinaus soziale Anerkennung. Wenn solche Tätigkeiten mit beträchtlichen materiellen und immateriellen Risiken für den Einzelnen verbunden sind, rechtfertigt dies prinzipiell auch ein höheres Einkommen, das sich freilich auch vor den geringsten Lohngruppen rechtfertigen lassen muss.
  2. Die Anforderungen an unternehmerisch Tätige werden in der Zukunft nicht abnehmen. Die Notwendigkeit, in immer kürzerer Zeit neue Produkte und Dienstleistungen auf den Markt zu bringen und zu ihrer Erstellung Unternehmensabläufe beständig umzubauen und zu optimieren, bleibt auf Dauer bestehen. Entsprechend wachsen die Erwartungen nicht nur an Eigentümer und Manager sondern auch an Mitarbeiter- und Mitarbeiterinnen, sich selbst unternehmerisch zu begreifen und entsprechend zu verhalten ­ was auch die Übernahme von Risiken beinhalten kann, die den Einzelnen oft überfordern. Die damit einhergehenden Belastungen für alle Beteiligten lassen sich am besten in einer Kultur des Vertrauens auffangen, die unternehmensintern gelebt und auch nach außen weitergegeben wird.
  3. Freies unternehmerisches Handeln muss sich an ethische Grundsätze gebunden wissen, da es nur so seine Freiheit bewahren kann. Für Christen ist dabei die Bibel von zentraler orientierender Bedeutung. Deren Gleichnisse und Bilder, die dort beschriebenen Erfahrungen und gesammelten theologischen Reflexionen geben zwar keine unmittelbaren Handlungsanweisungen für wirtschaftliche Entscheidungen. Sie prägen aber die Grundperspektiven des Lebens und setzen Maßstäbe für den Beruf des Unternehmers. Das christliche Verständnis dieses freien Berufs kommt in der engen, unauflöslichen Beziehung von Freiheit und Verantwortung zum Ausdruck. Wer seine, von Gott ihm zugeeignete Berufung erkennt und wahrnimmt, kann in der Spannung zwischen seinen Eigeninteressen und seinem Dienst für andere den eigenen konkreten Platz in der Gesellschaft finden und dort eine legitime Interessenentfaltung entwickeln. Berufung muss gewagt werden. Wer berufliche Risiken übernimmt, kann nach menschlichem Ermessen scheitern. Geschieht dies ohne Verletzung ethischer Regeln, insbesondere der Grundregeln des "Ehrbaren Kaufmanns", ist das Scheitern kein Stigma. Der wichtigste Faktor ist das glaubwürdige Agieren der Verantwortlichen ­ das heißt ihre vorgelebte Bindung an christliche Werte und ihre Bereitschaft, auch vor Nachgeordneten Verantwortung zu übernehmen. Wenn sich die Eliten wenig moralisch verhalten, haben auch andere wenig Skrupel, sich ebenfalls fragwürdig zu entscheiden. Transparenz, Glaubwürdigkeit und Authentizität des unternehmerischen Handelns sind darum hohe Güter.
  4. Die moderne Wirtschaftswelt bleibt in ihrem Kern angetrieben durch das Eigeninteresse und die Selbstverwertung des Kapitals. Wo jedoch die Shareholdervalue-Orientierung eine solche Bedeutung gewinnt, dass die Interessen der Stakeholder wie Arbeitnehmer und Verbraucher in den Hintergrund rücken, schwindet das Vertrauen, das wirtschaftliches Handeln trägt. Die Freiheit des Christenmenschen realisiert sich deswegen auch in der Weigerung, sich ökonomischen Imperativen vollkommen unterzuordnen. Und sie zeigt sich auch darin, kulturelle Güter und soziale Lebensrhythmen ­ wie z.B. den Sonntag ­ vor ökonomischer Vereinnahmung zu schützen. So es gelingt, die wirtschaftliche Dynamik in einem fairen Wettbewerb zu steuern, funktioniert Marktwirtschaft höchst effizient und erzeugt eine in der Geschichte der Menschheit bisher nie erreichte Produktivität, die nach dem Leitbild der sozialen Marktwirtschaft in Wohlstand für alle umgewandelt werden muss. Angesichts der weltweiten Veränderungen des Wirtschaftslebens und der abnehmenden Bedeutung nationalstaatlicher Steuerung wird es darauf ankommen, diese Erfahrungen in die europäische Politik und Gesetzgebung einzubringen.
