Predigt aus Anlass des Völkermordes an den Sinti und Roma am Sonntag, 29. Januar 2023, im Berliner Dom

Prälatin Anne Gidion, Bevollmächtigte des Rates der EKD bei der Bundesrepublik Deutschland und der Europäischen Union

Berliner Dom

Gen 4, 1-16

 

Liebe Gemeinde,

wenn die Geschichte von Kain und Abel eine Antwort ist – was war dann die Frage?

 

1.

Wir haben den Text vom Brudermord gehört.

Kain, der Ackerbauer, erschlägt seinen Bruder Abel, den Schäfer.

Ein lauter Text. Ein bekannter Text. Eine Grunderzählung der Bibel – gleich nach der Schöpfung und der Vertreibung aus dem Paradies. Eine große Versuchung für klare Predigtmoral: Handelt nicht aus Wut. Ermordet niemanden, vor allem nicht Eure Geschwister.

Die Motive dieses Textes sind so eindrücklich und predigen so laut. Die leisen Töne darin dringen kaum ans Ohr.

Ich konzentriere mich auf einen einzigen Vers, den Vers 8. Wir haben ihn in der Übersetzung von Martin Luther gehört:

Kain sprach zu seinem Bruder Abel: „Lass uns aufs Feld gehen!“

Und es begab sich, als sie auf dem Feld waren, erhob sich Kain wider seinen Bruder Abel und schlug ihn tot.

Kain sprach zu seinem Bruder Abel: „Lass uns aufs Feld gehen“.  Diese wörtliche Rede steht in der hebräischen Bibel nicht. Dort steht nur: Kain sprach zu seinem Bruder Abel. Und als sie auf dem Feld waren, erhob sich Kain über Abel, und tötete ihn. 

Kain sprach zu seinem Bruder Abel. Punkt.

Liebe Gemeinde, Kain und Abel ist keine Erzählung von einem Gespräch unter Geschwistern mit schrecklichem Ende. Es ist ein Text, der vom Schweigen predigt. Einem Schweigen, das kaum auszuhalten ist. Einem Schweigen, dass der Geschichte und ihrer Auslegung verloren gegangen ist.

Was Kain sagte, wissen wir nicht. Die hebräische Bibel sagt nichts darüber. Spätere Übersetzer haben dieses Schweigen, das Schweigen der Bibel zu dem, was Kain sagt, wohl einfach nicht ausgehalten. Und, da der Gang der Handlung ja berichtet wird, die direkte Ansprache an den Bruder ergänzt: „Lass uns aufs Feld gehen.“

Liebe Gemeinde, das Schweigen der hebräischen Bibel zu Kains Worten ist kein Zufall, es ist ein wichtiges Schweigen. Es soll ein Schweigen sein. Eine wörtliche Rede wird eingeleitet: „Kain sagt zu seinem Bruder Abel:“ – Wir sehen hier einen Doppelpunkt und erwarten, dass jetzt Worte kommen, die Kain sagt. Wütende Worte, zornige Worte, enttäuschte Worte über Gott, Ärger über Abel. Aber es kommt: nichts. Das Gespräch ist zu Ende, ehe es begonnen hat. Es ist diese Sprachlosigkeit, der die nackte Gewalt folgt. Es ist das nicht gesagte Wort, das in die Gewalt mündet. Die Geschichte von Kain und Abel erzählt vom Schweigen, aus dem nichts Gutes kommt.

Und Kain schweigt ja nicht nur beredt zu Abel, sondern auch zu Gott. Die Geschichte erzählt es: Gott hat Kains Opfer nicht gewürdigt. Und Kain engleisen die Gesichtszüge. Das, was er eigentlich sagen müsste, was in ihm hochsteigt, die vielen Worte - all das Ungesagte bleibt in Kains Kopf und Herz und gärt dort.

Kain müsste eigentlich zu Gott sprechen. Kain müsste eigentlich Gott sagen, was ihn kränkt, was er nicht versteht, was er ungerecht findet, wie er sich fühlt, was ihn bewegt, eine lange Rede wäre das, und Gott ein guter Zuhörer.

Aber Kain spricht nicht mit Gott. Er schweigt. Er redet mit seinem Bruder Abel, und sagt nichts. Nichts.

Ein doppelter Kommunikationsabbruch. Zwischen den Brüdern und zwischen Kain und Gott.

Was folgt, ist nackte Gewalt. Und Abels ewiges Schweigen.

Denn Schweigen, wo Reden notwendig wäre, das ist das Wesen des Todes.

 

2. 

Schweigen, wo Reden notwendig wäre, das ist das Wesen des Todes.
Viel zu lange haben Christen geschwiegen zu dem, was Sinti und Roma an schrecklicher Gewalt angetan wurde. 

