Predigt im evangelischen Radiogottesdienst von WDR 5 und NDR Info am Pfingstmontag, 6. Juni 2022, aus der Martinikirche in Siegen

Annette Kurschus, Präses der Evangelischen Kirche von Westfalen, Ratsvorsitzende der Evangelischen Kirche in Deutschland

Es gilt das gesprochene Wort!

Predigttext: 4. Mose 11, 11-17.24+25

11 Mose sprach zu dem HERRN: „Warum bekümmerst du deinen Knecht? Und warum finde ich keine Gnade vor deinen Augen, dass du die Last dieses ganzen Volkes auf mich legst? 12 Hab ich denn all das Volk empfangen oder geboren, dass du zu mir sagen könntest: Trag es in deinen Armen, wie eine Amme ein Kind trägt, in das Land, das du ihren Vätern zugeschworen hast? 13 Woher soll ich Fleisch nehmen, um es all diesem Volk zu geben? Sie weinen vor mir und sprechen: Gib uns Fleisch zu essen. 14 Ich vermag all das Volk nicht allein zu tragen, denn es ist mir zu schwer. 15 Willst du aber doch so mit mir tun, so töte mich lieber, wenn anders ich Gnade vor deinen Augen gefunden habe, damit ich nicht mein Unglück sehen muss.“

Warum? liebe Gemeinde. Warum?
gleich zweimal diese Frage. Genau besehen ist es gar keine Frage. Dieses Warum ist ein Vorwurf. Hier hat einer die Nase gestrichen voll, hier will einer alles hinschmeißen: „Warum spielst du mir so übel mit, Gott? Warum lässt du mich hängen?“
Hier redet ein Anführer, der nicht mehr führen will. Ein Charismatiker, dem die Begeisterung ausgeht. Mose steht mit seinem unzufriedenen Volk mitten in der Wüste. Der Exodus aus Ägypten liegt hinter ihnen. Das Gelobte Land ist noch nirgends in Sicht. Die Nerven liegen blank. Und Mose macht vor Gott kein Hehl daraus, dass dieses mäkelnde Volk und sein Leitungsamt ihm mächtig auf den Geist gehen; er spielt mit Rücktrittsgedanken. Lieber will er tot sein als hier weiter die Verantwortung zu tragen.

In dieser Geschichte geht es um eine dicke Krise: eine menschliche Krise, eine Regierungskrise und eine tiefe Gotteskrise. Alles kommt zusammen, nichts geht mehr. Und – so viel sei verraten – mitten darin vermehrt Gott seinen Heiligen Geist, indem er ihn umverteilt. Eine wundersame Geschichte von der Kraft des göttlichen Geistes, die etwas Neues bewirkt mitten in der Krise. Eine echte Pfingstgeschichte also – obwohl sie lange vor dem ersten Pfingstfest aufgeschrieben wurde.

Doch eins nach dem anderen. Zurück zum amtsmüden Mose.
Bin ich etwa mit diesem ganzen Volk schwanger geworden? Habe ich es etwa geboren? Wie kannst du zu mir sagen: Trag es wie eine Amme den Säugling?
Wer diesem Mose, der völlig am Ende ist, sehr fein und sehr genau zuhört, mag für einen Moment in verwundertes Staunen geraten: Du, Gott, bist doch schwanger geworden, schimpft Mose. Du, Gott, hast doch dieses Volk ausgetragen und geboren. Und jetzt hängst du es mir an den Hals, und ich soll die Amme für dein Kind sein? Wer Ohren hat zu hören, der höre: Mose redet Gott als Frau und Mutter an.

Und die Männer und Frauen des Gottesvolks benehmen sich gerade wie verwöhnte, maulende Mamakinder, die ihren Willen nicht bekommen. Dabei leiden sie keine wirkliche Not. Sie haben Wasser – und sie haben Manna, das süße und nahrhafte Himmelsbrot, mit dem Gott sie täglich neu versorgt. Aber dessen sind sie überdrüssig. Das Volk liegt Mose in den Ohren: Gib uns Fleisch zu essen!
Mit einer gehörigen Portion Ironie wird erzählt, wie ein jeder vor seinem Zelt sitzt und heult. Mose ist genervt. Wie soll er diesen unerfüllbaren Wunsch erfüllen?

