Predigt zum Sonntag Reminiszere 2019

Der Bevollmächtigte des Rates der EKD, Martin Dutzmann

Die Gnade unseres Herrn…

 

Liebe Schwestern und Brüder,

die Evangelische Kirche in Deutschland hat vor einigen Jahren dem zweiten Sonntag der Passionszeit, Reminiscere, ein besonderes Profil gegeben: An diesem Sonntag soll in möglichst vielen Gemeinden für die verfolgten Christen in der ganzen Welt gebetet werden.

Dass wir vor Gott für unsere bedrängten Glaubensgeschwister eintreten, ergibt sich aus dem Zeugnis der Bibel. Zum Beispiel aus der Geschichte vom Goldenen Kalb: Als die Israeliten es anbeten, will Gott sie hart bestrafen. Doch Mose betet leidenschaftlich für seine Glaubensgeschwister, um das Unheil abzuwenden. Der Apostel Paulus betet für die von ihm gegründeten Gemeinden. So beginnt etwa der Brief an die Philipper mit diesen Worten: „Ich danke meinem Gott, sooft ich euer gedenke – was ich allezeit tue in allen meinen Gebeten für euch alle…“ Und immer wieder bittet der vielfach bedrängte Paulus umgekehrt die Adressaten seiner Briefe darum, für ihn und seine Gefährten zu beten, so zum Beispiel am Ende des Römerbriefes: „Ich ermahne euch aber, Brüder und Schwestern, durch unsern Herrn Jesus Christus und durch die Liebe des Geistes, dass ihr mir kämpfen helft und für mich zu Gott betet, dass ich errettet werde vor den Ungehorsamen in Judäa…“ Das Gebet für die bedrängten Glaubensgeschwister gehört also gleichsam zur DNA unseres Glaubens. Heute beten wir besonders für die verfolgten Christen in Nigeria…

Wie können wir uns unseren Glaubensgeschwistern in Nigeria nähern? Wie können wir uns ihnen so nähern, dass unsere Gedanken nicht abstrakt und unsere Gebete keine Worthülsen sind? Zunächst einmal, indem wir wichtige Informationen über sie hören…

Nigeria ist das bevölkerungsreichste Land Afrikas. Und eines der unruhigsten. Und Nigeria ist ein geteiltes Land: Im Norden wohnen überwiegend Muslime, im Süden sind die Christen in der Mehrheit. Dieses Gegenüber der Religionen und das gegenseitige Misstrauen bestimmen die Politik des Landes. Im Norden, wo die Christen in der Minderheit sind, werden sie schon lange benachteiligt: Wenn Land oder Arbeitsplätze zu vergeben sind, haben sie nicht selten das Nachsehen, und auch vor Gericht können Christen nicht unbedingt ein gerechtes Urteil erwarten. So berichten es unsere Partnerkirchen.

Seit ungefähr 2008 hat die Situation sich zugespitzt. Seitdem sind Islamisten im Land unterwegs. Fanatiker, die Christen, aber auch gemäßigte Muslime vertreiben, entführen oder durch Selbstmordattentate in Angst und Schrecken versetzen. Wie sich das ausgewirkt hat, lässt sich an der evangelischen „Kirche der Geschwister“ ablesen, deren Gemeinden vor allem im Nordosten Nigerias, also in der Diaspora, liegen. Etwa 2000 ihrer Kirchen wurden zerstört, mehr als 10.000 Gemeindeglieder, darunter sechs Pastoren, getötet. Tausende mussten ihre Heimatorte verlassen. Schulen und theologische Seminare mussten schließen oder wurden zerstört. Heute hat die „Kirche der Geschwister“ 2,2 Millionen Mitglieder. Davon sind 362.000 Witwen und mindestens 700.000 Waisen, oft Vollwaisen, im Alter von bis zu zehn Jahren. Mit anderen Worten: Etwa die Hälfte der Gemeindeglieder hat durch den Terror mindestens einen nahen Angehörigen verloren!

Erinnern Sie sich noch an den 14. April 2014? An diesem Tag schlug die islamistische Terrormiliz Boko Haram wieder einmal zu, diesmal auf besonders aufsehenerregende und besonders brutale Weise. Boko Haram bedeutet so viel wie: „Westliche Bildung ist Sünde“. Kein Wunder also, dass die Terroristen es auf eine Schule abgesehen hatten. In dem Ort Chibok im Nordosten des Landes entführten sie 276 Schülerinnen, die fast alle der „Kirche der Geschwister“ angehörten. 21 von ihnen wurden nach zwei Jahren, weitere 82 nach drei Jahren frei gelassen. Weit mehr als 100 der Mädchen, die, so sie noch leben, inzwischen zu jungen Frauen herangewachsen sein dürften, gelten nach wie vor als vermisst. Wir können nur ahnen, welch unaussprechliches Leid sie durchleben müssen und welche Traumata ihre freigelassenen Schulkameradinnen und alle betroffenen Angehörigen zu bewältigen haben. Die internationale Öffentlichkeit, die unmittelbar nach der Entführung lautstark protestiert hat, ist schweigsam geworden, und auch die meisten von uns haben diese Menschen wohl aus dem Blick verloren.