Spät ringen unsere Erklärungen um Sprechbares und versuchen, der Sprachlosigkeit Worte entgegenzusetzen. Der Blick in die Vergangenheit – endlich wird das Schweigen aufgehoben: 

Ich zitiere: „Die Abwertung und Ausgrenzung von Angehörigen der Sinti und Roma hat eine Geschichte, die sehr lange zurückreicht. Und nicht nur zur Zeit des Nationalsozialismus und des Völkermordes an Sinti und Roma war die Evangelische Kirche daran beteiligt, Menschen zu verraten und der Verfolgung und Vernichtung auszuliefern. Die Schuldgeschichte erstreckt sich auch über die Jahrzehnte danach, indem begangenes Unrecht und das Leid der Opfer und ihrer Nachkommen nicht wahrgenommen wurden.“ Zitat Ende.

Und die Kirche war keine Schwester für die Verfolgten und Gedemütigten. Weiter heißt es:

„Stattdessen wurden auch in der Kirche antiziganistische Stereotypen unreflektiert weitergetragen und Menschen dadurch erneut und fortwährend in ihrer Würde verletzt.“

Die Geschichte, auch diese, ist nicht zu Ende. Sie muss neu erzählt werden, immer wieder und unbedingt:

„Dass Sinti und Roma bis heute mit massivsten Vorurteilen begegnet wird, mehr noch: dass ihnen strukturelle Diskriminierung widerfährt, (wie der Bericht der von der Bundesregierung eingesetzten Unabhängigen Kommission Antiziganismus zeigt,) erfüllt uns mit Scham.“ (Zitate aus der Erklärung der EKD).

 

3. 

Liebe Gemeinde, in dem Moment, in dem Kain Gottes Handeln nicht versteht, als er wütend wird und verletzt und sich nicht gesehen fühlt - da „fällt“ ihm das Gesicht - so lesen wir in der Tora. Kain zerfällt das Angesicht. Kain bricht die Verbindung zu Gott ab. Er vermag nicht den Blick zu heben, seine Blicke bleiben nur noch am Boden. Kain schämt sich.

Darin sind wir alle theologisch gesehen Kains Nachkommen: Menschen, die mit Scham leben und leben müssen. Mit dem Gefühl, nicht zu genügen – und deshalb lieber nicht so genau hinzusehen.

Das Kainsmal schützt und erinnert an diese Scham. Und es ermutigt dazu, sich der Vergangenheit zu stellen, standzuhalten – im Licht eines Gottes, der die Menschen sieht.

Sich der Vergangenheit zu stellen, statt die Schuld abzuwehren. Den anderen, die andere sehen – in seiner Schönheit, in ihrer Menschlichkeit.

 

4.

Auf dem Gelände des ehemaligen Zwangsarbeiterlagers Ravensburg befindet sich inzwischen eine Gedenkstätte zur Erinnerung an dort internierte Sinti und Roma. Viele starben dort, die anderen wurden nach Auschwitz deportiert. In Ravensburg ist auch der „Sinti Powerclub“. Philip Reinhardt, ein 17 Jahre aller Sinto, arbeitet dort. Er sagt:

„Wir Sinti blicken auf eine lange Geschichte von Fremdwahrnehmung und ‚Reden-über‘ zurück. Und die uns ständig vorgehaltenen Bildnisse beeinflussten immer auch das, was wir selbst von uns dachten. Ständiges Herunterreden und Kleinhalten, fernab von jeglichem Empowerment. So finden wir uns oft in einer Lage wieder, in der wir nicht mehr wissen, ob wir wirklich gut genug sind. Ob wir wirklich schön und einzigartig und besonders sind.“ (…)

Die Kirche kann eine Schwester sein, die den Bruder sieht. Sie soll es sein. 

Denn: Wenn die Geschichte von Kain und Abel eine Antwort ist – was war dann die Frage?

Vielleicht: Wie können wir als Menschen miteinander leben? Als Geschwister in der Familie Mensch? Auch wenn wir schuldig geworden sind?

Kain und Abel leben nicht aus dem Segen. Nur einer überlebt. Der ist schuldig, und Gott zeichnet ihn. Er bleibt Mensch. Der Segen gilt auch für ihn.

Gott bietet einen Ausweg aus der Schuld an. Gott sieht und trägt und liebt. Gottes Angebot und Ausweg heißt Segen. Segen, der uns den Blick erhebt. Segen, der uns das zerfallene Angesicht heil werden lässt. Segen, die große Entschämung. Die Kraft zur Umkehr.

Als Gesegnete begegnen wir Gott von Angesicht zu Angesicht. Wir heben den Blick und sehen auf. Begegnen einander von Angesicht zu Angesicht. Als Menschen, denen Gott sagt und nun die Kraft gibt zu sagen: Ich sehe dich an. Du bist genug in meinen Augen. Geachtet, wertgeschätzt, einzigartig.

Es ist Zeit, diese Worte anzunehmen. Ja. Wir sind Geschwister. Sind unseres Bruders, unserer Schwester Hüter.

Von Angesicht zu Angesicht. Amen

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