Nun, das Essensproblem ist offenbar das geringere, jedenfalls wird es alsbald gelöst. Gott selbst wird helfen, wie sich später zeigt. Gott wird so viele Wachteln schicken, dass sie schier unter den Massen begraben werden, und sie werden Fleisch bekommen, bis ihnen übel davon wird. Ein kleines Lehrstück, wie Gott gierige Wünsche erfüllt. Aber das, liebe Gemeinde, ist nicht die eigentliche Misere. Die liegt wesentlich tiefer, nämlich da, wo Menschen sich zurücksehnen nach den guten alten Zeiten. Die Vergangenheit verklären, auf andere zeigen und selbst nichts mehr tun. Mir kommt das bekannt vor. Und mir fallen Geschichten ein, die dazu passen. Und die auch heute nach einem ganz anderen Geist rufen.

Musik

Die Männer und Frauen im Volk Gottes, sie sehnen sich zurück nach „den guten alten Zeiten“. Das ist das eigentliche Problem. Der Blick wendet sich wehmütig in die Vergangenheit, und es bilden sich Gedanken und Sätze, die mir bekannt vorkommen: „Hätten wir doch…!“, „Wären wir doch …!“. Und dann wird die Vergangenheit kräftig verklärt. In Ägypten, ja, da gab es Knoblauch und Melonen, da gab es Fleisch und allerlei Köstlichkeiten. An herrliche Aromen erinnern sie sich und an leuchtende Farben. Dabei war´s in Ägypten grausam, ein elend unfreies Leben, eine endlose Plackerei. Vergessen ist, wie sie gedarbt und gelitten haben und drangsaliert wurden. „Könnten wir nur zurück!“
Wie oft ertappe ich mich selbst bei solch rückwärtsgewandtem Verklären.
Mit prallen Bildern und feinsinnigen Beobachtungen beschreibt die Bibel, wie mühsam und riskant der Weg ist, der wirklich nach vorn und weiter und in die Freiheit führt. Gesäumt von enttäuschten Erwartungen, gepflastert mit schlechter Laune, übersät von Kritik und Meckerei. Mit Pauken und Trompeten die Fesseln abschütteln und sogleich im Gelobten Land stehen, wo Milch und Honig fließen: Ja, das wär´s! Doch dieser schöne Traum hat nichts mit der Wirklichkeit zu tun. Stattdessen: Wüste. Nach dem verheißungsvollen Auszug, nach der spektakulären Flucht durch das geteilte Meer, nach der Absetzung des Tyrannen ein jahrzehntelanger Wüstenweg. Eine Bewährungsprobe, die man erstmal schaffen muss und in der alles auf dem Spiel steht.

Da hast du auf etwas hingefiebert, das dein ganzes Leben verändern sollte – und dann ist es da, und es ist noch lange nicht so wie ersehnt.
Die gefürchtete Operation ist überstanden, es ist alles bestens verlaufen – aber bis du wirklich wieder fit bist, ist es noch eine elend weite Strecke. Oder: Du hast das ehrliche Wort gesagt, den Mut aufgebracht, offen zu sein – aber dadurch ist nichts gut geworden. Jedenfalls nicht im selben Moment. Jetzt gilt es, neues Vertrauen wachsen zu lassen.

In Deutschland haben nach dem ersehnten Fall der Mauer zwischen Ost und West viele Menschen solche Wüstenerfahrungen gemacht. Wie groß waren die Enttäuschungen bei denen, die nicht Schritt halten konnten, die die Veränderungen nicht gepackt haben, deren Familien zerbrochen sind. Manche von ihnen können oder wollen bis heute die Welt nicht verstehen. Befreiung hat nicht nur Gewinner. Sie ist eine Glücksgeschichte, aber auch eine Schmerz- und Leidensgeschichte.

