Eine Kastanie spendete Anne Frank Trost

Vor einer Frankfurter Schule erinnert ein Gedenkbaum an das im Februar 1945 ermordete jüdische Mädchen

Bildnis von Anne Frank an der Turnhalle der Anne-Frank-Schule in Frankfurt am AMain.

Anne Frank Bildnis an der Turnhalle Anne-Frank-Schule in Frankfurt am Main. Vor der Schule steht auch ein Gedenkbäumchen an das im Februar 1945 in Bergen-Belsen ermordete jüdische Mädchen. 2013 war die Kastanie von Unbekannten abgesägt worden – doch sie hat überlebt und erneut ausgetrieben.

Frankfurt a.M. (epd). „Fast jeden Morgen gehe ich auf den Dachboden hinauf, um die stickige Luft aus meinen Lungen zu pusten“, schrieb Anne Frank (1929-1945) in ihr berühmtes Tagebuch. „Von meinem Lieblingsplatz aus auf dem Boden sehe ich hinauf in den blauen Himmel und in den kahlen Kastanienbaum, an dessen Zweigen kleine Tropfen wie Silber glitzern. So lange wie dies existiert, so dachte ich, werde ich leben mögen, um dies zu sehen, diesen Sonnenschein, diesen wolkenlosen Himmel.“

Diese Kastanie im Hinterhof eines Nachbarhauses war Anne Franks einzige Verbindung zur Natur in ihrem Versteck in einem Amsterdamer Hinterhaus. Dort lebte sie, bis sie und ihre Familie 1944 verraten und deportiert wurden. Die 15-jährige Anne und ihre Schwester Margot starben vor 75 Jahren, vermutlich im Februar 1945, im Konzentrationslager Bergen-Belsen.

Ableger des Baumes wachsen überall auf der Welt

Ableger jenes Baums, der ihr im Amsterdamer Hinterhaus Trost spendete, wachsen mittlerweile überall auf der Welt, etwa vor dem Hauptquartier der Vereinten Nationen in New York. Im Jahr 2008 wurde auch ein Bäumchen vor der Anne-Frank-Schule in Annes Geburtstadt Frankfurt am Main gepflanzt. Doch eines Nachts im Dezember 2013 kamen Unbekannte, sägten das gut zwei Meter hohe Bäumchen ab und nahmen es mit.

 „Die Schüler haben mit offenem Mund dagestanden“, erinnert sich die stellvertretende Schulleiterin Monika Peuser an den folgenden Morgen. „Sie haben gefragt: Wer macht so was?“ Die Polizei hat keine Hinweise finden können. „Der Fall ist nach wie vor ungeklärt“, sagt der Frankfurter Polizeisprecher Manfred Füllhardt.

Mögliche Täter gibt es nicht nur im rechtsextremen Lager. Schüler oder Nachbarn, die Angst hatten, dass der Baum ihnen das Licht nehmen würde, sind zumindest denkbar. Aber Monika Peuser sagt: „Es liegt schon nahe, dass das Ganze einen antisemitischen Hintergrund hatte.“ Der Baum war durchaus bekannt, bei seiner Pflanzung hatten Medien darüber berichtet.

Für ihre Schülerinnen und Schüler besitze der Baum eine hohe Symbolkraft, sagt Schulleiterin Nicola Gudat: „Ein Symbol für Freiheit, auch für gedankliche Freiheit. In unserer Wahrnehmung war das schon ein Angriff.“

Anne Frank ist Identifikationsfigur für die Schüler

Anne Frank, deren Gesicht in der Schule von vielen Wänden blickt, sei eine Identifikationsfigur für die Schüler. Das jüdische Mädchen wurde 1929 in Frankfurt geboren, 1934 wanderte sie mit ihrer Familie in die Niederlande aus. Als dort 1942 die Deportationen der Nazis begannen, tauchten die Franks in einem Hinterhaus unter, wo Anne ihr berühmtes Tagebuch schrieb.

 „Identität und Herkunft waren große Themen für Anne Frank, und das sind sie auch für unsere Schüler“, sagt Gudat. Rund 80 Prozent ihrer Realschüler haben mindestens einen Elternteil, der nicht in Deutschland geboren ist.

Zunächst schien es, als sei der Verlust des Bäumchens unersetzlich. Denn vom Mutterbaum im Amsterdamer Hinterhof ist nur noch ein Stumpf übrig: Während eines Sturms brach die durch einen Pilz vorgeschädigte Weiße Rosskastanie am 23. August 2010 ab.

Die Kastanie hat wieder ausgetrieben

Wenn es wirklich die Absicht der Täter in Frankfurt war, ein Symbol des Gedenkens an Anne Frank zu zerstören, haben sie ihr Ziel aber verfehlt: Die Kastanie hat überlebt und wieder ausgetrieben.

 „Es war gar nicht sicher, dass das Bäumchen wieder austreibt“, sagt Lothar Kehl, ehemaliger Schulhausverwalter. Aber das Grünflächenamt habe sich um die Kastanie bemüht. Mittlerweile hat sie sogar zwei kleine Stämmchen, rund drei Meter hoch.

75 Jahre nach Anne Franks Tod zählt ihr Tagebuch zu den meistgelesenen Büchern der Welt. Neuere Untersuchungen des Anne-Frank-Hauses in Amsterdam datieren den Tod des jüdischen Mädchens auf spätestens Mitte Februar 1945. Ihre Mutter Edith wurde in Auschwitz ermordet, der Vater Otto überlebte als einziger der Familie die Schoah. Das Jüdische Museum in Frankfurt zeigt in einer Dauerausstellung Gegenstände aus dem Familienbesitz, die Anne Franks Cousin Buddy Elias (1925-2015) ihm als Dauerleihgaben überlassen hatte.

Die Kastanie vor der Anne-Frank-Schule ist mittlerweile durch ein halbhohes Gitter gegen Angriffe geschützt. „Aber eine 100-prozentige Sicherheit wird es nie geben“, sagt Monika Peuser.