Predigten anlässlich des ökumenischen Gottesdienstes für die Opfer der Flutkatastrophe am 28. August 2021 in Aachen

Ratsvorsitzender der Evangelischen Kirche in Deutschland, Landesbischof Dr. Heinrich Bedford-Strohm und Bischof Dr. Georg Bätzing, Vorsitzender der Deutschen Bischofskonferenz

Predigt  von Landesbischof Heinrich Bedford-Strohm, Ratsvorsitzender der EKD im ökumenischen Gottesdienst für die Opfer der Flutkatastrophe im Hohen Dom zu Aachen

Es gilt das gesprochene Wort

Liebe Gemeinde,

wo war Gott in der Flut? Gibt es irgendeinen versteckten Sinn hinter den schrecklichen Ereignissen? Für mich steckt die Antwort in den Worten aus dem Lukasevangelium über die Begegnung Christi mit den Jüngern. Es ist ganz bestimmt keine flache religiöse Trostformel. Sie sagt den Menschen, die so Schreckliches erlitten haben, nicht, was ihr Leid Gutes bedeuten könnte. Denn Jesus wird hier an seinen Wundmalen erkennbar: „Seht meine Hände und meine Füße, ich bin’s selber. Fasst mich an und seht; denn ein Geist hat nicht Fleisch und Knochen, wie ihr seht, dass ich sie habe.“

Es ist der verletzliche Jesus, der sich hier zeigt. Der Jesus, der auf seine Stadt Jerusalem schaut und weint. Es ist der Jesus, der im Garten Gethsemane betet und Angst hat. Es ist der Jesus, der am Kreuz einen Schrei der Gottverlassenheit ausstößt. Gott war da, mitten in den Fluten. Aber nicht als der, der auf den Flutknopf gedrückt hat, sondern als der, der mit den Opfern geschrien hat, der mit ihnen gelitten hat, der sie getragen hat in den Abgründen, die sich aufgetan haben. Und der diejenigen, die ihr Leben verloren haben, aufnimmt in sein Reich, in dem kein Leid, kein

Geschrei, kein Schmerz mehr sind und in dem alle Tränen abgewischt sind.

Wie erfahren wir diesen Gott? Indem wir mit ihm sprechen. Und wenn wir selbst keine Worte mehr haben, uns diese Worte leihen. Menschen haben vor vielen Hundert Jahren ihre Not vor Gott gebracht haben und mit Psalm 69 gebetet: „Gott, hilf mir! Denn das Wasser geht mir bis an die Kehle. Ich versinke in tiefem Schlamm, wo kein Grund ist; ich bin in tiefe Wasser geraten, und die Flut will mich ersäufen“ (Ps 69,2f). Solche Worte können die Flut nicht wegbeten. Aber Kraft und Zuversicht können sie geben.

Und wir erfahren diesen Gott in der Gemeinschaft all der Menschen, die geholfen haben und helfen.

Menschen, die helfen den Schutt wegzuräumen und das Chaos zu beseitigen. Menschen, die den Seelen beigestanden haben, die zugehört haben, das Leid mit ausgehalten haben, und – auch das ist nicht zu vergessen - die nach dem Aufnehmen all des Leids oft selbst bittere Tränen vergossen haben. Es sind Menschen, die ihren Nächsten ein Christus geworden sind, wie es Martin Luther einmal ausgedrückt hat.

Denen, die einen Menschen verloren haben, kann niemand mehr diesen lieben Menschen zurückbringen. Die Familienfotos, die alten Briefe, die weggespült worden sind, die Heimat, die damit verbunden ist, sind verloren. Wir bringen die Trauer und die Ohnmacht, die mit all den Verlusten verbunden sind, heute vor Gott. Aber wir bringen an diesem Tag auch eine Hoffnung zum Ausdruck. Die Hoffnung, dass Gott Heilung schenken möge. Dass Gott Neuanfang schenken möge. Für jeden Einzelnen. Und für unser ganzes Land. Für einen ganzen Landstrich in Europa. Dass das Leid der Menschen, an dem wir alle so großen Anteil nehmen, unser Land verändert. Dass wir alles dafür tun, damit Menschen in der Zukunft solches Leid erspart bleibt.

Die Folgen des menschengemachten Klimawandels sind bei uns angekommen. Das haben wir verstanden. Vielleicht – das ist meine Hoffnung - werden Menschen in 20 Jahren zurückschauen auf diese Tage und im Rückblick sagen: Die Dramatik dessen, was damals passiert ist, die Abgründe an Leid, haben unser Land zum Nachdenken gebracht und zu einem Neuanfang geführt. Die Schäden, die eine vom Menschen aus der Balance gebrachte Natur angerichtet hat, haben zur Veränderung der Prioritäten in der Politik geführt Wir alle haben einen klimafreundlicheren Lebensstil entwickelt und haben verstanden, dass wir nie gegen die Natur gut leben können, sondern immer nur mit ihr. Das wird man hoffentlich in der Zukunft über diese Zeit sagen.

Der Auferstandene, der den Jüngern begegnet, zeigt seine Wunden. Auferstehung, Hoffnung, Neuanfang gibt es nur mit den sichtbaren Wunden, nicht an ihnen vorbei. Das wird auch so sein, wenn Sie in den Flutregionen jetzt nach vorne zu schauen versuchen. Die Wunden werden bleiben, aber Zukunft wird möglich sein. Der verwundete Christus ist auch der Auferstandene, er wird für Sie da sein. Und Kraft geben. Zukunft eröffnen.

AMEN

Es gilt das gesprochene Wort!