  5. Die Aufrechterhaltung oder Wiedergewinnung von Vertrauen stellt für unternehmerisches Handeln ein erhebliches Kapital dar. Vertrauen ist eine kooperative Vorleistung, gerade dann, wenn den jeweiligen Partnern auch andere Handlungsmöglichkeiten zur Verfügung stehen. Vertrauen ist die Erwartung, dass eine einseitige Vorleistung in der Tauschbeziehung vom anderen nicht ausgebeutet wird. Auf diese Weise trägt es auch zur Senkung von Kosten bei. Zustande kommt Vertrauen aber nur dann, wenn ein Partner anhand seines Verhaltens und Auftretens als vertrauenswürdig anerkannt wird. Ein überzeugendes und glaubwürdiges öffentliches Auftreten und die Bereitschaft, auch für schwierige oder harte Entscheidungen persönlich einzustehen, dient nicht nur dem Einzelnen, sondern auch dem Ansehen des Unternehmerberufs.
  6. Vertrauen zahlt sich nicht nur für die Unternehmen bzw. die Wirtschaft selbst aus: Es hat eine nicht zu unterschätzende Bedeutung für die gesamte Gesellschaft, von der die Wirtschaft ein Teil ist. Sie teilt in ihren Vollzügen und Organisationsformen die Wertorientierungen, die auch sonst in der Gesellschaft anerkannt sind. Allen Tendenzen, sich gesellschaftlich abzuschotten und eigene Prioritäten einen einseitigen Vorrang zuzuerkennen ­ am deutlichsten am Problem der Managergehälter zu erkennen ­ sollte sie sich selbst verweigern, weil sie dadurch ihre Akzeptanz untergräbt. Unternehmen, Unternehmer und Manager gehören in die Mitte der Gesellschaft; dort sind sie der öffentlichen Wahrnehmung ausgesetzt, können aber auch Wertschätzung und Anerkennung erfahren. Da unternehmerisch Tätige in kleinerem oder größerem Umfang über Macht verfügen, wird zu Recht von ihnen erwartet, dass sie gemeinschaftlich anerkannten Werten folgen und Vorbild sind. Nur so lässt sich ihre Macht rechtfertigen.
  7. Zur Erreichung ihrer Ziele "bedienen" sich unternehmerisch Tätige anderer, die dann abhängig beschäftigt sind. Auf diese Weise entstehen ungleichgewichtige Beziehungen in den Unternehmen, die ­ auch im Interesse der Unternehmen selbst ­einer fairen Gestaltung bedürfen. Jenseits von jeder Form einer romantischen Gemeinschaftsideologie, die nur Interessengegensätze verschleiern würde, muss festgehalten werden, dass heute mehr denn je hohe Leistungen in einem Unternehmen nur durch partnerschaftliche Kooperation aller Beteiligten erreicht werden können. Leistungsfähigkeit und Menschlichkeit schließen sich nicht nur nicht aus, sondern bedingen sich gegenseitig. Die unternehmerische Mitwirkung von Arbeitnehmern an wichtigen Entscheidungen und die Eröffnung von Freiräumen schaffen ein Klima unternehmerischen Geistes, das viele erfassen kann. Von ihm hängt aber heute ab, ob Unternehmen innovativ, kreativ und ganz vorne am Markt sind.