Wie können wir uns unseren bedrängten Glaubensgeschwistern in Nigeria wieder annähern? Verstörende Zahlen und Fakten wie die über den 14. April 2014 zu kennen, ist eines. Gefragt aber ist darüber hinaus unser Mitgefühl, unsere Empathie. Ich versuche deshalb, mich in einen Glaubens- und Amtsbruder in Nigeria hineinzuversetzen: Was mag wohl ein Pastor im Norden des Landes in diesen Tagen und Wochen denken und empfinden?

„Ich bin noch nicht lange Pastor dieser Gemeinde der ‚Kirche der Geschwister‘. Dass es nicht einfach werden würde, war mir klar. Bevor ich die Stelle antrat, hatte die Kirchenleitung mich informiert: Unter den Gemeindegliedern sind Familien der Mädchen, die am 14. April 2014 von Terroristen von Boko Haram verschleppt wurden. Fröhlich waren die Mädchen zur Bushaltestelle aufgebrochen, wo der Schulbus sie abholen sollte. Dabei mussten sie gerade viel lernen; die Abschlussprüfungen standen unmittelbar bevor. Ihre Eltern waren davon überzeugt: ‚Bildung ist alles. Nur mit einem Schulabschluss und einer Berufsausbildung wird es unseren Kindern einmal besser gehen als uns.‘ Mein Vorgänger hat sie in seinen Predigten und in vielen Gesprächen darin bestärkt. Eine solide Bildung ist schließlich auch ein Beitrag zum Frieden in unserem unfriedlichen und zerrissenen Land…

Die Katastrophe ist jetzt fünf Jahre her. Zu meinen, dass die Zeit alle Wunden heilt, ist ein Irrtum. Bei meinen Besuchen in den Häusern sehe ich: Keine der Familien ist zur Ruhe gekommen. Wie könnten sie auch? Viele der Angehörigen der Mädchen brauchen Psychotherapien oder Medikamente. Manche – meistens sind es Männer - fliehen vor der Wahrheit in die Arbeit oder – häufiger noch - in den Alkohol. Das verschlimmert die Situation aller. Meistens leben in den Familien noch weitere Kinder, die die Aufmerksamkeit von Vater und Mutter dringend nötig hätten. Aber deren Gedanken kreisen um das vermisste Kind…

Was tröstet diese Menschen? Beschwichtigungen und Erklärungen jedenfalls nicht. Zuhören tröstet. Gemeinsames Schweigen tröstet. Gemeinsam geweinte Tränen. Und manchmal auch die schlichte Erinnerung an biblische Geschichten und Worte. Zum Beispiel daran, wie Jesus, als er blutend und erschöpft am Kreuz hing, den Anfang von Psalm 22 herausgeschrien hat: ‚Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?!‘ Manchmal lese ich auch zusammen mit den verstörten Gemeindegliedern den ganzen 22. Psalm: ‚Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen? Ich schreie, aber meine Hilfe ist ferne. Mein Gott, des Tages rufe ich, doch antwortest du nicht, und des Nachts, doch finde ich keine Ruhe. (…) Ich bin ausgeschüttet wie Wasser, alle meine Gebeine haben sich zertrennt; mein Herz ist in meinem Leibe wie zerschmolzenes Wachs. Meine Kräfte sind vertrocknet wie eine Scherbe, und meine Zunge klebt mir am Gaumen, und du legst mich in des Todes Staub.‘ Danach bedarf es keiner weiteren Worte.