Wenn heute gesagt wird, in der Ukraine werde die Freiheit verteidigt, unsere Freiheit gar, so ist das höchstens halb richtig. Zuallererst verteidigen die Menschen in der Ukraine ihr eigenes, nacktes Leben. Der russische Überfall hat dieses Land auf dem Weg in eine noch längst nicht vollendete Freiheit getroffen. Gewiss, wann ist Freiheit jemals vollendet? Sie muss immer verteidigt werden. Jedoch: die Ukraine war noch auf ihrer Wüstenwanderung – und weit entfernt vom Gelobten Land. Sie war gerüttelt von Bürgerkrieg, geschüttelt von Korruption und gebeutelt von Armut. Und nicht wenige wollten lieber zurück ins Sowjetreich.

Die Bibel hat eine sprechende Formulierung für die wiederkehrenden Aufstände gegen Mose: Das Volk murrt. Murren ist eine geniale Lautmalerei für allgemeines Maulen, Motzen und Mosern. Keine sachliche Kritik, sondern aggressives Gequengel. In der Regel über „die da oben“. Die „unten“ sind dann meist unzufrieden und zugleich passiv. Verweigern sich störrisch und ziehen sich zurück in ein bockiges „Früher war alles besser.“ Die Großempörer unter den Frustrierten tun gern so, als seien sie Widerständler, Volkstribune, Befreiungskämpfer, Dissidenten oder Reformatoren. Stattdessen sind vor allem eines: Maulhelden.

Immer wieder gibt es Rebellion, Meuterei und Aufstand gegen Mose, erzählt die Bibel. Und aus Mose, dem einzigartigen Befreier, wird Mose, der einzig Verantwortliche. Die Aura des kraftvoll Voranschreitenden, dem das Volk vertrauensvoll und optimistisch folgt, ist verflogen. Es ist einsam um Mose geworden. Er ist nicht nur allein verantwortlich, er ist vor allem allein.

Ähnlich einsam wie Mose mögen sich gegenwärtig Menschen in politischen Ämtern fühlen, die am Rand ihrer Kraft und am Ende ihrer Geduld sind, weil sie mit Hassmails zugeschüttet werden, ihr Auto mit zerstochenen Reifen vorfinden oder Drohbotschaften an ihre Lieben erhalten. Ich habe außerordentliche Hochachtung vor den Bürgermeistern und Stadträtinnen, den Ministerinnen und Regierungsbeamten, die sich davon nicht unterkriegen lassen. Manche jedoch geben auf. Auch sie haben meinen Respekt und meinen Dank.

So kann es nicht weitergehen. Aber wie dann? Was ist, wenn jemand persönlich feststeckt in der eigenen Wüstenzeit? Oder wenn eine ganze Gesellschaft einen neuen Geist braucht und neue Kraft? Kann das, was wir über Mose erfahren, da irgendwie weiterbringen?

Musik

Nichts geht mehr. Gott ist verdrossen. Mose ist isoliert. Die Menschen des Volks sitzen vor ihren Zelten und heulen. Welch ein Desaster.
Wie kann das weitergehen? Manche denken: Da hilft eigentlich nur Gewalt, oder?

Zahllose Aufbrüche in die Freiheit enden tatsächlich in Chaos und Gewalt. Aus Lichtgestalten wurden Dunkelmänner, aus charismatischen Befreiungskämpfern erstarrte Despoten, korrupte Staatschefs oder alkoholkranke Wirrköpfe.

Immer gibt es auf dem Weg zur Freiheit die Versuchung der Alleinherrschaft. Wenn der göttliche Geist des Anfangs in der Wüstenhitze verdorrt ist, dann wächst die Sehnsucht nach starken Führern. Wenn der rückwärtsgewandte Ungeist den unzufriedenen Gemütern etwas vormacht nach dem Motto „Wann wird es endlich wieder so, wie es nie war“, dann sollen es die da oben richten. Die sollen Fleisch herbeizaubern. Die sollen das Volk „great again“ machen. „Für die Handlungen der Autokraten sind die Völker nicht verantwortlich“, hat der 1922 ermordete deutsche Außenminister Walther Rathenau in einem seiner Briefe geschrieben. Doch, sie sind es. Weil sie den Ungeist nähren, der Autokraten erst groß macht. Bei Mose geht es anders weiter:

16 Und der HERR sprach zu Mose: Sammle mir siebzig Männer unter den Ältesten Israels, von denen du weißt, dass sie Älteste im Volk und seine Amtleute sind, und bringe sie vor die Stiftshütte und stelle sie dort vor dich, 17 so will ich hernieder kommen und dort mit dir reden und von deinem Geist, der auf dir ist, nehmen und auf sie legen, damit sie mit dir die Last des Volkes tragen und du nicht allein tragen musst.“ (…)
24 Und Mose ging heraus und sagte dem Volk die Worte des HERRN und versammelte siebzig Männer aus den Ältesten des Volks und stellte sie rings um die Stiftshütte. 25 Da kam der HERR hernieder in der Wolke und redete mit ihm und nahm von dem Geist, der auf ihm war und legte ihn auf die siebzig Ältesten. Und als der Geist auf ihnen ruhte, gerieten sie in Verzückung wie Propheten und hörten nicht auf.


Gott vermehrt seinen Heiligen Geist – indem er ihn umverteilt. Mose muss nicht der alleinige und einsame Macher sein. Gott holt ihn raus aus diesem Wahn, der nur überfordern kann.

„Es soll nicht durch Heer oder Kraft, sondern durch meinen Geist geschehen, spricht der HERR.“ Dieses Prophetenwort steht als Überschrift über dem Pfingstfest. Auf unsere ungewöhnliche Pfingstgeschichte gemünzt: Es soll nicht durch Alleinherrscher und Alleskönner geschehen, sondern durch Gottes Geist. Gott verteilt seine Geistkraft neu. Die haust künftig nicht allein in Mose, sondern Gott verteilt sie um auf siebzig erfahrene Leute aus dem Volk. Aus einsamer Führerschaft wird gemeinsame Verantwortung. Gottes Geist macht aus Mitläufern Mitverantwortliche.

Wie befreiend kann es sein, wenn du meinst, du stehst mutterseelenallein mit einer schwierigen Entscheidung – und dann sind da welche, die denken mit dir zusammen nach, hören sich deine Bedenken und Zweifel an, lassen dich in deinem Zaudern nicht hängen. Und im gemeinsamen Abwägen findet ihr allmählich zu mehr Klarheit.

Gemeinsam Verantwortung übernehmen: Das Licht einer Kerze wird nicht weniger, wenn sie andere Kerzen entzündet. So heißt es im Midrasch, einer jüdischen Bibelauslegung. Wer in Leitungskreisen und Kollegien, in Kirchenvorständen und Presbyterien mitarbeitet, weiß aus Erfahrung: Bei solchem weitergegebenen Kerzenlicht geht´s nicht um romantisch schimmernde Flämmchen im sanften Wind, so etwas kann auch eine ganz schön anstrengende und nüchterne Angelegenheit bei Neonlicht und in schlecht gelüfteten Räumen sein.

„Sie gerieten in Verzückung wie Propheten“, heißt es in der Geschichte. Ja, manchmal müssen die Funken fliegen, manchmal muss die Leidenschaft explodieren. Muss! 
Es geht nämlich nicht ohne Verzückung. Man kann sie auch Begeisterung nennen oder Lust oder Hingabe. Dieses brennende Gefühl von Außer-sich-Sein braucht jeder Mensch, der Verantwortung wahrnehmen und andere berühren und mitnehmen will. Wir dürfen es nicht den Populisten überlassen, Menschen in Verzückung zu versetzen. Gewiss, die Begeisterung ersetzt nicht die Sache. Aber die Begeisterung ist durchaus keine Unsachlichkeit, sondern Teil der Sache, für die man sich einsetzt. Auch und erst recht in der Kirche. Wir brauchen so nötig den lebendigen Wärmestrom, der von Gottes Geist ausgeht. Gott gebe, dass er durch uns hindurchströmt – hinein in die Welt um uns herum.

Darum beten wir: Komm, Geist des Lebens! Veni creator spiritus!

Amen.

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