  8. Darum ist es auch in unserem Land notwendig, eine Kultur der Selbstständigkeit zu fördern. Selbstständige tragen für sich und andere Verantwortung. Sie versuchen ihre Aufgaben und Probleme selbst zu lösen und verlangen dies nicht vom Staat oder der Gesellschaft. Sie tragen ganz im Gegenteil dazu bei, Probleme in Staat und Gesellschaft zu lösen. Der Zwang zur Selbstständigkeit, der bei den einen Motivation und Energie befördert, löst allerdings bei anderen existenzielle Ängste aus. Schon die Bibel zeigt: Nur eine Minderheit der Menschen ist bereit, ein Risiko einzugehen, um Güter und Talente zu vermehren. Weitaus die meisten Menschen blieben und bleiben von der Initiativkraft anderer abhängig und darauf angewiesen, Arbeitsplätze in Unternehmen zu finden.
  9. Nachzudenken ist in diesem Zusammenhang über eine neue Verhältnisbestimmung von Flexibilität und Sicherheit im Sinne der "Flexicurity"-Konzepte. Gemeint ist damit eine besser als bisher gestaltete Balance zwischen Flexibilität auf dem Arbeitsmarkt und sozialer Absicherung, die diese Flexibilität nachhaltig unterstützt. Wenn in Zukunft zur Bewältigung der wirtschaftlichen Prozesse sowohl von Unternehmen als auch von abhängig Beschäftigten eine immer größere Flexibilität erwartet wird und damit die Risiken für einen jeden steigen, im Laufe seines Lebens ohne eigenes Versagen aufgrund sich ändernder Anpassungsnotwendigkeiten der Wirtschaft wiederholt arbeitslos zu werden oder den Arbeitsplatz wechseln zu müssen, dann muss diese Situation auf der anderen Seite durch eine ausreichende Grundsicherung im Zusammenhang mit einem offenen Arbeitsmarkt abgestützt werden. Das würde es möglich machen, kurzfristige Arbeitslosigkeit als Übergang zwischen verschiedenen Beschäftigungen ohne Verlust an Selbst- und Fremdachtung zu erleben. Alles hängt dann allerdings von der Gestaltung der Übergänge und der Absicherung der Betroffenen in diesen Zeiten ab. Entsprechende Veränderungen könnten gesellschaftliche Blockaden überwinden, die aus Abstiegsängsten genährt werden. Sie können aber nur in einem Klima des Vertrauens zwischen den Beteiligten erreicht werden.
  10. Die Veränderungen auf den Finanzmärkten haben erheblichen Einfluss auf unternehmerisches Handeln. Die Möglichkeiten der Unternehmensfinanzierung sind vielfältiger geworden. Soweit ein Unternehmen mit Beteiligungsgesellschaften zusammenarbeitet, bringt das neue Chancen und Herausforderungen, aber auch Risiken für das Unternehmen. Solche Unternehmen können erheblich davon profitieren, wenn neue Investoren an Gewinnen nicht durch kurzfristiges spekulatives Handeln, sondern durch langfristiges nachhaltiges Wirtschaften zur Steigerung des Unternehmenswerts interessiert sind. Soweit allerdings Beteiligungsgesellschaften allein auf kurzfristige Gewinne ausgerichtet sind, müssen Unternehmen sich der Herausforderung stellen, dass ihre Unternehmenskultur durch das an wirtschaftlichen Kennzahlen ausgerichtete schnelle Verhalten der Finanzinvestoren gestört werden kann.

    Für die Finanzierung von Unternehmen wird von Bedeutung sein, ob es gelingt, das Vertrauen in die Finanzmärkte wiederherzustellen. Hierzu ist eine größere Transparenz des Geschehens auf den Finanzmärkten, vor allem durch Selbstverpflichtungen der institutionellen Marktteilnehmer und eine internationale Vereinheitlichung der Bankenaufsicht notwendig.