Aber es sind nicht nur die Eltern und Familien der entführten Mädchen, denen Schreckliches widerfahren ist. Die Kirche als Ganze ist betroffen. Neulich hat der Vizepräsident unserer ‚Kirche der Geschwister‘, Pastor Anthony Ndamsei, in einem Bericht geschrieben: ‚Noch immer sind viele Kirchenmitglieder und auch ein Pastor von Boko Haram entführt, und wir wissen nicht, wo sie sind. Viele von uns leben in Flüchtlingslagern überall im Land verstreut. Diejenigen, die in ihre Heimatorte zurückkehren konnten, leben in Notunterkünften und in großer Armut, denn ihr Besitz wurde zerstört…‘ Und dann schreibt Pastor Ndamsei weiter: ‚Wir vertrauen darauf, dass wir dank Gottes Hilfe stärker aus dieser tödlichen Bedrohung hervorgehen als wir hineingegangen sind.‘ Dieses Vertrauen möchte ich mit unseren Gottesdiensten stärken, auch wenn mir das nicht immer leicht fällt…

Neulich habe ich über Psalm 25 gepredigt. Der beginnt so: ‚Nach dir, HERR, verlangt mich. Mein Gott, ich hoffe auf dich; lass mich nicht zuschanden werden, dass meine Feinde nicht frohlocken über mich…‘  Wer die Feinde sind, das musste ich meinen Gemeindegliedern nicht erklären: Boko Haram. Islamisten, die die westliche Bildung und überhaupt den westlichen Lebensstil für Sünde halten und mit Gewalt dagegen vorgehen.

Etwas ausführlicher musste ich werden, als es dann um die Frage ging, wie wir denn unseren Feinden heute begegnen können. In Psalm 25 heißt es: ‚HERR, zeige mir deine Wege und lehre mich deine Steige! Leite mich in deiner Wahrheit und lehre mich!‘ Ich bin mit fast allen in der ‚Kirche der Geschwister‘ davon überzeugt, dass Gottes Weg der Weg des Friedens ist und seine Wahrheit die Wahrheit der Versöhnung. „Selig sind, die Frieden stiften, denn sie werden Gottes Kinder heißen.“ sagt Jesus in der Bergpredigt. Ich habe deshalb in meiner Predigt gesagt, dass Rache und Vergeltung nicht zum Frieden führen, sondern allein der Dialog und der Versuch, sich zu verständigen. Was Boko Haram angeht, mache ich mir nichts vor. Aber es gibt hier im Norden Nigerias viele gemäßigte Muslime und sogar Moscheegemeinden, mit denen man reden kann. Das tun wir und das werden wir auch weiter tun. Und wir bringen schon unseren Kindern bei, wie man Konflikte friedlich löst.

Ich bin dann in meiner Predigt noch kurz auf eine andere Stelle aus Psalm 25 eingegangen: ‚Gedenke, HERR, an deine Barmherzigkeit und deine Güte, die von Ewigkeit her gewesen sind. (…) Gedenke … meiner nach deiner Barmherzigkeit, HERR, um deiner Güte willen!‘   Dass Gott an uns Christen hier im Norden von Nigeria denkt, das glaube ich fest. Gerade jetzt, wo wir in Not sind.  Heißt es nicht in einem anderen Psalm von Gott: ‚Wer ist wie der HERR, unser Gott, im Himmel und auf Erden? Der oben thront in der Höhe, der herniederschaut in die Tiefe…‘  (Psalm 113, 5f.)? Und ist er nicht in Jesus Christus sogar in die Tiefen von Leid und Tod hinabgestiegen?“

So weit, liebe Schwestern und Brüder, Gedanken eines Pastors aus dem Norden Nigerias. Nein, ich kann keine Gedanken lesen und keine Gefühle erraten. Und ich habe auch keinen Brief bekommen, in dem ein Pastor aus Nigeria von seinem Dienst berichtet. Die Geschichte ist also erfunden. Einerseits. Andererseits habe ich auf diese Weise versucht, mir das, was ich über unsere bedrängten Glaubensgeschwister weiß, zu Herzen gehen zu lassen und mich in ihr Leid einzufühlen. Ich denke, das können wir alle. Und wir sollen es auch. Unsere Geschwister im Glauben haben ein Recht auf unsere Empathie. Der Apostel Paulus schreibt in seinem ersten Brief an die Korinther über die christliche Gemeinde: ‚Wenn ein Glied leidet, so leiden alle Glieder mit.“  (1. Kor 12,26).

Mitleiden sollen wir mit den bedrängten Geschwistern – und für sie beten. Der Vizepräsident, der „Kirche der Geschwister“ in Nigeria, Pastor Anthony Ndamsei schreibt: „Wir bitten um das Gebet unserer Geschwister in aller Welt – besonders für diejenigen von uns, die in diesen Tagen in ihre Heimat zurückkehren und inmitten von Zerstörung die Kraft für einen neuen Anfang finden müssen…“ Dieser Bitte haben wir vorhin entsprochen, und werden ihr weiter entsprechen – und dabei auch all jene vor Gott bringen, die in anderen Ländern der Welt um ihres Glaubens willen bedroht, verfolgt, entführt und gefoltert werden.

 

Und der Friede Gottes…