Predigt von Bischof Dr. Georg Bätzing,
Vorsitzender der Deutschen Bischofskonferenz, anlässlich des ökumenischen Gottesdienstes für die Opfer der Flutkatastrophe

Es hat mir die Sprache verschlagen – wie so vielen. Als ich die ersten Bilder von der Flutkatastrophe im Fernsehen sah, war ich gerade in Rom und konnte kaum fassen, was aus Regionen und Orten geworden war, die mir vertraut sind. Welch eine Zerstörung in so kurzer Zeit! Was für eine Not! Es verschlägt einem die Sprache. – Um wieviel mehr gilt das für Menschen, deren Angehörige in den Fluten umgekommen sind, die ihre Häuser, ihr Hab und Gut, Erinnerungsstücke, ihren vertrauten Lebensraum und die Existenzgrundlage verloren haben; wenn Gräber verwüstet wurden. Es verschlägt einem die Sprache. – Wenn ein junger Helfer Schlamm wegräumt und dabei ein Mädchen tot in der Baggerschaufel findet.

Gerade darum ist es so wichtig, dass wir über all das Geschehene sprechen – das sagt der gesunde Menschenverstand, und das raten Fachleute, wenn es darum geht, wie wir mit solch tief einschneidenden traumatischen Erfahrungen weiterleben können. Deshalb ist es so gut, dass wir heute zusammen sind. Beispielhaft haben wir drei Zeugnisse gehört. Momente, die das Ausmaß der Zerstörung, des Leids und der übergroßen Hilfsbereitschaft deutlich machen. Ich danke Ihnen, dass Sie Ihre Erfahrungen mit uns geteilt haben.

Wenn es mir die Sprache verschlägt, dann vertraue ich mich ganz intuitiv bekannten Worten und Gebeten an, dem Vaterunser, dem Rosenkranz, einem Wort der Heiligen Schrift – und dabei oft den Psalmen. Mit den Psalmen beten heißt, Klartext reden, nichts beschönigen und dennoch hoffen. Ich höre immer wieder, wie viele Betroffene sich in dem Klagepsalm wiederfinden, den der Priester Stephan Wahl unter dem Eindruck der Katastrophe in Verbundenheit mit seiner Heimat an der Ahr neu geschrieben hat. Seine Trauer um den Verwandten, der mit elf weiteren Mitbewohnern im Sinziger Lebenshilfehaus vom todbringenden Wasser überrascht wurde – er spricht und klagt stellvertretend für viele: 

Der Bach […] zum todbringenden Ungeheuer wurde er,
seine gefräßigen Fluten verschlangen ohne Erbarmen.
Alles wurde mir genommen. Alles!
Weggespült das, was ich mein Leben nannte.


Worte voll Emotion und Schwerkraft. Sie lassen den Boden unter den Füßen wieder spüren. Sie werden zu Anfragen an das Leben, das Schicksal, an Gott. Angelehnt an die reiche Bildsprache der Psalmen gibt einer, der mit Gott ringt, dem unaussprechlichen Grauen Worte, die aufwühlen, vielleicht auch irritieren. Vielleicht helfen sie Ihnen, wenn Sie selbst noch keine Fassung finden können, wenn trotzdem und erst einmal Funktionieren und Überleben gefordert sind; wenn es so schwer fällt, überhaupt zu beschreiben, was denn passiert ist.

Meine gewohnten Gebete verstummen
Meine Hände zu falten gelingt mir nicht.
So werfe ich meine Tränen in den Himmel.
Meine Wut schleudere ich dir vor die Füße.
Hörst du mein Klagen, mein verzweifeltes Stammeln,
ist das auch Beten in deinen Augen?


Die Theologin Dorothee Sölle hat aus Erfahrung im Umgang mit den Psalmen der Bibel gesagt: „Die Psalmen sind für mich eins der wichtigsten Lebensmittel. Ich esse sie, ich trinke sie, ich kaue auf ihnen herum, manchmal spucke ich sie aus, und manchmal wiederhole ich mir einen mitten in der Nacht. Für mich sind sie Brot.“

Es werden noch etliche lange Nächte vergehen, die unruhig sein werden, geprägt von Angst und Sorge. Es braucht Zeit, bis Erfahrungen sacken, Verlust und Verletzungen verarbeitet werden können. Wunden, die in wenigen Stunden gerissen wurden, werden vernarben, hoffentlich auch heilen. Trauer um die verlorenen Menschen braucht Zeit, und es braucht unfassbar viel Kraft für Wiederaufbau und Neubeginn.

Schon jetzt ist ein Schimmer der Hoffnung sichtbar. Unendlich tröstlich sind Hände, die Halt geben; Hände, die Menschen aus ihren Häusern gerettet haben; Hände, die festhalten und umarmen, wenn Tränen fließen; Hände, die zupacken, Schutt und Dreck wegräumen, persönliche Kostbarkeiten bergen; Hände und freundliche Gesichter, die Essen verteilen, neue Infrastruktur schaffen, Kindern Ferien und Freizeit ermöglichen. Unzählige Ehrenamtliche, Fachkräfte, Seelsorgerinnen und Seelsorger sind seit Wochen im Einsatz. Vergelt’s Gott Ihnen allen für diesen großartigen Dienst!

Auch sie vergessen wir nicht:

Ich schaue auf und sehe helfende Hände, die jetzt da sind,
ohne Applaus, einfach so. […]
Auch wenn du mir rätselhaft bist, Gott, noch
unbegreiflicher jetzt, unendlich fern,
so will ich dennoch glauben an dich, widerständig, trotzig,
egal, was dagegen spricht. […]
Halte mich, Ewiger! Halte mich.