  11. An Bedeutung gewonnen hat auch die Macht der Verbraucherinnen und Verbraucher. Die weltweite Vernetzung der Kommunikationsmedien macht es möglich, dass die Entscheidungen eines Unternehmens jederzeit für alle transparent gemacht werden können ­ sowohl, was den Umgang mit den Beschäftigten am Standort Deutschland, als auch mit Kooperationspartnern und Mitarbeitenden in Schwellen- und Entwicklungsländern und schließlich, was Umwelt- und Finanzentscheidungen betriff t. Die Moralisierung der Märkte führt in diesem Kontext zu Veränderungen des Kaufverhaltens, die zum Teil schmerzliche Gewinnverluste für Unternehmen bedeuten. Transparenz und Kontrollmechanismen werden deshalb immer wichtiger. Genauso notwendig ist allerdings, dass die Bürgerinnen und Bürger die marktwirtschaftlichen Zusammenhänge und Widersprüche zwischen ihren Erwartungen als Käufer günstiger Produkte und denen als Mitarbeitende mit sicheren Arbeitsplätzen erkennen und sich in ihrem Handeln danach ausrichten.
  12. Mit den bereits in der Denkschrift "Gerechte Teilhabe" der EKD angesprochenen Überlegungen halten wir fest, dass es in Zukunft darum gehen muss, staatliche Aktivitäten, und zwar insbesondere im Bereich der Sozial- und Arbeitsmarktpolitik, schlüssig mit wirtschaftlichen Anforderungen zu verknüpfen, um vor allem das Ziel der Schaffung von Arbeitsplätzen besser als bisher zu erreichen. Sozialpolitik und Wirtschaftspolitik bilden ein Handlungsganzes. Es soll Möglichkeiten dafür schaff en, dass Menschen sich mit ihren Gaben an der Gesellschaft angemessen beteiligen können. Erforderlich sind unterstützende Rahmenbedingungen auf Seiten des Staates, insbesondere eine angemessene Finanzierung öffentlicher Güter vor allem in den Bereichen von Bildung und Ausbildung, aber auch im Gesundheitswesen und in der Altersversorgung. Durch solche Rahmenbedingungen werden die Risiken und Gefahren minimiert, die Menschen von der Übernahme unternehmerischer Risiken abhalten. Menschen werden dazu ermutigt, sich entschlossen in die Wirtschaft einzubringen und Verantwortung zu übernehmen. In dieser Hinsicht gibt es in Deutschland, vor allem im Ausbildungs- und Bildungsbereich, erheblichen Nachholbedarf. Hier liegen große Defizite vor, gerade was die Förderung von Menschen aus sozial schwächeren Familien und allgemein von Menschen mit geringer Qualifikation betriff t. Diese Defizite hindern Menschen daran, sich aktiv zu beteiligen und Verantwortung zu übernehmen; sie sind ­ wie in der Denkschrift "Gerechte Teilhabe" ausgeführt ­ zutiefst ungerecht.
  13. Mit ihren Bildungsangeboten und sozialen Unternehmungen dienen Kirche und Diakonie dem Ziel, Menschen in einem vertrauensvollen Klima zu einem eigenständigen Leben zu ermutigen. Dabei konnten sie von Anfang an auf die Impulse von Unternehmern zählen, die sich gerade heute angesichts der Entwicklung einer wettbewerbsorientierten Sozialwirtschaft als besonders hilfreich erweisen. Auch wenn die Kirche kein Unternehmen ist, ja, gerade weil sie mehr sein will als eine Organisation, die sich aus selbst gegebenen Zielen und eigenen Interessen konstituiert, sind die Erfahrungen der diakonischen und kirchlichen Unternehmen eine wichtige Brücke zwischen Kirche und Wirtschaft. Für die Zukunft wird es wichtig sein, über diese Einrichtungen und Arbeitskreise hinaus in Kirchengemeinden und Kirchenkreisen ein Klima zu schaff en, in dem die existenziellen Erfahrungen und ethischen Fragen von Unternehmerinnen und Unternehmern Raum haben und in dem auch junge Leute zu Selbstständigkeit und Verantwortungsübernahme ermutigt werden.
  14. Am Ende dieser Denkschrift soll noch einmal die Vision eines freien schöpferischen unternehmerischen Handelns in der Wirtschaft, das sich zugleich sozial verpflichtetet weiß, bekräftigt werden. In jedem und jeder steckt etwas Unternehmerisch-Kreatives. Diese Potenziale gilt es im Interesse aller zu entdecken und zu fördern.

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